Marischa - Mehr als ein Wunder: Eine Überlebensgeschichte
Von Wallstein Verlag
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Über dieses E-Book
Als geliebtes Kind aufgewachsen in Lodz überlebt Maria König (1921-2019), genannt Marischa, als junge Frau das dortige Ghetto sowie mehrere Lager. Als sie in Theresienstadt befreit wird, ist ihre gesamte Familie ermordet. Mit ihrem Mann Adi, ebenfalls ein Holocaust-Überlebender, lässt sie sich schließlich als überzeugte Sozialistin in der DDR nieder und lebt dort ein langes und - wie sie sagt - glückliches Leben.
Als Antje Leetz sie dazu ermutigt, ihre Erinnerungen in ein Mikrofon zu sprechen, damit diese nicht verloren gehen, ist Maria König fast 100 Jahre alt und lebt im Altersheim. Die beiden kennen sich schon lang, sind vertraut miteinander. Und so ruft sich Marischa das Erlebte in Erinnerung - teils zum ersten Mal. Sie ringt um Worte und Gedanken, sucht nach lange verdrängten Bildern, die hochkommen, wieder abtauchen. Im Erzählen entfaltet sich ihre Überlebensgeschichte - voller Verlust und Schmerz, aber auch Dankbarkeit, Lebensfreude und Humor - und ein faszinierendes Zeitpanorama.
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Buchvorschau
Marischa - Mehr als ein Wunder - Wallstein Verlag
Vorbemerkung
Ich klopfe laut an die Zimmertür mit dem Schild »Maria König«. Marischa, wie ich Maria liebevoll nenne, ist fast taub und blind, und ich will sie nicht erschrecken, wenn ich plötzlich hereinplatze. Obwohl sie weiß, dass ich komme. Sie empfängt mich mit den Worten: »Komm rein, Kind, und setz dich!« Und schon sitzen wir nebeneinander auf dem kleinen roten Sofa, Marischa hält meine Hand und wir schauen auf die zwei mongolischen Aquarelle an der Wand, die sie besonders liebt und auf denen Kraniche und Kamele abgebildet sind.
Sie hat sofort zugestimmt, als ich sie fragte, ob sie mir ihr Leben ins Mikrofon erzählt. Und so kam es, dass ich seit dem Tod ihres Mannes Adam König, seitdem sie in einem Seniorenheim an der Frankfurter Allee lebte, bei meinen Besuchen manchmal mit dem Aufnahmegerät zu ihr kam. Bis zu ihrem Tod im Jahr 2019. Anfangs hatte Marischa Hemmungen, frei zu sprechen, aber dann nahm sie das Mikrofon gar nicht mehr wahr und vertraute sich mir an. Manchmal unter Tränen.
Wenn sie von ihrer Mutter Bella Wollenberg erzählt und vom Abschied in Auschwitz, weint Marischa. Ich bin erschrocken und will aufhören mit der quälenden Fragerei. Aber Marischa sagt, die Tränen seien heilsam. Im Alter habe sie keine seelische Kraft mehr, diese Bilder zu verdrängen. Sie träume fast jede Nacht davon. Da sei es gut, wenn sie jemanden habe, dem sie alles erzählen kann, eigentlich zum allerersten Mal in ihrem Leben.
Ich hatte früher nie den Mut, Marischa nach ihren schrecklichen Erlebnissen zu fragen. Sie musste über 90 Jahre alt werden und ich fast 70, bis ich mich traute. Wenn sie sich erholen will von ihren Erinnerungen und meinen Fragen, tritt sie auf den Balkon und freut sich, wenn die kleinen Spatzen die Krumen fressen, die sie ihnen hingelegt hat, und schimpft mit den gefräßigen Tauben, die den Kleinen alles wegnehmen. Sie blickt auf die Karl-Marx-Allee. Die ist ihr vertraut, weil sie fast 40 Jahre mit Adi in diesem Berliner Kiez gewohnt hat.
Marischa und Adi waren so etwas wie »ein Herz und eine Seele«. »Mein schönes Mädchen«, nannte Adi sie immer. Und als »schönes Mädchen« empfand auch ich sie, noch im hohen Alter. Ich hatte nie den Eindruck, einer über 90-Jährigen zu begegnen. Immer war sie elegant angezogen, obwohl sie kaum noch etwas sah. Das war wichtig für sie, für ihre Würde, auf die sie immer großen Wert legte. Als fast 100-Jährige hat sie ihr Bett immer allein gemacht und ohne fremde Hilfe geduscht.
Marischa war mir vertraut, seit ich denken konnte. Das erste Mal begegneten wir uns, als ich drei Jahre alt war. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, aber sie hat es mir oft erzählt. Es war 1949 in meiner Geburtsstadt Frankfurt am Main. Adi und sie kehrten gerade aus New York, wohin sie 1947 ausgewandert waren, nach Deutschland zurück und machten einen kurzen Zwischenstopp in Frankfurt, bevor sie, wohlüberlegt und ganz bewusst, in die DDR gingen, weil sie glaubten, das sei der fortschrittlichere deutsche Staat.
Nach Frankfurt war Marischa schon einmal gekommen. Als das Lager Theresienstadt, wo sie sich bei Kriegsende befand, von der Roten Armee befreit wurde, hörte sie, dass dort die Listen mit den Namen der Überlebenden ausliegen. Und so ging sie zu Fuß los. Aber als sie in Frankfurt ankam und nachschaute, fand sie niemanden. Da wollte es das Schicksal, dass sie Adi begegnete, der, gerade aus dem Lager Bergen-Belsen kommend, in Frankfurt ebenfalls nach Verwandten suchte. Diese zufällige Begegnung zweier Leidensgenossen war der Anfang einer großen Liebe, einer innigen Partnerschaft, die bis über Adis Tod hinausreichte. Wie oft mochte Marischa in ihrem Zimmer im Seniorenheim im Geist mit ihm gesprochen, sich mit ihm beraten haben?
Seit meiner Kindheit hat Marischa Licht in mein Leben gebracht. Ihre dunklen Augen strahlten so viel Wärme und Liebe aus, dass sich mein Herz öffnete. Ihre eigentümliche, nicht korrekte deutsche Sprache und der polnische Akzent faszinierten mich. Im Buch habe ich versucht, diese Eigenart zu erhalten.
Wie schön und herzlich und frei konnte Marischa lachen. Da blieb einem gar nichts anderes übrig, als mitzulachen. Diese Heiterkeit ist mir ein Rätsel gewesen. Woher nahm sie die Warmherzigkeit und Menschenfreundlichkeit nach allem, was ihr widerfahren war? Woher kam diese unverwüstliche seelische Energie?
Mir geht ein Bild nicht aus dem Kopf, wenn ich an Marischa denke: Im Nachkriegsfrühling 1945 waren im Hof der Humboldt-Universität in Berlin alle Bäume verkohlt. Mächtige Bäume standen da, tot und schwarz. Dann aber geschah ein Wunder: Aus den scheinbar toten, schwarzverbrannten Bäumen sprossen grüne Zweige. Offenbar kann mit einem Menschen ein ebensolches Wunder geschehen.
Als kleines Mädchen staunte ich über die tätowierte Nummer auf Adis Arm. Was das bedeutet, erklärte mir meine Mutter: Marischa und Adi seien Juden und deshalb während der Zeit des Faschismus im Ghetto und im Konzentrationslager gewesen. Dort hätten sie Schreckliches erlebt. Marischa sei die einzige Überlebende ihrer Familie.
Das alles konnte ich nur langsam begreifen. Aber auch meiner Familie hatte der Faschismus große Wunden zugefügt. Meine Großmutter habe ich nie kennengelernt, weil sie 1944 in Berlin-Plötzensee wegen »Hochverrats« hingerichtet wurde. Sie war aktiv im antifaschistischen Widerstand.
Diese menschlichen Tragödien haben unsere Familien über viele, viele Jahre und über mehrere Generationen hinweg fest miteinander verbunden, genauso wie der heiße Wunsch, dass die Menschheit aus der schrecklichen Zeit von Krieg und Faschismus lernt und es endlich schafft, eine bessere, eine friedliche Welt zu errichten. Dieser Wunsch prägte Marischas politische Orientierung – sie wurde überzeugte Sozialistin.
Es gibt vieles in Marischas Leben, worüber sie nicht sprach und wonach ich sie nicht fragte. Das haben wir beide nicht mehr geschafft. Zum Beispiel, dass sie Mitglied des Internationalen Auschwitz Komitees war. Auch über die Anerkennung nicht, die ihr als Lehrerin in der Leipziger Schule entgegengebracht wurde. Sie muss dort für die Kinder Großartiges geleistet haben. Das alte Foto aus dem Jahr 1966, auf dem sie bescheiden lächelnd im Hintergrund darauf wartet, einem ihrer Schüler die Jugendweihurkunde aushändigen zu können, hat mich sehr berührt.
Bei Marischas Erzählungen handelt es sich nicht um eine faktische Rekonstruktion, sondern um persönliche Erinnerungen, schmerzhafte wie freudvolle, die naturgemäß geprägt sind von ihrer subjektiven Sicht und Stimmung.
Seit dem Herbst 2018 erzählte sie mir immer häufiger von ihrem Wunsch, dass der Tod jetzt endlich kommen soll. Und dass es hoffentlich schnell geht. Sie wolle jetzt zu ihrer Mama.
Diesen Weg ist Marischa im Juli 2019 gegangen, kurz vor ihrem 98. Geburtstag.
Berlin, Frühjahr 2021
Antje Leetz
Editorische Notiz
Maria König erzählte mir von 2013 bis 2019 ihre Lebensgeschichte ins Mikrofon. Die dabei entstandenen Aufnahmen bilden die Grundlage des Textes, den ich für dieses Buch nur ganz vorsichtig redigiert habe, um seinen mündlichen Charakter zu wahren.
Marischa – mehr als ein Wunder
Mir ist neulich was Seltsames geschehen. Mein Sohn rief mich aufgeregt an: »Mutti, schalte schnell den Fernseher an. Eine Sendung über Yad Vashem.[1] Da verlesen sie die Listen der Juden aus Łodź, die umgekommen sind.« Und wie ich den Fernseher anstelle, da denke ich, ich kann meinen Ohren nicht trauen. Da höre ich die Namen: Jakob David Wollenberg, Bella Wollenberg, Alexander Wollenberg, Maria Wollenberg. Meine ganze Familie. Und ich mit. Da hat mein Sohn in Yad Vashem angerufen und protestiert: »Meine Mutter lebt doch noch!« Und da haben sie gesagt: »Aber sie hat sich bei uns nicht gemeldet.« Woher sollte ich wissen, dass man sich melden muss, wenn man überlebt hat? Aber dann habe ich zu meinem Sohn gesagt: »Eigentlich ist es richtig, dass ich auf dieser Liste neben meinem Vater, meiner Mutter und meinem Bruder stehe. Ich gehöre dorthin. Es war doch nur ein komischer Zufall, dass ich überlebt habe.«
Diese Fernsehsendung hat mich so erschüttert, dass alles wieder in mir hochgekommen ist. Wie ich mit Hilfe meiner lieben Mutter dem Tod im wahrsten Sinne des Wortes von der Schippe gesprungen bin. Mehrmals. Du bist die Erste, der ich davon so ausführlich erzähle. Mit fast hundert Jahren. Was vor dem Krieg und im Krieg war, habe ich all die Jahre in mein tiefstes Inneres verdrängt. Das war mein Schutz. Sonst hätte ich nicht in der Gegenwart leben können. Es ist eine Fügung des Schicksals, dass du zu mir kommst und mir zuhörst. Es wird nicht leicht sein, mich zu erinnern. Aber jetzt, kurz vor meinem Tod, reicht meine seelische Kraft nicht mehr aus, das alles zu verdrängen. Nicht, dass ich Mutter und Vater hatte und zwei Brüder, nicht, dass ich eigentlich auf die Liste der Vergasten gehöre und nur durch einen Zufall überlebte.
Sorge dich nicht, dass du es mir mit deinen Fragen noch schwerer machst. Weißt du, warum ich dir meine Geschichte erzählen möchte? Das ist ganz einfach ein Stückchen Selbsthilfe. Ich denke jetzt so viel darüber nach, weil ich Zeit habe. Und mit dir kann ich das ein kleines bisschen anders loswerden. Weil du mich anhörst, und das erleichtert es mir.
Ich habe das alles mit mir herumgeschleppt, und das hat mich manchmal sehr bedrückt. Wie jede traurige Geschichte. Adi verstand mich ohne Worte, weil er einen ähnlichen Leidensweg hatte. Wir haben nur selten darüber gesprochen. Die Vergangenheit zu verdrängen war einerseits für uns eine Rettung. Aber andererseits hatten wir wirklich gute Jahre. Ich hatte Familie, ich hatte einen Mann und ein Kind. Ich habe gearbeitet, und wir waren miteinander glücklich. Und da versuchte ich, das schwer zu Ertragende zu verdrängen.
Aber jetzt ist Adi nicht mehr da, es gibt niemanden mehr, der mich wortlos versteht. Und wenn man so alt ist, wie ich es heute bin, da denkt man über das Vergangene unendlich lange nach, weil man ein so langes Leben hinter sich gelassen hat. Und das Alter trägt dazu bei, dass man bei manchem Ereignis hängen bleibt oder vielleicht sogar zum ersten Mal richtig darüber nachdenkt. Jedenfalls mir geht es so, ich habe auf manche Periode meines Lebens früher anders gesehen. Besonders wenn es um die Zeit vor dem Krieg geht, als ich noch ein Kind war. Ich hatte Angst, mir diese Kindheit in Erinnerung zu rufen. Der Schmerz des Verlorenen war zu groß. Und der Schmerz, das noch einmal als mein Leben zu betrachten, das nun im Ganzen hinter mir liegt.
Kindheit in Łodź
Doch traurig fängt meine Geschichte gar nicht an. Hier ist ein schönes Foto von mir, siehst du. Da war ich 13 Jahre alt. Ich sitze auf dem Gras im Kreis der Kinder aus unserer Familie. Links von mir, das ist mein kleiner Cousin Stefan, das Mädchen mit der Schleife heißt Mirka, und ganz rechts von mir, nur halb zu sehen, das ist mein kleiner Bruder Alexander, der später im Ghetto verhungert ist. Ich weiß auch nicht, wie das Foto die Zeiten hat überstehen können. Es ist das einzige Bild, das mir von damals geblieben ist. Ein anderes kann ich dir nicht bieten. Das sind auch die einzigen Ferien, an die ich mich erinnern kann. Wir verbrachten sie in der Umgebung der Stadt, in einer sehr schönen Gegend an einem Fluss. Adi hat immer gesagt, ich strahle auf dem Foto was aus. Meinen kleinen Cousin neben mir, der mit den schwarzen Augen und den schwarzen Locken, der Stefan, den haben sie auch kassiert. Also in Auschwitz vergast. Mirka ist vor kurzem in Schweden gestorben. Wir waren gleichaltrig und haben viel Zeit miteinander verbracht. Ich war ein anderer Mensch damals. Wahrscheinlich war ich nach dem Krieg gänzlich anders als vor dem Krieg. Mein Vater hat früher immer gesagt: »Ich zeige ihr einen Finger, und da lacht sie schon!« Ich war so unbeschwert.
Ich bin in Polen geboren. Meine Heimatstadt ist Łodź, eine Industriestadt mit einer ziemlich großen Bevölkerung für diese Zeit. Ungefähr 600.000 Einwohner. Łodź wurde auch das polnische Manchester genannt, weil es viele Textilfabriken gab mit Färbereien usw. Wie ich mich erinnere, war das eine Stadt ohne Kanalisation, mit engen Straßen, mit vielen Schornsteinen, aber auch mit viel Leben, sowohl was die Kultur betrifft als eben auch die Industrie.
Wir waren zu Hause drei Kinder. Ich hatte zwei Brüder, einen älteren, den Joachim, Jaschek genannt, und den jüngeren, den Alexander. Eigentlich waren wir bis zum Krieg eine, ich würde sagen, ziemlich glückliche Familie. Wir gingen normal zur Schule, und die Eltern gaben sich Mühe, damit wir uns wohl fühlten. Sie hatten zwar einen ganzen Sack voller Sorgen, die aber zum Leben dazugehörten. Weil man jeden Monat Miete bezahlen musste und im Winter die Kohlen. Strom war auch nicht billig. Schon als Mädchen von acht Jahren wusste ich, dass das Leben nicht einfach ist, dass man jeden Tag überlegen muss, ob das Geld ausreicht. Aber wir haben immer gewusst, dass der Vater Arbeit hat und Geld nach Hause bringt. Und die Eltern versuchten, alles für die Familie zu geben.
Heutige Kinder können sich nicht vorstellen, dass man glücklich sein kann, auch wenn man nur sehr wenige Spielsachen hat. Spielsachen kannte man damals in Polen kaum. Jedenfalls nicht in meinen Kreisen. Ich erinnere mich, dass wir Bauklötze besaßen aus Holz, und an eine Puppe erinnere ich mich. Aber ich glaube nicht, dass die Familie irgendwie Geld dafür ausgegeben hatte. Doch vermisst habe ich das nicht. Und auch gar nicht gewusst, dass andere Kinder vielleicht mehr besaßen.
Wir wohnten in einem vierstöckigen Haus, in der dritten Etage. Hier wurde ich geboren. Gegenüber wohnte ebenfalls eine jüdische