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Supergau(ck)
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eBook344 Seiten4 Stunden

Supergau(ck)

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Über dieses E-Book

Tagebuchgestützte Autobiografie eines beliebten Fernsehreporters, der schließlich als IM der Stasi enttarnt wird und dadurch in tiefe Depressionen verfällt. Der - bis auf die Stasi-Kontakte - ziemlich normale DDR-Lebenslauf wird durch die unwiderlegbaren Tagebuch-Innenansichten ein ungewöhnliches DDR-Zeitzeugnis.
Die Härte des sozialen Absturzes durch die Enttarnung hält der Autor für Inquisition und lastet das dem späteren Präsidenten Joachim Gauck an.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum29. Jan. 2013
ISBN9783844247367
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    Buchvorschau

    Supergau(ck) - Horst Mempel

    ebookcover.jpg

    Mein langer Weg zum »Supergau(ck)«

    Ein Zeitzeugnis

    von Horst Mempel

    Imprint

    Mein langer Weg zum »Supergau(ck)«

    Ein Zeitzeugnis

    Horst Mempel

    published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

    Copyright: © 2012 Horst Mempel

    Coverfoto: Roy Bock

    Layout und Satz: Marte Kiessling

    ISBN 978-3-8442-4736-7

    Dresden, den 06. Januar 2012

    Sehr geehrter Herr Gauck,

    es ist möglich, dass Herr Wulff sein Amt aufgeben muss und man dann Sie auffordert zu kandidieren.

    Ich bitte Sie, das Amt des Bundespräsidenten nicht anzunehmen.

    Sie haben damals, als Beauftragter für die Stasi-Unterlagen, neben dem, was notwendig und richtig war, so viel »Kollateralschaden« angerichtet, dass daran gemessen die Fragwürdigkeiten des Herrn Wulff geradezu lächerlich wirken.

    Unter Kollateralschaden verstehe ich das Zertrümmern von Ansehen, Existenz, überhaupt aller Lebensgrundlagen auch solcher Bürger, die sich häufig bestenfalls minimaler Vergehen schuldig gemacht haben.

    Mit dieser Vergangenheit würden Sie das hohe Amt weit mehr beschädigen als unser jetziger Präsident.

    Vermutlich sind auch Sie dem verbreiteten Irrtum verfallen, dass, wer irgendwann einmal auf der richtigen Seite stand, für immer die Wahrheit gepachtet hat. Das stimmt wirklich nicht.

    Sie hatten mir als Stasi-Beauftragter bereits meinen kindlichen Glauben ausgetrieben, dass alle Pastoren immer nur Gutes tun.

    Von dem Amt des Bundespräsidenten habe ich eine ähnlich hohe Meinung. Demontieren Sie die bitte nicht auch noch.

    Ich grüße Sie.

    Horst Mempel

    1. Kindheit, Krieg, Nachkriegszeit

    Mein Vater wurde 1939 zur Wehrmacht eingezogen, ich habe ihn selten gesehen, nur wenn er auf Urlaub kam, und wirklich lebendige Erinnerungen an ihn gibt es nur zwei. Es war an einem sonnigen Morgen, unter dem Küchenfenster standen meines Vaters frischgeputzte Stiefel und glänzten. Meine Mutter, sie wollte Kartoffelklöße kochen, presste geriebene Kartoffelmasse in einem Tuch, um das Wasser zu entfernen. Auf einmal platzte der Stoff, die weiße Masse spritzte durch die Küche, und ein dicker Batzen klatschte auf einen der Stiefel. Dieses Bild, der weiße Fleck auf dem schwarzglänzenden Leder, hat sich mir so in die Seele gegraben, dass ich es mein ganzes Leben nicht vergessen konnte. Weshalb, kann ich nicht sagen.

    Und dann erinnere ich mich noch daran, dass mein Vater doch einmal meinen inständigen Bitten nachgab und – im Garten der Oma – mit seiner Pistole in die Luft schoß. Das sehe ich heute noch vor mir. Wie er in seiner Uniform auf dem Gartenweg steht und den Arm hebt. Und dann dieser ungeheure Knall.

    Im Großen und Ganzen verlief unser Leben während des Krieges ruhig und geordnet. Ich ging täglich bis Mittag in einen Kindergarten ganz in der Nähe. Ich war gern dort,

    Einmal wurde meine kleine Seele ausgerechnet in diesem meinem heißgeliebten Kindergarten so verwundet, dass die Narbe bis heute ein bisschen schmerzt. Wenn ein Kind Geburtstag hatte, durfte es ein paar Freunde, fünf vielleicht, zu einem Kaffeetisch einladen. Als Bernd Block, den Namen habe ich sechs Jahrzehnte lang nicht vergessen, seinen Ehrentag hatte, war ich sicher, zu den Eingeladenen zu gehören, denn nach meinem Verständnis waren Bernd und ich Freunde. Aber Bernd lud mich nicht ein. Ich konnte das nicht begreifen, war schrecklich unglücklich und habe zu Hause bitterlich geweint.

    Mein liebstes Spielzeug in jener Zeit war Omas Knopfkiste, ein Behältnis, in dem Knöpfe jeglicher Art aufbewahrt wurden. Stundenlang, immer wieder, sortierte ich die kleinen, glänzenden Dinger, nach Farbe, nach Größe, legte sie zu Schlangen oder versuchte, sie zu stapeln. Wenn ich meine Knöpfe hatte, fehlte mir nichts. Malbücher oder – später dann – der Stabilbaukasten gaben mir wenig. Ich war ungeschickt, malte immer über den Rand, und die Kräne, die ich baute, waren krumm und schief und funktionierten nicht. Dieses fehlende Geschick hat mich mein ganzes Leben begleitet. Wie überhaupt gewisse Eigenheiten, die mir als Erwachsener anhängen, schon damals sichtbar wurden, meine Begeisterungsfähigkeit zum Beispiel. Als bei Oma eines Tages eine neue Lampe hing, brach es aus mir – der Sprache noch nicht ganz mächtig – heraus: »Oh, mucke mimte Mampe!« (»Oh, welch wunderbare Lampe!«). Dieser Satz gehörte über Jahrzehnte zum Zitatenschatz in unserer Familie, deshalb erinnere ich mich daran. Aus ähnlich übervollem Herzen habe ich Jahre später, es muß in einem Sommer Ende der 40er Jahre gewesen sein, ich war also zehn oder elf, meiner Mutter einen begeisterten Brief geschrieben. Wie meist in den Ferien war ich zu Besuch bei meiner Tante in Coswig. Wir spielten an der Elbe, und plötzlich sah ich auf dem Fluß, zum ersten Mal in meinem Leben, einen weißen Passagierdampfer. Bis dahin kannte ich nur schwarze Schleppdampfer und Lastkähne. Der Anblick des im Sonnenlicht glänzenden Luxusgefährts überwältigte mich, ich setzte ich mich sofort hin und schilderte meiner Mutter in einem langen Brief den gewaltigen Eindruck. Ich gäbe einiges darum, könnte ich diesen Gefühlsausbruch heute noch einmal lesen.

    Zu den bei mir in früher Kindheit sichtbaren Eigenschaften gehörte auch schon das Grüblerische. Ich konnte stundenlang vor mich hin glotzen. Besonders die Oma kam damit nicht zurecht. »Horsti simmeliert immer«, sagte sie ratlos, und: »Horsti, was simmelierste denn schon wieder?« Sie meinte »simulieren« oder »sinnieren«, nach ihrem Verständnis war das »nachdenken«. Wenn ich später, als Erwachsener, wieder mal »simmelierte«, und das, blöde Angewohnheit, auch noch mit halboffenem Mund, sagte meine Mutter trocken: »Junge, kannst Du doof aussehen!«

    Außerdem war ich ein ängstliches Kind und ein überaus sensibles. Ich war noch als Jüngling – wie peinlich – schnell zu Tränen gerührt. Das gab sich dann für lange Zeit, doch jetzt, im Alter, neige ich erneut zur Rührseligkeit.

    Einmal zu einem Kriegs-Weihnachten hatte unser Opa, von Beruf Stellmacher, für uns ein Schaukelpferd gebaut. Holz gab es damals kaum, der Opa war vermutlich auch nicht sonderlich geschickt, jedenfalls war das Gerät etwas seltsam geraten. Und so kam es, dass mein Bruder, als wir zur Bescherung ins Zimmer gerufen wurden, angesichts des Schaukelpferdes voller Entzücken ausrief: »Oh, ne Zicke, ne Zicke!«

    »Vati kommt nicht wieder«

    Im Dezember 1943, ich war fünfeinhalb, mein Bruder anderthalb, kam jemand vorbei und sprach mit unserer Mutter. Danach weinte sie, setzte sich in der Küchenecke auf die Fußbank, zog uns Kinder zu sich und sagte: »Der Vati kommt nicht wieder.« Ob wir das begriffen und danach auch weinten, kann ich nicht mehr sagen. Jahre später, es könnte 1947 gewesen sein, waren wir Kinder unserer Straße in freudiger Erregung, denn »...Herr Topf kommt nach Hause!« Herr Topf war der Nachbar in der Wohnung über uns, auch er war Soldat gewesen, war in Gefangenschaft geraten und war nun entlassen worden. Als Herr Topf schließlich kam und wir Kinder um ihn herumtanzten, da wurde mir die Brust auf einmal schwer. Ich ging zur Seite, und hier nun weiß ich, dass ich weinte. Denn so eine Freude würde es für mich, für unsere Familie nie geben können. Unser Vati war ja tot. Nebenbei – Herr Topf sah grauslich aus. Durch eine Kriegsverwundung fehlte ihm der halbe Unterkiefer. Als unsere Mutter später sagte, unser Vater hätte noch viel schlimmer ausgesehen (ihm war tatsächlich das ganze Gesicht zerfetzt worden, er hatte das nur wenige Tage überlebt), empfanden wir unseren Verlust als nicht mehr ganz so schlimm.

    Ansonsten bekamen wir in unserer Kleinstadt Stassfurt vom Krieg wenig mit. Wenn Fliegeralarm war, mussten wir in den Luftschutzkeller. Die Erwachsenen gingen häufig nach oben vor die Tür, manchmal sagten sie dann »..sie brummen..«, was hieß, irgendwelche Flugzeuge flogen hoch über uns irgendwohin, vermutlich zum nicht weit entfernten Magdeburg. Auf unsere Stadt fielen nur einige wenige Bomben, weit draußen, auf das Industriegebiet. Insofern wäre es gar nicht nötig gewesen, den Platz vor der evangelischen Kirche aufzubaggern und dort einen großen Feuerlöschteich zu installieren. Der aufgehäufte Schutt neben dem Teich allerdings, der sogenannte »Baggerberg«, erfüllte schließlich doch eine wichtige Aufgabe. Die Kinder, insbesondere die kleineren wie mein Bruder, der dafür extra eine »Baggerberghose« besaß, kannten keinen schöneren Spielplatz.

    Wir Größeren spielten damals Fußball, mit aus Lumpen zusammengenähten Stoffbällen und in der Regel barfuß. Schuhe waren Mangelware und durften nicht kaputtgehen. Ich hatte von meiner Mutter strengstes Schuh-Verbot, wenn ich zum Fußballspielen ging.

    Im April 45, ich war inzwischen sieben, ging schon zur Schule, der Krieg lag in den letzten Zügen, aber ging noch immer an uns vorbei, am 20.April lief ich morgens ganz aufgeregt zu meinem Urgroßvater. »Großvater, Großvater, ich brauch die Fahne, der Führer hat Geburtstag!« Der Urgroßvater war der einzige in unserem engeren Familienkreis, der eine Hakenkreuzfahne besaß. Ich bekam die Fahne und zog stolz damit los. Wie viel sich schließlich zusammenfanden, um Hitlers letzten Geburtstag zu feiern, kann ich nicht mehr sagen.

    Vermutlich waren zu diesem Zeitpunkt unsere Straßen schon aufgerissen, für Panzersperren. Wir haben jedoch in unserer Stadt bis zum Kriegsende keine Panzer zu Gesicht bekommen, mit einer Ausnahme. Es muß Anfang Mai gewesen sein, da jagte auf einer der wenigen intakten Durchgangsstraßen ein einzelner deutscher Panzer an uns vorbei, riesig, gewaltig, waffenstarrend, mit ungeheurem Getöse. Ich war zutiefst beeindruckt und erzählte wochenlang, also auch noch nach Kriegsende, wie großartig der »Königstigerpanzer« gewesen sei.

    Irgendwann waren dann die Amerikaner da. Auch daran nur eine einzige schlaglichtartige Erinnerung. Ein offener Jeep mit langen, fühlerartig hängenden Antennen, drinnen zwei lustige Schwarze – Sensation, ich hatte noch nie einen »Neger« gesehen – und sie schenkten uns Schokolade.

    Später kamen die Russen, u.a. mit den sogenannten »Panjewagen«, den ulkigen Holzgefährten, die von Pferden gezogen wurden. Alles andere kenne ich auch hier nur aus Erzählungen. Der Bruder meines Opas, wohl ein strammer Nazi, wurde von ehemaligen russischen Gefangenen, die unter ihm Zwangsarbeit leisten mussten, erstochen, er starb in den Armen seiner Frau (»Der war ja auch immer brutal mit denen...«, wurde bei uns in der Familie geflüstert). Mein Opa selbst, ein riesiger, phlegmatischer, gutmütiger Mensch, der bis dahin in seinem Leben vermutlich nie einen schnellen Schritt getan hatte, wurde von den selben Russen gejagt, rannte vor ihnen her, schrie immer, er sei Kommunist (was er bis 33 tatsächlich gewesen war) und rettete sich schließlich, indem er es in seiner Not schaffte, mit einem gewaltigen Satz einen zweieinhalb Meter hohen Bretterzaun zu überqueren. Noch Jahre später, wenn wir Kinder an dem Zaun vorbeikamen, gab ich damit an, dass mein Opa da drüber gesprungen wäre.

    In dem Haus meiner Tante in Coswig, also dort, wo ich in der Regel die Ferien verbrachte, gab es eine Familie Sch. Sie waren nach unserem Verständnis »etwas Besseres«, also vermutlich Intellektuelle, sie unterschieden sich von uns durch ein gewisses vornehmes Auftreten, wir achteten sie. Die Tochter der Familie Sch. war am Kriegsende gerade so erwachsen, noch keine 20, denke ich. Als die Russen kamen, sperrten sie Herrn und Frau Sch. in die Küche ein und mit der Tochter gingen sie ins Schlafzimmer.

    Ich kenne das alles natürlich nur vom Erzählen, dennoch hat sich das Leid dieser Familie für Jahrzehnte in meine Seele eingebrannt, eigenartiger Weise tiefer noch das des Vaters als das der Tochter.

    Die Zeit nach dem Krieg brachte Hunger und Not. Meine Mutter, Kriegerwitwe mit zwei kleinen Kindern und zudem ohne Beruf, gehörte zu den Ärmsten. Wir liefen im Sommer barfuß und im Winter in Holzschuhen, wir aßen Kohlrüben, Brennnesseln und Kartoffelschalen, und ich verschlimmerte die Situation noch, weil ich mäkelig war und mich zum Beispiel weigerte, Speisen mit Mohrrüben oder Zwiebeln zu essen, obwohl meine Mutter froh war, dass sie die überhaupt aufgetrieben hatte. Keine Probleme dagegen bereitete mir, Hundefleisch zu essen. Mein Onkel, ein in Coswig stadtbekannter Hundefänger, erklärte uns, das sei Straßen-Reh. Zwar machte uns das Lachen der Erwachsenen misstrauisch, doch wir gaben uns mit der Erklärung zufrieden.

    Was meine Mutter in jener Zeit leistete, war Heldentum. Sie aß fast nichts, nachts kroch sie auf Güterwagen herum, um Kohle zu stehlen, »Kohle klauen« war damals üblich und wurde kaum geahndet, am Tage ging sie stoppeln, d.h. sie sammelte auf abgeernteten Feldern die liegengebliebenen Ähren, Kartoffeln oder Zuckerrüben, abends nähte sie aus alten Kleidern für uns etwas zum Anziehen.

    Es fehlte buchstäblich an allem. Dennoch, im Rückblick, ich weiß nicht, wie das möglich ist, empfinde ich diese Zeit als fröhliche Kindheit. Elend, als Ausdruck permanenter Verzweiflung, kommt mir dabei nicht einmal annähernd in den Sinn.

    Natürlich machte der Hunger uns irgendwann krank. Ich bekam die Englische Krankheit, die sog. »Knochenweiche«, bis heute ist mein Brustbein davon seltsam verformt, und meiner Mutter verzog eine Nervenlähmung die eine Gesichtshälfte, sie hat unter ihrem schiefen Mund ein Leben lang gelitten.

    Die groben Holzpantinen und später auch die eklig schweißtreibenden Igelitschuhe marterten meine Füße, ich bekam immer wieder schmerzhaft entzündete Hühneraugen, manchmal bin ich monatelang lahmgegangen. Irgendwann, oh Himmel, brachte mir meine Mutter ein Paar leinene Tennisschuhe, gebrauchte zwar, aber was tat das schon. Unsere Nachbarn hatten sie aus Amerika bekommen, von entfernten Verwandten, die ihnen gelegentlich Pakete schickten. Meine Mutter tauschte die Schuhe bei ihnen gegen einen Gutteil ihrer »Aussteuer« ein. 4 Bettbezüge, 4 Kopfkissen, 4 Laken, ungebraucht natürlich »...und alles Damast«, sagte meine Mutter mit traurigen Augen. Sie hatte sich die Wäsche in ihrer Jugend, während sie als Dienstmädchen »in Stellung« war, zusammengespart, und sie war immer stolz auf ihre Aussteuer. Unsere Nachbarn, gute Bekannte eigentlich, hielten den Tausch für angemessen.

    Egal, ich zog die Schuhe sofort an, nach den schweren Holzschuhen war mir, als hätte ich Flügel bekommen Es war Winter, ich tollte mit den Stoffdingern draußen im tauenden Schnee herum und behauptete sogar, sie seien wasserdicht.

    »Blume wird mit `h` geschrieben«

    In der Schule bekamen wir sogenannte »Neulehrer«. Die ehemaligen waren entlassen worden. Ich hab das nicht sehr bedauert. Herr Kluge, der uns bis dahin unterrichtete, hatte bei jeder Kleinigkeit geschrien: »Flossen auf den Tisch!« und uns dann mit dem Rohrstock auf die Finger geschlagen. Der Neue, kein gelernter Lehrer, ich weiß nicht, aus welchem Beruf er kam, fiel auch bald unten durch. Er hatte uns u.a. weismachen wollen, »Blume« werde mit »h« geschrieben, weil das Wort von »blühen« komme. Voller Empörung hatte ich zu Hause davon berichtet, und für meine Mutter wie auch für andere Eltern bildeten diese und ähnliche Bildungslücken den Anlass, die »Neulehrer« und mit ihnen das gesamte neue Schulsystem über Jahre nicht ernst zu nehmen.

    Nach und nach bekamen wir immer mehr Umsiedlerkinder in unsere Klasse. Sie passten nicht zu uns, meinten wir. Sie sprachen einen anderen Dialekt, trugen noch abgerissenere Kleidung, und außerdem waren sie bei manch einem unserer Einheimischen einquartiert, was als Zumutung betrachtet wurde. Es hat lange gedauert, bis wir die geschundenen Sudetendeutschen oder Ostpreußen als gleichberechtigte Schulkameraden akzeptierten. Unser Prügelknabe allerdings war einer von uns. Er war eigentlich der Größte und Kräftigste, vom Gemüt her aber ein Dulder. Jeden Tag nach der Schule wurde er gestellt und bekam eine Tracht Prügel. Ich denke, dass ich mich am Prügeln nicht beteiligte, mir das Schauspiel aber in der Regel genüsslich mit ansah. »Platte«, so war sein Spitzname, entkam dem Martyrium schließlich nur, weil er täglich von seiner Mutter abgeholt wurde. Später verlor ich ihn für viele Jahre aus den Augen, bis ich eines Tages seinen Namen in der Zeitung wiederfand. Er war ein einflussreicher Mann geworden, Parteisekretär in einem Großbetrieb.

    Eines schönen Tages gab es bei uns zu Hause eine mittlere Sensation. Unsere Mutter hatte im Grubenbetrieb unserer Stadt zu arbeiten begonnen, zunächst als Reinemachefrau, später in der Verwaltung als Sachbearbeiterin. Es klingelte, und Herr Rath stand vor der Tür. Herr Rath war ein wichtiger Mann im Kaliwerk, er war der Kassierer der Verwaltung, aber er war klein, rundlich, leicht gebückt, und er hatte nur wenige Haare. Herr Rath war nicht im Krieg gewesen, er war Witwer und damit einer der ganz wenigen Männer in diesem Alter, die frei, d.h. nicht verheiratet waren.

    Meine Mutter und Herr Rath zogen sich in die gute Stube zurück, und als nach vielleicht einer Stunde die Tür wieder aufging, war meine Mutter puterrot vor Aufregung und Herr Rath schien noch ein wenig gebückter. Meine Mutter hatte einen Heiratsantrag bekommen, und sie hatte ihn abgelehnt. Für uns Kinder war das selbstverständlich. Unser Vater war in unserer Erinnerung ein großer, strahlender, sportlicher Mann, da konnte Herr Rath keine Chance haben bei unserer Mutter. »Weshalb nimmst Du nicht Herrn Schulze,« fragten wir sie später, denn Herr Schulze war ein ähnlicher Strahlemann wie unser Vater, und er mochte uns. Aber dem Argument, der hätte schon eine Frau, hatten wir wenig entgegenzusetzen.

    Das war die Zeit, als wir schon nicht mehr gar so sehr hungerten. Irgendwann hatte ich, nach Jahren bei trockenem Brot oder undefinierbarem, üblem Brotaufstrich, meine erste richtige Marmeladenstulle gegessen – es war göttlich. In diesem Zusammenhang erinnere ich mich daran, dass ich eines Tages ein Stück Kernseife in die Hände bekam. Bis dahin waren wir nur die dumpfe, graue Tonseife gewöhnt. Der intensive, wohltuende Duft der Kernseife regte mich so an, dass ich tatsächlich hineinbiß – obwohl ich natürlich wusste, dass das nichts zum Essen war.

    Oma und Opa hatten jetzt schon Kaninchen, Hühner und auch ein Schwein. Das Schwein wurde versteckt gehalten und, solange es noch klein genug war, gelegentlich sogar in den Keller verfrachtet, dann nämlich, wenn die Viehzähler angekündigt wurden. Diese amtlichen Personen stellten fest, wie viel Vieh in den jeweiligen Haushalten existierte, und entsprechend wurden die Zuteilungen auf den Lebensmittelkarten reduziert.

    War es gelungen, das Schwein zu verheimlichen, musste es natürlich auch »schwarz« geschlachtet und verarbeitet werden. Das geschah gewöhnlich im Keller und war in der Regel ein rechtes Abenteuer für uns Kinder.

    2. Die 50er: Kind, Jüngling, Mann

    Irgendwann begann ich, regelmäßig zu lesen. Zu unseren wenigen Büchern, wir besaßen vielleicht ein halbes Dutzend, gehörten der dicke »Volksbrockhaus«, ein Lexikon also, und der Nazi-Roman »Befehl des Gewissens«. Jeden Abend vor dem Einschlafen nahm ich mir eins der beiden Bücher vor. Als ich den Roman zu Ende gelesen hatte, schwärmte ich vorübergehend für die beiden »arischen« Hauptfiguren, sie hießen sinnigerweise »Hans Kraft« und »Berta Schön«, ich war froh, kein Jude zu sein und hielt den Kommunismus für etwas Abgrundböses. Der Brockhaus hat mich länger gefesselt und wahrscheinlich auch nachhaltiger geprägt. Es waren vermutlich einige Jahre, in denen ich beim abendlichen Lesen Stichwort für Stichwort aufnahm und mir mein Weltbild zusammenbastelte.

    Am Abend wurde zu Hause, mit unserer Mutter, häufig gesungen, Volkslieder und hin und wieder ein paar Schlager oder Operettenmelodien, die wir aus unserer »Goebbelsschnauze«, dem kleinen Volksempfänger, kannten. Irgendwann wurde ich folgerichtig Mitglied des Kinderchores unseres Grubenbetriebes. In dem Chor gab es ein Mädchen, das hieß Wilja. Schon dieser Name war ungewöhnlich, dann sah sie auch noch hübsch aus, und außerdem war sie die Tochter eines Steigers, was ihr zusätzlichen Glanz verlieh. Wilja wurde die große Liebe meines damals vielleicht zehn- oder elfjährigen Lebens. Und da Wilja häufig ein orangefarbenes Mäntelchen trug, was ebenfalls eine gewisse Besonderheit war, machte mein Herz jedes Mal einen Sprung, wenn ich irgendwo ein orangefarbenes Mäntelchen erblickte. Das blieb jahrelang so, auch dann noch, als ich Wilja längst aus den Augen und aus dem Herzen verloren hatte und die Mäntelchen ganz andere Mädchen trugen. Übrigens weiß ich nicht, ob Wilja jemals bemerkt hatte, wie sehr ich für sie schwärmte, denn größer noch als meine Liebe war meine Schüchternheit. Ein paar ausgesuchten Klassenkameraden allerdings schilderte ich unter dem Siegel der Verschwiegenheit, dass wir uns geküsst hätten und ich sie auch hier und da berührt hätte.

    Ich war ein Spätentwickler. Wenn wir in der Schule der Größe nach antreten mussten, stand ich genau in der Mitte. Auch im Sport war ich zunächst unauffälliges Mittelmaß. Um so überraschender dann jener Tag in der Schulturnhalle, als Bockspringen angesagt war, und ich immer noch drüberkam, als alle anderen bereits gescheitert waren, und ich selbst dann noch nicht am Ende war, als der Bock nicht mehr weiter auszuziehen ging. Ob mich da schon eine erste leichte Ahnung von meinen besonderen Schnellkrafttalenten anwehte, weiß ich heute nicht mehr.

    Eines Tages wurde uns während einer Chorprobe mitgeteilt, dass wir jetzt »Pioniere« werden könnten und dass wir dann ein Halstuch und ein Abzeichen bekämen. Zu Hause erzählte ich die Sache mit den Halstüchern und fügte hinzu: »Das wird genau so wie in Russland«, worauf meine Mutter verschreckt meinte, ich solle so etwas lieber nicht sagen. Ich weiß bis heute nicht, was sie dabei geängstigt hat.

    1952 gehörte ich zu den Auserwählten, die zum Deutschlandtreffen in die Pionierrepublik in die Berliner Wuhlheide fahren durften. Wir wohnten in Zelten, schliefen auf Strohsäcken. Vermutlich stammt meine lebenslange Aversion gegen jede Art von Zelten von dieser ersten Erfahrung. Wenn es regnete, bildete sich an der Innenseite des Daches ein feuchter Film, aus dem es auf uns herunter tropfte, die Decken waren klamm und das Stroh stank.

    Es wäre trotzdem ein tolles Erlebnis gewesen – die Hauptstadt, die Menge Menschen, die vielen Veranstaltungen –, wenn es da nicht die Sache mit dem Essen gegeben hätte. 1952 wurde in der DDR, glaube ich, zwar kaum noch richtig gehungert, jedoch alles war rationiert, alles war knapp. Wir in der Pionierrepublik aber wurden bestens verpflegt. Brot, Marmelade, Butter, Wurst, alles gab in so reichem Maße, dass wir uns richtig satt essen konnten. Die Mahlzeiten für die einzelnen Gruppen holten die Gruppenleiter von einer zentralen Ausgabestelle. Diese wichtige Tätigkeit war Älteren vorbehalten, die waren keine Pioniere mehr, sondern bereits FDJler. Ich fungierte als Helfer, Träger, und dadurch wurde ich Zeuge, wie die Gruppenleiter einen Teil der Lebensmittel beiseite schafften. Ich war empört, fassungslos. Diese FDJler waren doch unsere Besten, sonst hätten sie uns nicht nach Berlin führen dürfen. Sie sagten uns doch täglich, wir müssten ehrlich sein, selbstlos, immer mehr an die anderen als an uns selbst denken, sonst wären wir keine guten Pioniere. Ich war ratlos. Aber ich sagte nichts. Erst zu Hause, bei meiner Mutter, lud ich den ganzen Frust ab. Jahrzehnte später, bei einer Reise zur Vierschanzentournee in Österreich, erlebte ich übrigens genau das Gleiche. Unser Chefreporter, Parteisekretär, einer von den ganz Scharfen, die keine Gelegenheit ausließen, uns zu schurigeln und fehlende Parteimoral vorzuwerfen, ausgerechnet der versuchte mit kleinen, miesen Tricks, seine Spesen zu Lasten des DDR-Fernsehens um ein paar Westmark aufzubessern. Auch da war ich über die Maßen empört, aber auch da sagte ich nichts, sondern heulte mich nur bei meiner Frau und in meinem Tagebuch aus (später habe ich den Betrug dann doch offiziell zur Sprache gebracht, aber da flog mir das selbst um die Ohren, in mehrfacher Hinsicht, vermutlich werde ich noch darauf zu sprechen kommen).

    Die vier schönsten Jahre

    Ich war nun 14, ging in die achte Klasse. Damals war es üblich, nach 8 Jahren die Schule zu verlassen und in die Lehre zu gehen, oder, wenn die Leistungen es zuließen, auf die zwölfklassige Oberschule zu wechseln. Aber Oberschule würde bedeuten, dass ich meiner Mutter noch vier Jahre länger auf der Tasche läge. Das wollten wir beide nicht, meine Mutter nicht und ich auch nicht. Wir gehörten noch immer zu den Ärmsten, es war wichtig, dass ich bald mein eigenes Geld verdiente. Doch dann schloss ich die 8.Klasse mit »sehr gut« ab und wurde Zweitbester der Klasse. Eines Tages kam einer meiner Lehrer ins Haus, und er bearbeitete meine Mutter so lange, bis sie schließlich nachgab. Ich wurde Oberschüler.

    Die folgenden vier Jahre haben in meinem Lebensrückblick den Umfang einer ganzen Epoche, sie sind

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