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Dieterchens Weg: Persönliche Episoden aus erlebter Zeitgeschichte
Dieterchens Weg: Persönliche Episoden aus erlebter Zeitgeschichte
Dieterchens Weg: Persönliche Episoden aus erlebter Zeitgeschichte
eBook245 Seiten3 Stunden

Dieterchens Weg: Persönliche Episoden aus erlebter Zeitgeschichte

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Über dieses E-Book

Ein Flüchtlingsjunge wird Generalbevollmächtiger
der bedeutends­ten deutschen Tageszeitung,
der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

Dietrich Ratzke hat ein bewegtes Leben und eine ungewöhnliche
be­rufliche Karriere hinter sich.

Als kleiner Junge abenteuerliche Flucht aus Danzig nach Berlin, dort wegen der Bom­benangriffe nach Mecklenburg , von dort nach Ostberlin und Flucht in den Westen. Kaufmännische Lehre, Abitur im Zweiten Bildungsweg, Studium der Rechtswissenschaft,
Redakteur, dann Chef vom Dienst der F.A.Z., dann Generalbevollmächtigter der F.A.Z. GmbH. und
Professor an der Journalistischen Fakultät der
Staatlichen Lomonossow- Uni­versität, Moskau.

In diesem Band erzählt er Episoden aus diesem aufregenden Leben, die zugleich historische Spiegelbilder einer unruhigen Epoche zwischen Krieg und Frieden sind.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum2. Dez. 2021
ISBN9783754927953
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    Buchvorschau

    Dieterchens Weg - Dietrich Ratzke

    Dietrich Ratzke; Dieterchens Weg; 21 persönliche Episoden aus erlebter Zeitgeschichte

    Impressum Texte: © 2022 Copyright by Dietrich Ratzke, Umschlag:© 2022 Copyright by Dietrich Ratzke

    Lektorat: Gerrit Mai, Biografin und Freie Journalistin; Verantwortlich für den Inhalt: Dietrich Ratzke

    Moselstraße 8, D-61273 Wehrheim/Taunus, prof.ratzke@freenet.de; Druck: epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

    Dieses Buch ist gewidmet: Meiner Mutter und Gisela,

    meiner liebenswerten Familie

    und allen, die Dieterchens (Lebens–)Weg freundschaftlich 

    und nachsichtig  begleitet haben

    Warum das?

    Am 30.März 1939 wurde das Dieterchen in Danzig geboren. Der Weg, dem sein Leben folgte, war kurvenreich. Ich, das Dieterchen aus Kindertagen, habe lange gezögert, einige Erlebnisse meines an Episoden und überraschenden Ereignissen sehr reichen Daseins aufzuschreiben. All das, woran man sich erinnert, erscheint manchmal sogar in den eigenen Augen unglaubwürdig, übertrieben, eigentlich unvorstellbar. Die nachwachsenden Generationen, die vielleicht irgendwann, mehr oder minder zufällig, ein derartiges Buch in den Händen halten, hier und dort mal ein paar Zeilen lesen werden, und das war meine Befürchtung, werden sagen: „Was der Alte sich da ausgedacht hat. Der hatte offenbar eine sehr lebhafte Phantasie".

    Aber dann dachte ich an die vielen jungen Menschen, die ich als Universitätslehrer begleiten durfte, und an ihre unbändige Neugier, etwas über die Gezeiten eines Krieges, über die nahezu unvorstellbaren menschlichen Schicksale, den Kampf gegen ein feindlich gewordenes Leben, die Verzweiflung und die Überwindung dieses Grauens zu lesen und nicht aufzugeben, wenn das Schicksal oder die eigene Unvollkommenheit einmal nicht so recht das tut, was man sich eigentlich wünschte. Um daraus vielleicht sogar einige Lehren für das eigene Leben und für einen Kampf gegen Krieg und Elend zu ziehen und auch in schweren Zeiten nicht den Mut zu verlieren.

    Es gab aber auch einen ganz persönlichen Grund, dieses Lebenspuzzle einmal niederzuschreiben, denn es ist so eine Art Selbsttest: Was bleibt nach einem langen, über acht Jahrzehnte währenden, Leben eigentlich noch in der Erinnerung und warum ausgerechnet das und anderes, vielleicht Wichtigeres, nicht? Was hat man falsch gemacht? Was ist besonders gut gelungen? Wen hat man ungerecht behandelt? Mit wem kam man warum besonders gut aus? Und vor allem: was würde man durch die gewonnene Lebenserfahrung eigentlich anders machen, wenn man es noch einmal könnte?

    Eine derartige Erzählung ist immer verwoben mit den persönlichen Erinnerungen, mit den Erzählungen anderer und mit nächtlichen Träumen, die die Erinnerung häufig bis zur Unkenntlichkeit verfälschen, ohne daß man es merkt. Wie also dabei eine möglichst authentische Darstellung finden?

    Da hilft eine alte Erfahrung als Journalist: So viele Quellen wie möglich befragen, diese wiederum anhand anderer Aufzeichnungen und Aussagen abgleichen und hierauf die eigenen Erinnerungen projizieren. Da kann immer noch sehr viel schiefgehen, aber der Kern des Geschehens dürfte im Wesentlichen erkennbar werden.

    Ich hatte es in dieser Beziehung  relativ einfach. Meine Mutter Charlotte hatte zusammen mit meiner Frau Gisela zwei Bände mit ihrer Lebensgeschichte aufgeschrieben. Minutiös, präzise, trotz aller Emotionen nüchtern und klar. Daran konnte ich mich auch in der zeitlichen Abfolge, die ja in der Erinnerung häufig etwas verrutscht, orientieren. Zusätzlich hatte ich meine  Schwester Brigitte, drei Jahre älter als ich, an meiner Seite. Sie  hatte natürlich viel genauere und sehr lebhafte Erinnerungen an diese Zeiten. Sie korrigierte, ergänzte und glättete die schlimmsten Erinnerungslücken und die manchmal doch überschäumende Phantasie des Autors. Gisela machte sich zudem die große Mühe, den Text zu redigieren und viele Fehler zu korrigieren. Und dann bekam dieses Buch den Endschliff durch Gerrit Mai, Journalistenkollegin und Biografin.  Ihnen gilt mein großer Dank! Zur Authentifizierung füge ich zudem  Kurzzitate aus der Wikipedia und anderen Quellen hinzu, die Orte,  Gestalten und Ereignisse aus einem nüchternen, da lexikalischen, Blickwinkel ergänzen. Wenn bei den Zitaten, die kursiv gedruckt sind,  keine Quelle angegeben ist, handelt es sich um Wikipedia. Interessant fand ich auch eine Liste einiger meiner Publikationen aus meiner F.A.Z.-Zeit, ich habe sie ungeordnet angehängt.

    Das Titelbild zeigt das Dieterchen mit neun Jahren, schon fast ein Dieter. Es ist ein Mosaikbild, das aus mehreren tausend Einzelbildern besteht, die in der Gesamtheit alle wichtigen Lebensstationen und Menschen zeigt, die ihn begleitet haben. Mit einer guten Lupe kann man sie erkennen. Um das Bild tech-nisch zu komponieren, sind dort einige der Bilder mehrfach benutzt.

    Erste Episode: Danzig und die Flucht in eiskalter Nacht

    Hier wohnte das Dieterchen

    Unser Geburtshaus in Danzig ist die Gralathstraße 9, das im Krieg durch Bombenangriffe zur Hälfte zerstört wurde und auf dem heute ein großes Krankenhaus steht .

    Es war das Eckhaus Gralathstraße/Eichenallee und hatte  einen großen Garten. Von der großen Allee kommend, die hinaus zur Ostsee führte, (wo in Glettkau unser Sommerhaus am Strand stand)  ging man an der „Halben Allee  links die Dellbrück Allee hinauf und bog die erste Straße links in die Gralathstraße ab. Das Haus  lag in der Nähe des „Wäldchens . Und viele unserer Spaziergänge führten diese Anhöhe hinauf in den kleinen Wald. Dort Ostereier zu suchen war jährliche „Pflicht und natürlich große Freude, wenn auch nicht immer leicht fürs Dieterchen. Der hieß eigentlich Dietrich Hermann, kurz: Dieter, aber das ließ das Danziger Idiom nicht zu, denn dort gehörte an möglichst jedes Wort ein „-chen daran. Und so war er eben das „Dieterchen".

    Von dort oben aus dem Wäldchen konnte man auch besonders gut auf das riesige Anwesen des Danziger NSDAP-Gauleiters Albert Forster sehen. Es war mit einer hohen Steinmauer umgeben Und es wurde immer wieder kolportiert, daß sich dessen Chauffeur dort häufig sonnte. Tief beeindruckte uns als Kinder immer wieder die Behauptung eines Nachbarn, dem unbeliebten Chauffeur  mit einem Luftgewehr dabei in den Hintern geschossen zu haben. Da war aber wohl mehr der Wunsch Vater des Gedankens...

    „Am 29. April 1948 wurde Albert Forster vom Obersten Polnischen Nationalen Gerichtshof zum Tod durch den Strang verurteilt. Am 28. Februar 1952 wurde Forster von Danzig nach Warschau gebracht und dort am selben Tag im Hof des Zentralgefängnisses gehenkt."

    Über den Gartenzaun von Haus Nummer 7, das im Gegensatz zu unserem, von keiner Bombe getroffen wurde, ragte ein Kirschbaum. Dessen Früchte zu pflücken, war uns leider verboten aber nie ganz zu verhindern. Die  Bewohnerin, die Witwe Freyer, war streng und noch strenger ihre dort ebenfalls wohnende Tochter, eine Lehrerin von Brigitte.  Die hatte ihr  eines Tages, als Brigitte den Arm zum Hitlergruß nicht hoch genug streckte, auf der Straße eine Ohrfeige verpasst.

    Im Haus Nr. 5 wohnte Dr. Arnold mit Familie. Er war Arzt und hatte dem Gauleiter Forster, die Stimmbänder operiert, weil der immer so geschrien hat, wie Mutti  sagte. Frau Arnold war eine sehr gütige, freundliche Mutter von fünf Kindern, die Brigitte immer „so schön fand. Dittchen, das zweitjüngste Kind, war in Brigittes  Klasse und ihre beste Freundin. Die Freundschaft überdauerte den Krieg.  Brigitte erinnert sich: „Arnolds hatten einen Steingarten vor dem Haus. Der wurde von kriegsgefangenen Russengepflegt. Ich habe mich damals gewundert, daß auf ihren Rücken „CCCP gedruckt stand. Die Russenwaren sehr kinderfreundlich, aber es war streng verboten, mit ihnen zu sprechen. Ging auch nicht wegen der Sprache. Da haben sie Holzspielzeug für mich gemacht, so pickende Hühnchen und dergleichen. Ich habe so was später in Russland wieder gesehen. Tante Viktoria, unser Kindermädchen,  hat mir manchmal ein Stück Brot zugesteckt, das habe ich ihnen gegeben. Niemand durfte das wissen."

    Das „CCCP auf den Rücken der Russenkonnten wir uns erst einige Jahre später erklären, als wir in der Schule als erste Fremdsprache Russisch lernen mussten. Es sind  kyrillische Buchstaben, in lateinischen Buchstaben sind es: „SSSR, «Союз Советских Социалистических Республик, Sojus Sowetskich Sozialistitscheskich Respublik‚ übersetzt „Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken"

    Die Parallelstraße zur Gralathstraße war die Lindenstraße. Dort gab es einen niedlichen Krämerladen, der alles hatte, was ein Kinderherz begehrte:  vor allem aber Brausepulver für 10 Pfennige das Tütchen. Ein stolzer Preis für die Zeit, aber sehr süchtig machend. „Onkel Moser„ war der Inhaber. Er war ein sehr freundlicher, dicker Mann, der irgendwann nicht mehr da und der Laden plötzlich Verschlossen war. Niemand sprach darüber aber dann wurde doch gemunkelt: Vielleicht war er Jude?

    Zitat Digitales Familiennamenwörterbuch Deutschland (DFD):

    „Als jüdischer Name wurde Moser (häufig) wegen seiner lautlichen Ähnlichkeit statt Moses angenommen."

    Im Erdgeschoss des Hauses Gralathstraße 9 wohnte Reinhard Groß, zusammen mit seinem Vater, bevor der vor Kriegsende starb. „Onkel Reini" war unser bester Freund. Er spielte mit uns, schenkte uns dies oder das und war immer fröhlich. Lange Jahre nach dem Krieg tauchte er wieder auf, es hatte ihn nach Süddeutschland verschlagen. Im zweiten Stock wohnte Tante Schulz, Reinis Verwandte, die Buchhalterin war. Sie kam bei dem Bombenangriff  1945 ums Leben.

    Zwischen beiden Etagen, im ersten Stock, war  unsere  Wohnung. Gehen wir mal hinein.

    Die Wohnungstür öffnete von außen kommend nach rechts und führte in einen langen Flur. Rechter Hand das Badezimmer, dann das Kinderzimmer, dann die Küche. Geradeaus ein großes, helles Wohnzimmer mit verglastem Wintergarten zum Garten, die gemütliche Sitzecke hinten links zur Gralathstraße hin. Über der Sitzecke ein Bild aus Sylt, dort wo sich die Eltern kennengelernt hatten. Neben der Sitzecke eine Schiebetür, die einen für Dieterchen höchst geheimnisvollen Raum öffnete: das Büro von Vati, dem Rechtsanwalt Dr. Bruno Ratzke, dem Sozius von Erich Willers, einem in Danzig überall bekannten und nicht von allen geschätzten  Anwalt. Ein großer Schreibtisch, auf dem ein schwarzes Telefon (Telefonnummer Danzig 26080) stand. Eine weitere Tür führte aus dem Büro zurück in den Korridor. Beide Türen waren stets geschlossen, denn für uns Kinder war es das größte Vergnügen  im Kreis herum vom Korridor ins Büro, von dort ins Wohnzimmer und wieder in den Korridor, zu rennen und das, so oft man es konnte und mit großem Geschrei  bis zur Erschöpfung.

    Das Bild im Wohnzimmer über der Couch hat sich  aus einem besonderen Grund  eingeprägt: Mutti erzählte viele Jahre später, daß dieses für ihre Beziehung so wichtige Abbild einer Dünenlandschaft auf Sylt  zur Todesstunde von Vati von der Wand gefallen sei. Das war für uns eine faszinierende Geschichte, die auch Jahre später immer noch lebhafte Diskussionen auslöste.

    Die schreckliche Nachricht

    Ein Tag wie jeder andere.  Wir spielten an einem schönen Septembertag des insgesamt sehr sonnigen und heißen Sommers des Jahres 1944 auf der kaum befahrenen Gralathstraße vor dem Haus Freyer, Hausnummer 7. Das war das Grundstück mit dem Kirschbaum. Tante Hertha, die Schwester von Vati, kam oben von der Eichenallee rechts in die Gralathstraße und ging direkt auf unser Haus zu ohne uns zu beachten. Das war für die uns sonst sehr zugewandte Tante Hertha sehr ungewöhnlich. Wir ahnten, daß wohl etwas Schlimmes  passiert war. Und mochten nicht mehr spielen. Nach einiger Zeit rief uns Tante Viktoria, unser Kindermädchen, ins Haus zu Mutti. Sie weinte. Und dann sagte sie uns, daß Vati nicht mehr wiederkommen werde. Wir hatten ihn immer nur sehr kurz gesehen, weil er nur kurze Urlaube von der Front hatte, deshalb war für Dieter die Nachricht nicht so schrecklich: er kannte ihn ja kaum und konnte mit seinen fünf Jahren und dem tiefen Schmerz der Mutter noch nicht umgehen. Später berichtete Heinz Hoffmann, unser Onkel, der mit der Schwester von Vati verheiratet war, daß Vati in der Ukraine bei einer Patrouillenfahrt von einem  sowjetischen Tiefflieger erschossen worden war. Das war im August 1944 und die Sonnenblumen auf den riesigen  Sonnenblumenfeldern rund um das ehemalige deutsche Aussiedlerdorf Sofiental (heute: Sorvika) im damaligen  Bessarabien ließen schon ihre Köpfe hängen. Er wurde noch in die örtliche Sanitätsstation gebracht, war aber nicht mehr zu retten. Jahrzehnte  später konnten wir sein mutmaßliches Grab wiederfinden, etwas Heimaterde mitbringen und eine Rose aufs Grab pflanzen. Es war wieder August. Und die Sonnenblumen auf den unendlichen Feldern der Ukraine ließen wieder die Köpfe hängen.

    Flucht in eisiger Nacht

    Es ist eine dieser kalten Tage, die es nur im Norden gibt. Trocken, glasklar . Etwa 15 bis 20 Grad minus sagen die Kriegs-und Fluchtberichte dieses Tages über Danzig. Es ist der 25.Januar 1945. Es ist dunkel. Im  Haus in der Gralathstraße 9 in Danzig geht in der ersten Etage rundum das Licht an. Das polnisch-deutsche Kindermädchen Viktoria geht in das Kinderzimmer, wo Dieter schläft. Viktoria streichelt Dieter: „Dieterchen, wach auf, es ist Alarmchen! Dieter kennt das: fast jeden Abend, fast jede Nacht kommt Tante Viktoria ans Bett und sagt: Dieterchen, aufwachen es ist Alarmchen". Die typisch Danziger Verkleinerungsform macht`s ihm nicht leichter: Schlaftrunken steht Dieterchen auf und will sich, wie immer, die stets bereit gelegten Luftschutzsachen anziehen.  So müde er ist, aber er findet es doch  immer  wieder spannend in den Keller zu gehen, dorthin, wo es immer ein wenig muffig riecht, aber wo alle Hausbewohner versammelt sind, vor allem der liebe Reini aus dem Erdgeschoss, wo es, wenn auch in etwas dicker Luft,  wohlig warm ist  und eine schwache 15 Watt-Glühbirne ein anheimelndes  Licht verdämmert, kurzum: wo man schnell weiterschlafen kann.

    Aber dieses Mal ist es kein Alarmchen. Dieses Mal zieht Tante Viktoria Dieterchen  ganz anders an: lange Strümpfe (diese scheußlichen, kratzenden Dinger, die mit Klammern am „Leibchen befestigt werden), dickes Unterhemd, dickes Hemd, den Lieblingspullover mit irgendeinem Tier (Elefant?) drauf. Und Tante Viktoria sagt: Dieterchen,  wir fahren heute  weg! Dieterchen ist sofort begeistert und  hellwach: „Wohin denn?  „Das wird Dir Mutti nachher erzählen. Aber erst kommt der kleine Rucksack auf Dieterchens Rücken an dessen Halterung rechts unten ein silberner Becher,  hängt. „Fräulein Viktoria, wie sie offiziell genannt wurde, hatte eine gute Idee und rollte Daunendecken ganz eng zusammen, die kamen bei den Kindern mit in den Rucksack, bei Schwester Brigitte in ihren Schulranzen. Dieterchen  möchte noch seinen Fußball mitnehmen, und Brigitte ihre Käthe-Kruse-Puppe „Anja", aber das passte nicht mehr hinein. Dieterchen freut sich dennoch auf die Reise.

    Inzwischen hat Mutti auch die Kleinste in der Familie angezogen: Bärbel, sie ist fast drei Jahre alt. Dann geht es mit allen die Treppe aus dem ersten Stock herunter zur Haustür. Tante Viktoria bleibt zurück und winkt: Wir sehen uns ja bald wieder. Einige Wochen später wird sie bei einem Luftangriff unter den Trümmern des Hauses begraben. Und dann geht die Haustür auf. Der Kälteschock lässt alle Vorfreude auf ein Abenteuer bei Dieterchen erlöschen: aus dem warmen Haus hinaus geht die kleine, zerbrechliche Gruppe  hinaus in den eisigen Abend. Mutti in ihren Erinnerungen: Brigitte mit Dieter Hand in Hand vorneweg, ich mit Bärbel auf dem Arm und Koffer in der anderen Hand hinterher. An der  Ecke Gralathstraße-Eichenstraße drehte ich mich noch einmal um und blickte zurück. Frau Viktoria stand am dunklen Fenster und winkte, die Tannen im Vorgarten waren dick verschneit, alles sah so friedlich aus - ich hielt krampfhaft an meiner Hoffnung wiederzukommen fest.

    „Januar1945. Der letzte Akt des Krieges beginnt. Nahezu zweihundertfünfzig sowjetische Divisionen sind zum Sturm auf das Deutsche Reich angetreten. Es kann nur noch Tage dauern, bis sie die deutsche Grenze überrennen. Doch schon seit den ersten Januartagen gibt es kein Halten mehr. Keine Partei, kein Funktionär, kein Landrat und kein Bürgermeister kann die Menschen an der Flucht hindern, als .. die Front immer näher rückt. Spätestens am 22. Januar 1945, ist der Zugverkehr von Ostpreußen/Danzig nach dem Reich auf allen Strecken gesperrt."

    Wohin nun? Tante Viktoria war die Rettung. Sie hatte polnische Verwandte in

    der Nähe von Danzig, die wir früher auch einmal besucht hatten. Der

    Schwager war Lokomotivführer. Er hatte die Kinder einmal mit auf seine Lok

    genommen und Dieterchen durfte Kohle in den heißen Schlund der Lokomotive werfen. Er durfte auch die Dampfpfeife ziehen. Das war aber zu schwer für ihn und er war sehr enttäuscht. Der Lokomotivführer wusste, dass es, obwohl alle Bahnstrecken in Richtung Westen bereits gesperrt waren, es aber dennoch noch einzelne Züge gab, die dennoch fuhren. Mutti hatte ihm gesagt, dass sie versucht hatte, für uns auf dem Flüchtlings-

    schiff „Wilhelm Gustloff mitgenommen zu werden, aber das Schiff, das letzte, das Danzig verließ, war völlig ausgebucht. Die „Wilhelm Gustloff, auf der wir so gerne mitgefahren wären, wurde versenkt.

    „Bei ihrer Versenkung durch das sowjetische U-Boot S-13 vor der Küste Pommerns am 30. Januar 1945 kamen zwischen 4.000 und mehr als 9.000 Menschen ums Leben. Bezogen auf ein einzelnes Schiff gilt ihr Untergang als eine der verlustreichsten Schiffskatastrophen der Menschheitsgeschichte."

    Und so wussten alle, daß ein Zug die wohl letzte Gelegenheit für die Familie war, Danzig vor der herannahenden Sowjetischen Armee zu verlassen. Der Lokführer wusste aber auch,  daß es in einem  dieser wohl letzten Züge aus Danzig heraus, für eine Familie mit kleinen Kindern keine Chance gab, den Zug im völlig überfüllten Danziger Hauptbahnhof besteigen zu können .

    So empfahl er, wir sollten nach Saspe, einem Vorort von Danzig, mit der Kleinbahn fahren. Dort wurden die Züge zusammengestellt die in den Westen fuhren und Mutti sollte versuchen mit den Kindern, in den dort stehenden, noch leeren Zug, hinein zu kommen. Es würde vermutlich der letzte sein der von Danzig nach Westen fahren würde. Und so ging die kleine Gruppe die Lindenstraße hinunter, stieg an der Halben Allee in die Straßenbahn. Hinter der Eisenbahnbrücke lag der kleine Bahnhof, von dem aus die Kleinbahn ins Hinterland fuhr. Tante Hertha, die Schwester von Vati, die sich uns angeschlossen hatte, mit Ines, gerade mal ein Jahr alt, auf dem Arm, stand schon da und fuhr mit. In Saspe wartete der Lokomotivführer auf uns, lang und dunkel stand der Zug da, zu dem er uns führte. Wir gingen durch den tiefen Schnee über die Gleise und stiegen vorsichtig über die Schienen, die Füße versuchten, auf dem eisigen Schotter Halt zu finden. Etwa in der Mitte dieser unheimlichen Zugschlange kletterte der Lokführer auf das hohe Trittbrett und nahm Koffer und Kinder in Empfang. Dann verschwand er eilig in der dunklen Nacht, wissend, daß er in Lebensgefahr war. Denn hätte man ihn beobachtet, wäre er sofort verhaftet, vermutlich nach Kriegsrecht erschossen worden. Der Waggon war eiskalt. Wir nahmen das zweite oder dritte Abteil links. Und konnten uns nicht hinsetzen, weil die mit Kunststoff bezogenen Sitzplätze so kalt waren, als wäre es reales Eis.

    „Wir haben nichts gesehen"

    Die Zeit schlich dahin, an Schlafen war nicht zu denken, es war zu kalt. Wir wagten kaum zu atmen. Alles war totenstill. Dann laute Stimmen und das Poltern von Militärstiefeln. Die Abteiltür wurde aufgerissen. Drei Uniformierte herrschten

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