Unerledigte Flaschenpost: Meine Lebensgeschichte(n)
Von Bodo Bernd Nibbe
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Über dieses E-Book
Mit viel Witz, Charme und Zeitbezug erzählt Bodo Bernd Nibbe seine Lebengeschichte(n). Er ist ein Mensch, der andere zu bezaubern weiß, der aber nicht immer den bequemen Weg wählt. Das kommt auch im Titel zum Ausdruck: Die "unerledigte Flaschenpost" steht für alles, was er noch klären wollte - zum Beispiel das Verhältnis zu seinem Vater, der ein überzeugter Nazi war und blieb.
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Buchvorschau
Unerledigte Flaschenpost - Bodo Bernd Nibbe
Vorwort
Drei Bücher mit leeren Seiten sind mir von Menschen, die mir nahestehen, in den letzten zehn Jahren geschenkt worden. Ich möge doch mein „bewegtes Leben" niederschreiben. Jetzt, da sich meine berufliche Tätigkeit dem Ende zuneigt, will ich es versuchen – auch um dem Gefühl entgegenzuwirken, zu nichts mehr nutze zu sein.
Motivierend war auch Curt Goetz, der große Komödienautor. Er war schon krebskrank, als er seine Memoiren begann. In seinem Vorwort lässt er den Tod winken und er fragt den Tod: „Schon? Als der Tod nickt, fragt er den Tod: „War das alles?
Und der Tod antwortet: „Das war alles, was du daraus gemacht hast." Aber wie frei ist der Mensch, aus seinem Leben etwas zu machen? Wie viel macht das Leben mit ihm und aus ihm? Ich will am Ende dieses Buches eine Antwort versuchen.
Eines ist gewiss: Es hat glückliche Einflüsse gegeben, die ich vor allem meiner Frau und meinen Kindern verdanke. Ihnen sei deshalb dieses Buch gewidmet.
Und nun viel Freude beim Lesen!
Bodo Bernd Nibbe
Kinderjahre – Kriegsjahre
Es war ein heißer Tag im Juli 1940 in Maria Trost, einem hübschen kleinen Vorort von Graz in hügeliger Landschaft mit gleichnamiger Wallfahrtskirche. Mein Bruder Dieter und ich (er war noch nicht sechs, ich gerade vier Jahre alt) gingen auf einem steilen, staubigen Fahrweg bergauf. Plötzlich blieb mein Bruder stehen und sagte, ich solle ihn den Berg hinaufschieben. Wenn ich das nicht täte, würde er rückwärts bis an das Ende der Welt gehen.
Als ich nicht folgte, begann er, langsam rückwärtszugehen. Ich bekam es mit der Angst zu tun, mit der Angst um ihn. Wer weiß schon, wo das Ende der Welt ist. Und überhaupt! Voller Wut und heulend schob ich ihn dann doch den Berg hinauf. Voller Wut, weil ich es nicht fertigbrachte, seine Gemeinheit zu ignorieren. Auf dem sandigen Weg bin ich sogar hingefallen, aber ich musste weiterschieben. Diese kleine Geschichte ist meine erste Erinnerung an meine Kindheit. Ich wusste damals nicht, dass sich damit zum ersten Mal ein Verhalten bei mir zeigte, das mich noch oft belasten würde.
Mein ältester Bruder Jürgen war 1928, mein zweitältester Bruder Dieter 1934 und ich 1936 zur Welt gekommen, alle in einem Vorort von Stettin in Pommern. Im Herbst 1938, daran kann ich mich natürlich nicht selbst erinnern, übernahm mein Vater Walter Nibbe die SA-Gruppe Südmark, bestehend aus der Steiermark, Kärnten und Teilen von Slowenien (damals „Untersteiermark" genannt). Das Hauptquartier war Graz. Meine jüngeren drei Brüder Wulf (geboren 1941) und die Zwillinge Hasso und Rüdiger (geboren 1944) kamen also als echte Grazer zur Welt.
Wir wohnten in einer schönen Villa mit großem Garten, uns umgaben Dienstmädchen, Kindermädchen und Pflichtjahrmädchen. (Das Pflichtjahr war für Frauen und Mädchen unter 25 Jahren das Pendant zum Reichsarbeitsdienst. Es sollte sie auf ihre zukünftige Rolle als Hausfrau und Mutter vorbereiten.) Wir hatten vier Hühner im Garten, für die auch ein kleines Maisfeld angelegt worden war. Vom örtlichen Gärtner wurde es so gedüngt, dass die Maiskörner sehr groß wurden. Für den Winter wurden die Kolben auf dem Dachboden der Villa getrocknet. Meine Aufgabe war es, „kriegswirtschaftlich" die harten Maiskörner mit einer Beißzange zu halbieren, damit die Hühner sie auch schlucken konnten.
In dem lieblichen Tal gab es einen Teich, etwa 400 bis 500 Meter entfernt. Von dort erscholl immer im Frühjahr zur Zeit der Dämmerung ein Konzert: Quack, quack – wawa, wawa … Und es gab kleine Bäche. Hinter den ausgeschwemmten Uferrändern lebten Krebse, die wir mit Stöckchen hervorkitzelten, um sie dann zu fangen. Mir haben sie nicht geschmeckt, aber unsere Mutter liebte sie. Durch das Tal fuhr auch eine Straßenbahn und natürlich wollte ich einmal Straßenbahnfahrer werden. Immerhin habe ich es später zum Omnibusschaffner gebracht.
Es war Krieg, aber davon haben wir Kinder nur deshalb etwas bemerkt, weil ranghohe Offiziere öfter bei uns zu Besuch waren, etwa General Eduard Dietl, Chef der Ersten Gebirgsdivision, die Narvik erobert hatte. Ab und zu gab es ab 1944 auch Luftangriffe auf Graz. Wir konnten sehen, wie die Bomberverbände von der Flak beschossen wurden. Es waren im Pulk immer schwarze, kleine Wölkchen zu sehen. Das waren explodierende Flakgranaten. Mein Bruder Jürgen hatte mir erklärt, dass ein Flugzeug absturzreif getroffen war, wenn so eine Flakgranate näher als in 30 Meter Entfernung explodierte. Damals war er ja schon Flakhelfer. Allerdings pfiffen uns die Granatsplitter oft um die Ohren, wenn wir draußen das Geschehen beobachteten. Manchmal fanden wir solche Splitter und hoben sie auf. „Schön ist, wenn im Grase liegt, schlecht ist, wenn in Fresse fliegt" – KKR, Kriegskinderreime.
Ich wurde hochrangigen Gästen erst vorgeführt, als ich schon zur Schule ging, denn ich konnte gut rechnen. Als Baby hatte man mich versteckt, weil ich aussah wie der Alte Fritz – mit viel zu großer Nase. Außerdem war ich zu früh nach Dieter gekommen und überhaupt hätten meine Eltern lieber eine Tochter gehabt. Nach den Windeljahren blieb ich ein Bettnässer, wohl auch als Appell um Zuwendung. In den Jahren in Graz bis zur Flucht vor den anrückenden Russen war das nicht weiter schlimm mit Gummituch unter dem Laken und Personal, das die Schäden behob. Obwohl: Ein „deutscher Junge" ist kein Bettnässer. Doch in den Flüchtlingsunterkünften, wo wir unterkamen und auf Strohsäcken schliefen, wurde es eine Katastrophe. Alles stank immer nach Urin und meine Brüder beschimpften mich. Ein normales Selbstwertgefühl konnte sich unter diesen Umständen nicht entwickeln und viele Jahre meinte ich, nur so viel wert zu sein, wie ich für andere von Wert war.
Unser Vater war ab Mitte 1943 selbst als Offizier an der Ostfront. Jürgen wurde mit knapp 16 Jahren Soldat bei der Luftwaffe. Dieter war Kadett in einer Nationalpolitischen Erziehungsanstalt (NAPOLA, Eliteschulen der Nazis zur Heranbildung von Führungsnachwuchs). Zehn Wochen vor Kriegsende hat unser Vater durch einen Kurier eine Pistole an Dieter geschickt mit der Anweisung, uns alle zu erschießen, wenn „der Russe" kommt. Dieter hatte wohl die Waffe bei sich, als er im Spätherbst 1944 nach Graz zurückkam. Er hat zeitlebens unter diesem Erlebnis gelitten. Wenn wir darauf zu sprechen kamen (nicht oft), hat er das Zimmer verlassen. Er wollte nicht, dass wir merkten, wie er weinte.
Dabei war er ein lustiger Bursche und vor allem ein glänzender Verkäufer, aus ihm wurde über die Zeit glatt ein Verkaufsleiter. Während der Arbeitszeit traf Dieter einmal seinen Chef, als er gerade aus dem Friseurladen kam. „Na, Herr Nibbe, beim Haareschneiden gewesen? „Ja
, antwortete Dieter. „Während der Dienstzeit? „Während der Dienstzeit sind mir die Haare auch gewachsen.
„Aber doch nicht alle! „Alle habe ich mir auch nicht schneiden lassen.
Flucht aus Graz
Die Flucht vor den von Ungarn heranrückenden Russen in einem Flakzug hat meine Mutter mit fünf ihrer Söhne und Oma Engel (die Mutter meiner Mutter, damals ungefähr 60 Jahre alt), die schon sechs Monate zuvor aus Pommern zu uns gekommen war, am 1. April 1945 angetreten. Hinten und vorne am Zug waren Vierlingsflakgeschütze auf Spezialwaggons platziert, um Tieffliegerangriffe abzuwehren. In den teilweise engen Gebirgstälern Österreichs konnten wir uns relativ sicher fühlen. Kurz vor den Amerikanern erreichten wir München, das damals zu 80 Prozent zerbombt war. An diesem Tag endete der Krieg (8. Mai 1945) und der Zug blieb einfach stehen am damaligen Südbahnhof.
Am Sendlingertorplatz stand noch die Blumenschule. Pro Klassenzimmer wurden bis zu fünf Familien mit etwa 30 Personen einquartiert. Kreuz und quer waren Seile gezogen. Darüber hingen Decken, damit jede Familie ihren Platz hatte. Für uns Kinder war das alles am Anfang ein großes Abenteuer. Vor allem lernten wir zu „organisieren. Wir stöberten in den Kellern der Ruinen, um etwas Verwertbares zu finden. So fand ich einen Karton Seife, die sehr begehrt war. Schnell bildete sich ein „Schwarzer Markt
, wo alles verkauft oder getauscht werden konnte.
Die Besatzungssoldaten (meist Afroamerikaner von den Kampftruppen) waren zu uns Kindern sehr freundlich. Ab und zu ergatterten wir Schokolade oder auch Kaugummis. Dabei war uns doch gesagt worden, dass wir alle umgebracht werden.
Immer wieder sahen wir Kolonnen von deutschen Kriegsgefangenen, die irgendwohin geführt wurden, abgerissen, dreckig, unrasiert und unterernährt. Die Amerikaner dagegen waren elegant, meist gut gelaunt, wohlgenährt und freigiebig. Auch die Münchner Bevölkerung war im Grunde froh, weil endlich der Krieg vorbei war. Allerdings wurde ihre Haltung gegenüber den Flüchtlingen bald feindselig, sie sahen sie als Schmarotzer an, die nicht „hierher" gehörten.
Ich sollte das schmerzlich erleben, als im Herbst 1945 die Schulen den Unterrichtsbetrieb wieder aufnahmen, soweit das möglich war. Wir waren inzwischen in ein Barackenlager im Norden Münchens (Knorrstraße 148) umquartiert worden. Wie wir später erfuhren, war dies ursprünglich ein Sammellager zur Deportation von Juden gewesen. Als es keine Juden mehr gegeben hatte, war es in ein Fremdarbeiterlager umgewandelt worden. Nun waren wir in diesen Holzbaracken untergebracht, in den großen Räumen, vollgestellt mit doppelstöckigen Stahlbetten. Anstelle von Matratzen gab es Strohsäcke, Wasser außerhalb in einem Brunnen, der im Winter häufig zugefroren war. Für die 750 Bewohner gab es eine Latrine mit je zehn Sitzlöchern für Männlein und Weiblein. In der Lagerküche wurde Gemeinschaftsverpflegung für alle gekocht, meistens irgendwelche Eintöpfe.
Unsere Mutter, damals 38 Jahre alt, war zum Kartoffelschälen abkommandiert. Ich habe sie immer dafür bewundert, wie sie den Wechsel ihres Schicksals getragen hat und ständig bemüht war, für die Familie irgendetwas zum Essen aufzutreiben. Dazu kamen die Krankheiten meiner Zwillingsbrüder, damals noch nicht zwei Jahre alt: Keuchhusten, Diphterie, Ruhr. Es gab noch keine Antibiotika, es gab keine ärztliche Versorgung. Meine Brüder wurden in ihrer Entwicklung schwer beeinträchtigt, aber sie haben beide überlebt.
In der Schule zu Hause
Die Wut und den Ärger über uns Flüchtlinge bekam ich am eigenen Leib zu spüren: In der Volksschule an der Rothpletzstraße war jeden zweiten Tag Unterricht und fast jedes Mal wurde ich von den einheimischen Schülern verprügelt. Nach dem dritten Mal fand ich eine Lösung: Ich ging einfach nicht mehr hin. Inzwischen war mein Bruder Dieter Schüler in der Gisela-Oberrealschule und nach ein paar Wochen begleitete ich ihn einfach einmal. Damals war man bemüht, die Kinder von der Straße wegzubringen, und so ließ man mich dort ohne Formalitäten in der ersten Klasse (heute fünfte Klasse) am Unterricht teilnehmen. Nach ein paar Wochen war klar: Ich hatte den Probeunterricht bestanden und wurde Oberschüler. Mein Bruder Dieter verließ später die Schule und begann eine Lehre als Automechaniker. Anders mein jüngerer Bruder Wulf. Er wurde 1952 auch „Giselaner" und hat sein Abitur gemacht.
Die Schule sollte meine Oase im alltäglichen Chaos werden. Ich war zwar der Zweitjüngste in der Klasse und trug abgerissene Kleidung, aber ich wurde von meinen Mitschülern nicht gehauen. Eventuell sogar Freundschaften zu schließen erwies sich jedoch als schwierig, weil das Flüchtlingslager doch viele Kilometer von der Schule (Elisabethplatz) entfernt und nur schwer zu erreichen war (mindesten 45 Minuten mit Bus und Straßenbahn). Ein Fahrrad habe ich erst später organisiert, das Fahrradfahren war allerdings im Winter nicht immer möglich. Trotzdem wurde die Schule mein Zuhause. Ich war ein ganz passabler Schüler, wenn auch zum Beispiel meine Heftführung kreativ war: vorne Physik, hinten Mathe.
So entwickelte sich bei mir eine enge Bindung an die Schule und wahrscheinlich war das (damals unbewusst) auch der Grund, warum ich seit etwa 25 Jahren Klassentreffen organisiere (einmal im Sommer, einmal im Spätherbst). Es nehmen nur noch sechs bis acht Männer teil, aber die kommen regelmäßig. Sieben Klassenkameraden sind schon verstorben, drei leben im Ausland, drei sind dement. Es ergibt sich immer ein