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Friedas Enkel: Meine Familie und das Erbe der Gewalt in Russland
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eBook239 Seiten3 Stunden

Friedas Enkel: Meine Familie und das Erbe der Gewalt in Russland

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Über dieses E-Book

Eine Familie als Spiegel der russischen Gesellschaft

Schweigen, Hinnehmen, Verdrängen – dieses Muster ist tief in der russischen Gesellschaft verankert. Auch Frieda verschwieg das Leid, das sie durch die Nationalsozialisten und die sowjetische Diktatur erfuhr. Das Erbe der Gewalt wird bis heute an die jüngeren Generationen weitergegeben, wie sich auch in Russlands Krieg gegen die Ukraine zeigt.
Die Journalistin Inna Hartwich macht anhand der Biografie ihrer russlanddeutschen Großmutter Frieda das Unerzählte in Russland sichtbar und geht auf historische und ungehörte Perspektiven ein. Sie reist quer durchs Land, trifft Menschen mit den unterschiedlichsten Haltungen und zeigt, wie sich dieses durch Angst, Leid und Ignoranz selbst zerstört.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum6. Nov. 2023
ISBN9783962511913
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    Buchvorschau

    Friedas Enkel - Inna Hartwich

    1Der Anfang

    Die Sphinx auf dem Sofa

    Es ist einer dieser Tage, an denen unsere Eltern meinen Bruder und mich zu den Großeltern bringen. Sie haben ein Haus, einen Garten, Holzscheunen, Apfelbäume zur Straße hin. Ich bin nicht gern da. Die Großmutter schreit, man dürfe die Äpfel nicht einfach so essen, auch wenn sie am Boden liegen. Sie schreit oft. Zum Essen stellt sie eine große Pfanne auf den Tisch, die Kartoffelpuffer triefen vor Fett. „Fresst, sagt die Großmutter. Ich habe mich an das Wort längst gewöhnt, weiß, dass hier alles aufgegessen werden muss, egal wie. Die Großmutter sieht es nicht gern, wenn etwas übrig bleibt vom Essen. Ein „Es schmeckt mir nicht überhört sie jedes Mal. Ich verstehe nicht, warum. Ich esse die Kartoffelpuffer, den Speck, das mit Schmalz bestrichene Schwarzbrot. Ich esse und schweige und sage meinen Eltern immer wieder, dass ich dort nicht hinwill. „Es sind deine Großeltern", sagen die Eltern und fahren mit uns wieder hin. Die Cousinen sind da, die Tanten, die Onkel. Sie sitzen am Tisch, sie lachen, manchmal streiten sie. Erwachsenenzeugs. Ich fahre mit meinem grünen Fahrrad die Straße am Haus der Großeltern entlang. Die grünen Äpfel lasse ich aus Unbehagen irgendwann unbeachtet im Garten liegen.

    Bei den Großeltern muss alles erfragt werden. Darf ich das? Kann ich dies? „Es muss Ordnung herrschen im Leben", herrscht die Großmutter uns an. Der Großvater sitzt auf dem Sofa im Wohnzimmer und sagt nichts. Er sagt selten etwas. Groß gewachsen ist er, hager, die Kleider wirken viel zu breit an ihm. Er sitzt fast unbeweglich da, schaut nach vorn, zieht hin und wieder an seiner Zigarette, legt sie in den Drehaschenbecher, silbern mit schwarzer Umrandung. Er sitzt, atmet, pafft. Während die Großmutter schimpft, belehrt, tadelt, ist der Großvater eine Art Denkmal auf dem Sofa. Wie eine Sphinx, erstarrt in seiner eigenen Welt.

    „Baba Frieda, rufe ich, als ich einmal vom Fahrrad falle. Ich nenne die Großmutter immer so, „Baba Frieda, so heißt sie auf Russisch, meiner einzigen Sprache als Kind. Nie werde ich „Oma zu ihr sagen, auch dann nicht, wenn wir längst in Deutschland leben werden und das Deutsche auch zu meiner Sprache geworden sein wird. Das Blut rinnt mir übers Knie. „Stell dich nicht so an, es ist nur eine Schürfwunde, sagt „Baba Frieda und geht wieder ins Haus. Ich kann mich an keine Situation erinnern, in der sie ihre Arme ausgebreitet und mich getröstet hätte. „Hör zu, Kind, im Leben muss man stark sein, wird sie immer wieder sagen und etwas befehlen, was ihrer Meinung nach noch nicht erledigt worden ist. „Mach dich lieber nützlich, heulen kannst du woanders. Etwas Liebevolles, das hätte sie wohl auch selbst über sich gesagt, hatte sie nicht. Liebe sei etwas für die Katzen, ja, sie sagte: für die Katzen. Katzen könnten sich so etwas erlauben, sie aber, Frieda, müsse funktionieren, bloß keine Schwäche zeigen. „Stell das nie infrage, Kind. Sie geht in die Küche, setzt sich in die Ecke und isst. Allein. Einsam. Wahrscheinlich war sie das ihr Leben lang.

    Fragen aber, die kommen immer. „Unsere Nachnamen sind deutsch? Warum? Mein Vater sagt: „Weil wir Deutsche sind. Was aber heißt das? Und warum sind wir hier, am Ural, in der Sowjetunion? Keine Erklärung. Aus dem Briefkasten, der in der Mitte unserer Straße steht und mit Nummern für jedes Wohnhaus versehen ist, hole ich mit der Zeit immer wieder bläuliche Briefe mit weiß-rot-blauer Umrandung heraus. Keine kyrillische Schrift darauf. Es ist Anfang der 1990er-Jahre. Keine Erklärung. Die Erwachsenen schweigen, schicken mich weg und sagen, es sei „für Erwachsene. Die Großeltern erzählen nichts, die Eltern wenig. Bis die Ausreise kommt. Nach Deutschland, in dieses ominöse Land, das keiner von ihnen wirklich kennt und doch jeder als großartig zu beschreiben weiß. „Baba Frieda kommt mit, ohne ihren Richard, meinen Großvater. Richard stirbt in der Steppe am Ural, an seinem 80. Geburtstag. Fast alle seine Kinder reisen aus unterschiedlichen Ecken des großen Landes zu seinem Fest an. Es wird ein Abschied. „Kann Großvater nicht diese Tabletten essen und wieder aufwachen, ich habe sie extra für ihn eingesteckt?", wird mein damals dreijähriger Bruder unsere Großmutter fragen und ihr die Pillen reichen. Der Großvater kann nicht.

    Kurz zuvor hatte Richard zu reden angefangen. Es ist die Zeit der Perestroika. Michail Gorbatschow flimmert in Schwarz-Weiß über den Fernsehbildschirm, die Erwachsenen machen manchmal lauter, manchmal stellen sie die Kiste ab. Die Verwandten in Deutschland schicken irgendwelche Unterlagen, mein Vater stellt seinem Vater Fragen, auch seiner Mutter. Zu ihrem Leben, ihrer Vergangenheit. Richard sitzt auf seinem Sofa, den Drehaschenbecher vor sich. Er spricht langsam und leise, als müsse er seine Erinnerung behutsam hervorholen, die Bilder in seinem Kopf, die er so fest vergraben hatte, weil totalitäre Staaten ihn zu schweigen gelehrt hatten. Die Sowjetunion, das nationalsozialistische Deutschland. Er wird nur wenig erzählen, wenig erklären. Die Angst sitzt ihm auch kurz vor seinem Tod noch tief in den alten, geschundenen Knochen.

    Die Angst, sie ist wie ein Virus, dessen sich die russische Gesellschaft nie entledigt hat. Er befällt sie, zerfrisst sie. „Was kann ich schon tun? Allein kann ich nichts ausrichten, sagen die Menschen, schwer an ihrer nie verarbeiteten sowjetischen Vergangenheit tragend. „Du bist ein Nichts, hörst du, eine Missgeburt, man sollte dich an die Wand stellen und dir eine Kugel in den Kopf jagen, sagt eine Lehrerin in der Region Perm zu ihrem Schüler im Jahr 2023, weil dieser zu spät zu einer Veranstaltung zu Ehren der russischen Armee gekommen ist. Das Video der Tirade macht sogleich die Runde in Russlands sozialen Netzwerken, in den Kommentaren finden sich allerlei Worte der Unterstützung – für die Lehrerin. Es ist ein Mitlaufen mit der Mehrheit, ein Nichthinterfragen der menschenverachtenden Haltung, die sie den Menschen entgegenbringt, die von ihr abhängig sind. Die Lehrerin erniedrigt ihren Schüler, weil Gewalt und Erniedrigung unter dem russischen Präsidenten Wladimir Putin Staatsräson sind. Dagegen vorzugehen, trauen sich nur wenige, weil die Mehrheit die Zweifler und Fragestellerinnen zu „Verrätern abstempelt und ihnen eine „Kugel in den Kopf jagen will. So trägt diese Mehrheit die Gewalt mit, übt sie zuweilen aus. Denn: „Ich kann nichts ausrichten, sagen sie. Der Satz soll selbstberuhigend wirken, während die Angst vor dem zerstörerischen Staat immer tiefer in sie hineinkriecht. Angst, seit Generationen. Repressionen, seit Generationen. Sich zu fügen, bequem zu sein – für seine Eltern, die Lehrerinnen, die Arbeitgeber, den Staat –, ist über die Jahrzehnte hinweg zu einem Mittel des Überlebens geworden. „Wenn du normal bist, passiert dir auch nichts, sagen die Eltern zu ihren Kindern, die Kinder zu ihren Kindern, und geben die unhinterfragte Floskel immer weiter, ohne zu erklären, was das eigentlich heißt, „normal sein. Nach und nach wird selbst ein alles vernichtender Krieg „normal. Er wird zur Realität, die die Menschen hinnehmen, über die sie lieber schweigen, ja, die manche auch gutheißen.

    Als in den frühen Morgenstunden des 24. Februar 2022 Wladimir Putin per Fernsehansprache der Ukraine den Krieg erklärt, ohne ihn zu erklären, stehe ich in unserem Moskauer Bad und schluchze. Russische Bomber fliegen über das Land, in dem meine Großeltern das Licht der Welt erblickt haben, russische Panzer zerstören Häuser, Leben, Gewissheiten. Das Land, in dem ich meine Kindheit verbracht habe, in dem ich ein Sportabzeichen nach dem anderen holte, das einen mit wunderbarsten Landschaften und schrecklichsten historischen Ereignissen einnahm und anwiderte zugleich, es hat ein anderes überfallen, das ebenfalls ein Teil von mir, von meiner Familie ist. „Kriech", hätte meine Großmutter Frieda gesagt. Es ist ein Wort, das ihr ein Leben lang geblieben war, auch als sie längst hätte Wojna sagen können. Krieg auf Russisch.

    Ich war 2010 als freie Korrespondentin von Mannheim nach Moskau gegangen, um Russland zu beschreiben, um Russland zu erklären. Für deutsche Zeitungen, österreichische, schweizerische. Ich wollte das Land selbst besser verstehen. Die Brüche in den Leben der Menschen, die Überbleibsel der sowjetischen Vergangenheit, die Prägungen und die Wandlungen. In Russland wie auch in der Ukraine, in Georgien, Belarus, Kasachstan, allen Ländern, die einst Sowjetrepubliken waren und sich nun aus der Zwangsumarmung Moskaus zu lösen versuchen. Ich war 2018 nochmals zum Leben und Arbeiten nach Moskau gekommen, nun mit Mann und Tochter, die gerade ihre ersten Worte sprach, auf Deutsch wie auf Russisch. Es war mir immer wichtig, ihr die Sprache meiner Kindheit mitzugeben, auch wenn ich einige Wörter dieser Sprache selbst längst eingebüßt hatte. Heute fragt sie: „Was ist eigentlich diese ‚Sowjetunion‘, in der du geboren wurdest?" Ja, was ist sie? Warum bestimmen die Ideen von damals – neu formatiert und in imperialen Nationalismus verpackt –, auch die Nostalgie gegenüber damals noch heute die Politik, mit aller Gewalt?

    Meine drei ersten Korrespondentenjahre schienen mir nicht ausreichend zu sein für dieses Land, seine Geschichte und Politik. Ich wollte mehr beobachten und erkennen. Im Februar 2022 stehe ich mitten in Moskau und begreife, dass ich so vieles nicht verstehe. Ich spüre einen stechenden Schmerz in mir, eine Hilflosigkeit, eine nicht zu erfassende Wut, Enttäuschung, tiefste Traurigkeit. Ich bewege meine Zehen in den Schuhen, um nicht mitten auf der Straße in Tränen auszubrechen, die Zehen sollen ablenken. „Mach dich lieber nützlich, heulen kannst du woanders, hätte „Baba Frieda gesagt. Die Menschen um mich herum laufen am ersten Kriegstag durch die Moskauer Straßen, als sei nichts geschehen, während nicht einmal 1000 Kilometer von ihnen entfernt die Welt zusammenbricht, in ihrem Namen. Die meisten von ihnen werden das auch noch tun, wenn der 136. Tag vergangen ist und der 257. und der 524. Sie werden tanzen und Feste feiern. Die Sommer genießen. Sie werden Rechtfertigungen dafür finden, Sätze, die keinen Widerspruch vertragen, sie werden sich herausreden, herauswinden und letztlich eine Handbewegung machen, als wollten sie eine Fliege wegscheuchen. „Ach, lassen Sie mich doch mit all diesem Negativen zufrieden, ich will einfach mein ruhiges Leben leben." Und sie leben ihr Leben, auch wenn es mitnichten ruhig ist. Ich will sie schütteln, sie anschreien und erschrecke ob meiner inneren Aggression. Die wackelnden Zehen in den Schuhen helfen nicht. Nichts hilft. Es sind körperliche Schmerzen, weil ein Land, mit dem ich mich tief verbunden fühle, ein anderes angegriffen hat, das meine Familie geprägt hat – und sich dabei selbst zerstört. Politisch, wirtschaftlich, gesellschaftlich. Auch moralisch.

    Putins Regime findet beschönigende Worte für seine als „militärische Spezialoperation verpackte Vernichtung der Ukraine, spricht von Zielen, die es auch Monate später nicht formulieren kann. Diese änderten sich je nach Lage, aber sie blieben dieselben, wird der Präsident im Sommer 2023 von sich geben und ganz rührselig erklären, wie sinnlos er es finde, wenn Wohnviertel bombardiert werden. „Einfach erstaunlich, wird er mit seinem bekannten Zynismus sagen, und wieder einmal die völlige Umkehrung der Tatsachen offenlegen. Die Filterblase des Kremls umfasst das ganze Land. Sie kann das, weil die Menschen von klein auf gelernt haben, dass Hinterfragen Gefahr bedeutet. Sie hinterfragen mit der Zeit nicht mehr und schwimmen mit der Masse mit. Oder sie hinterfragen und gehen zunächst unter: vor Gericht gezerrt, weggesperrt in der Strafkolonie, ins Exil getrieben. Über allen schwebt die Angst. Sie leben mit ihr und versuchen, jede und jeder auf ihre und seine Weise, mit ihr fertigzuwerden.

    „Wenn du bestehen willst im Leben, hatte Frieda einst gesagt, „musst du einfach die Klappe halten. Frieda hielt „die Klappe, Frieda nahm hin, sie unterwarf sich dem sowjetischen Regime und rettete sich und ihren Kindern das Leben, ohne die Frage danach zu stellen, was für ein Leben sie gern gelebt hätte. Sie nahm es, wie es kam, ertrug Hunger, Schmerzen und Deportationen, unterwarf sich der Gewalt und übte selbst Gewalt aus. Sie hielt das alles für richtig. Jahrzehnte später halten sehr viele Enkel des Sowjetregimes ebenfalls „die Klappe, weil sie gelernt haben, dass das ihr Leben rettet. Weil sie verlernt haben, menschlich zu sein.

    2Im Westen

    Keine Milch, kein Honig, kein Land

    – Ja, sagte sie.

    – Ja, sagte er.

    Vielleicht sagten die beiden – er 20, sie 26 und ein dreijähriges Kind zu Hause – auch Tak oder Da, die Bedeutung ist dieselbe. Sie waren durch dieses Wort verheiratet, mein Großvater Richard und seine erste Frau Julianne.

    Geblieben ist ein vergilbtes Stück Papier, das sich in einer Klarsichtfolie befindet, sauber abgeheftet in einem dunklen Aktenordner. Irgendwann einmal muss es ein ordentliches Dokument gewesen sein, an einem besonderen Tag überreicht, wohl einem kühlen Oktoberdonnerstag. Ich muss in einem Wörterbuch nachschauen, um mich zu vergewissern, zu welchem Zweck das Papier, das längst zu einem fast auseinanderfallenden Fetzen geworden ist, ausgeteilt worden war. Ob ich es richtig verstehe, dass vor mir eine ukrainische Heiratsurkunde liegt. Ausgestellt 1931. Zu Zeiten, als die Sowjetunion ihre Nationalitätenpolitik pflegte und das Ukrainische in der Ukraine förderte, egal ob die Menschen zu Hause Ukrainisch sprachen oder Russisch oder Deutsch, wie Richard und Julianne und ihre kleine Tochter Irma es taten, die Richard als sein Kind annahm. Später, während die Zeiten immer härter wurden und der Hunger immer größer, zeugte er mit Julianne noch sechs weitere Mädchen und Jungen.

    Oben in der Mitte prangt das Emblem der Ukrainischen Sowjetrepublik. Darunter sind Namen, die es so weder im Ukrainischen noch im Russischen und auch nicht im Deutschen gibt. Kyrillische und lateinische Buchstaben, hier ein paar zu viel, dort einige zu wenig. Es ist eine Mischung aus allem, wie auch die Geschichte der mit diesem Papier Vermählten eine Geschichte voller Brüche ist und voller politischer Willkür. Eine Geschichte kleiner Leute, die zum Material politischer Ambitionen gleich mehrerer Diktatoren wurden. „Diktator" gehörte nicht zum Wortschatz der Frischverheirateten. Sie arbeiteten auf dem Feld und pflegten ihre Kinder, wie es ihre Vorfahren bereits getan hatten, in einem kleinen Dorf, fernab der Politik, so hatten sie gedacht. Fern aber war die Politik nie.

    Richard und Julianne wurden im russischen Zarenreich geboren, in nicht weit voneinander entfernten Dörfern. Auch Frieda, die zu Richards späterer Frau werden sollte, kam in einer Siedlung zur Welt, wie es zu der Zeit so viele gab in Wolhynien, einer Region, die mit der Gründung der Sowjetunion zur „Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik" kam und heute zur Ukraine gehört, Gebiet Schytomyr. Ihre Vorfahren waren wohl Ende des 19. Jahrhunderts über Polen dorthin gezogen, auf der Suche nach einem besseren Leben, wie es bereits Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts Hunderttausende Bauern, Handwerker, Gläubige etwa aus Hessen, Württemberg, der Pfalz getan hatten, die sich im Russischen Reich ansiedelten. Sie hatten Ortschaften mit deutschen Namen gegründet, hatten Felder bestellt und Kinder großgezogen. Raus aus der Armut in Deutschland, vor sich den Traum von einem Land, in dem Milch und Honig fließen. Die Realität hatte weder Milch noch Honig zu bieten. Aber wer wusste das schon?

    Die russische Zarin Katharina, die als Prinzessin Sophie von Anhalt-Zerbst in Stettin zur Welt kommt, 1745 als 16-Jährige nach Moskau verheiratet wird und später als Katharina die Große in die Geschichte eingeht, ruft mit ihrem Manifest von 1763 ausländische Bürger in die unwirtlichen Gegenden ihres gerade für sich entdeckten Reiches. Die leibeigenen Bauern im zaristischen Russland reichen nicht aus, um die unbesiedelte Erde urbar zu machen, also lockt sie ausländische Siedler mit Privilegien. Sie verspricht ihnen Land, eine jahrzehntelange Steuerfreiheit, Kredite, die Befreiung vom Militärdienst und Selbstverwaltung ihrer Kolonien. Vor allem die nach dem Siebenjährigen Krieg schwer gebeutelte deutsche Bevölkerung wagt den beschwerlichen Weg ins Unbekannte, auch Franzosen und Schweizer kommen, auf dem strapaziösen Weg verlieren viele der Neusiedler ihr Leben. Katharinas Enkel, Zar Alexander I., fährt später mit dieser Anwerbepraxis fort.

    Die nach und nach ankommenden Kolonisten, all die Schmidts, die Wagners, die Peters, die Kaspers, die Glasers, die Zimmermanns, die Schwarz’, die Roths und die Brauns, siedeln sich an der Wolga an, auch auf der Krim, im Kaukasus, in der Steppe hinter dem Ural. Meine Vorfahren, die Hartwigs, die Sonnenbergs, die Besels, die Kellerts, folgen nicht Katharinas Versprechen, sie kommen erst später aus Kongresspolen, dem nach dem Wiener Kongress formal als „polnisch bezeichneten Gebiet, das jedoch unter der Kontrolle des russischen Zarenreiches stand, und lassen sich in Wolhynien nieder, im Nordwesten der Ukraine. Zu dem Zeitpunkt ist bereits ein kleines Deutschland im weiten russischen Reich entstanden, mit deutschen Kirchen, Schulen und Betrieben, nach all den Entbehrungen ein durchaus florierendes Unterfangen. Doch bereits 1871 schiebt das Zarenhaus dem Ganzen per Gesetz einen Riegel vor. Es ist vorbei mit der Selbstverwaltung. Russisch zieht als Pflichtsprache in die Schulen ein, die Befreiung vom Militärdienst fällt weg. Im Ersten Weltkrieg, in dem die russischen Deutschen loyal gegen Deutschland in den Kampf ziehen, wächst die Skepsis gegen sie. Der Vorwurf: Die Russlanddeutschen bildeten die fünfte Kolonne, sie kollaborierten mit den Deutschen aus Deutschland. Weg mit ihnen! Die zaristische Regierung greift zu Zwangsmaßnahmen, wie sie es auch bei anderen „politisch unzuverlässigen Elementen zu tun pflegt. Mehrere Hunderttausend Russlanddeutsche lässt der Zar nach Sibirien und ins heutige Baschkortostan deportieren, im Südosten Russlands. Einige Zehntausend Deutsche lässt Kaiser Wilhelm II. aus Russland „heim ins Reich" holen, eine Praxis, die sich später unter Hitler nochmals wiederholen sollte.

    Richard und Julianne lebten in Wolhynien ein Kinderleben, von

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