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Europas Hunde
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eBook964 Seiten13 Stunden

Europas Hunde

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Über dieses E-Book

Verschrobene Gestalten bevölkern diesen »totalen Roman«: einsame Sucher, fiebrige Träumer, verkrachte Existenzen, geborene Eskapisten. Da ist Maŭčun, der Junge, der davon träumt mit seiner geliebten Gans gen Westen zu fliegen, bis ihm eine junge Spionin vom Himmel vor die Füße fällt. Der Tote im Berliner Rosengarten, dessen rätselhafte Spuren den Ermittler Teresius Skima durch ein Netzwerk von Buchhandlungen in ganz Europa zu einem abgeschotteten Superstaat führen. Oder Oleg Olegowitsch, ein Misanthrop aus Minsk, der den Sprachen abgeschworen hat und eine neue erfindet: Balbuta. Seine geheime Liebste, die er hegt und pflegt.

Sie alle graben, schürfen tief und träumen sich zugleich federleicht, entdecken Geschwister im Geiste, fallen aus der Zeit, überwinden Grenzen. Aber immer lauter bellen die Kettenhunde – in Berlin, Prag, Paris, Vilnius, Minsk…

Alhierd Bacharevičs großer europäischer Vorabend-Roman erspürte schon 2017, was uns hier erst allmählich zu dämmern beginnt. In Belarus ist der Roman inzwischen verboten.
SpracheDeutsch
HerausgeberVoland & Quist
Erscheinungsdatum19. Feb. 2024
ISBN9783863914103
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    Buchvorschau

    Europas Hunde - Alhierd Bacharevič

    WIR SIND LEICHT WIE PAPIER

    1.

    Wie sie mich anödet, eure belarussische Sprache, wer wüsste es zu sagen. Und wer wüsste zu sagen, mit welcher Wonne ich das schreibe. Öde. Öde.

    Verödung.

    Verblödung.

    Zuwider ist sie mir. Weg mit dir, Sprache, ksch. Jetzt ist Schluss mit lustig. Mit dir kann man nicht reich werden, nicht morden, nicht spielen, dich kann man nicht vergessen. Wie eine Fremde im Bahnhofsnebel, Entführerin kurz unbeaufsichtigter Kinder, bist du eines Tages aus dem Nichts aufgetaucht, hast mich an deiner Hand mitgenommen in die vollgerotzte Unterführung mit ihren trüben Glasvitrinen, verfrorenen Tauben und Losverkäufern – und ich wollte mich immer wieder umdrehen nach den Koffern, die da noch standen: grundsolide, zukunftsprall, herrenlos. Du hast mich getrennt von meinen Lieben, hast mich gezwungen, mir ein Volk einzubilden, durchsichtig, flüchtig, nichtig. Jahr um Jahr sind wir beide durch die Welt gezogen, haben genächtigt an schäbigen Stätten, in Fliegenmilchdörfern, Bibliotheken, verlassenen Schlössern, in halbseidenen Herbergen – wie es sich fügte; du hast mir chinesisches Billigspielzeug gekauft und mich genährt, bis ich groß war, du hast mich leise sprechen und schnell denken gelehrt, tagsüber ließest du mich auf den Straßen betteln, nachts aber verhießest du mir ein Königreich, und hierhin hast du mich schließlich gebracht –

    in diese räudige,

    gleichsam verräucherte

    Einraumbutze,

    in diesem Haus mit Gedenktafel,

    in der Stadt M.,

    in Zeiten allgemeiner Verdüsterung.

    Und euer Russisch hab ich auch so was von über. So was von. So satt, ich kann es gar nicht sagen. Wer hätte geahnt, welch schalen Geschmack es mir in den vergangenen vierzig Jahren anhängen würde. Was du auch sagst in dieser Sprache, alles war schon da, alles hallt nach in Tausenden blöden Echos und stinkt nach längst erkalteten Lettern. Fertigkonstruktionen, Bleiguss, ein Sprachrohr, quer durch unsere Leben verlegt. Immer wolltest du etwas von mir. Schon im Mutterleib, ich war noch nicht mal Mensch, nur so ein halb gewalkter Balg, da bist du mir auf die Pelle gerückt, hast mir Moralpredigten gehalten, mich mit deinen Mullbinden gewürgt, mit Angst infiziert. Eine Sprache, die immer wie mit Durchsuchungsbefehl daherkommt, eine Sprache, die immer recht hat. Weg, Russisch, ksch, blecherne Sprache der Wohnraumverwaltungskommissionen und Pagencorps, Sprache der großen, klebrigen Literatur, Stimme von Millionen kleiner, in ihrem Alltagszorn eifernder Menschen.

    Und Englisch? Geht mir nicht weniger auf den Geist. Was ihr Englisch nennt, ist nichts als ein geschwulstartig aufgedunsenes Gummiherz, das wie wild Milliarden Wörter in die Welt pumpt, ein totes Herz, bestrahlt von einer unbarmherzigen Lampe. Ein kaltes lumineszentes Leuchten. Eine Fast-Food-Sprache, überall Englischflecken, als wäre die Welt bloß ein Haufen Servietten auf irgendeinem Tisch. Englisch, eine Sprache aus Transfetten und Zusatzstoffen. O ja, sie versteht sich aufs Schmieren! Wer denkt nicht alles, er könne Englisch, und ist der Meinung, das reiche zum Glücklichsein. Naive Trottel. Was könnten wir einander nicht alles sagen, wenn wir bloß auf euer Inglisch verzichten würden, wenn wir dieser ekelerregenden Verständnisorgie ein für allemal unser Nein entgegenschmettern würden.

    Spanisch? Das asthmatische Röcheln eines Mörders, irgendeines braven Che-Monsters. Das Lachen eines Tierschlächter-Stierkämpfers. Deutsch? Ein bitterer Rettich, der sich einmal als Genie und Übermensch verstanden hat und sich jetzt krampfhaft abstrampelt, um wieder normal zu erscheinen. Französisch? Außen eine halb enthülste Schrift, innen unansehnlicher Philosophensprech. Polnisch? Der Dünkel zweitklassiger Dichter, die die Wörter schmatzen, schmurgeln und platzen lassen, wie die Würstchen in der Pfanne …

    »Jo-mojo, was schreiben Sie denn da immer noch?« Er blickt von seinem Telefon auf und knarrt unwirsch mit dem Stuhl.

    »Ich schreib«, versuche ich, mich wenig überzeugend zu rechtfertigen, und verdecke die grauen Bogen mit der Hand.

    »Ichschreibichschreib«, äfft er mich nach. »Schreibt er mir hier drei Seiten voll. Her damit.«

    Resolut reißt er mir die Blätter unter den Händen weg. Er verzieht das Gesicht, als würde er gleich anfangen zu weinen.

    »Was ist das? Was ist das, frag ich Sie? Ja, Heilandsack, was soll das jetzt sein? Was soll ich mit dem ganzen Kram, hm? Sind Sie taub? Oder krank im Kopf? Was hab ich denn gesagt? Schreiben Sie, unter welchen Umständen Sie Person xy kennengelernt haben … Und was schreiben Sie? Ksch, ksch, Würstchen, Balg … Mensch, ich versteh ja kein Wort, das kapiert doch keine Sau hier!«

    »Ich habe lange nicht von Hand geschrieben …«

    Brutal und mit Inbrunst zerknüllt er meine Blätter, und ich empfinde Mitleid für das Geschriebene. Mehr noch als für mich selbst. Ich mag Papier. Es beruhigt mich. Mir ist heiß, himmelangst und heiter zugleich. Er presst das Papier zu einer Kugel und wirft sie irgendwo hinter mich – ich fahre trotzdem zusammen und wende mich ab, als hätte er auf mein Gesicht gezielt.

    »Von Hand! Von Hand hat er nicht geschrieben, Himmelarsch! Hand oder Fuß, scheißegal! Thema verfehlt! Thema! Klar? Ich brauch Fakten. Und das hier ist Bockmist. Ich hab Ihnen doch auf gut Russisch gesagt …«

    Er greift sich mit beiden Händen an den Kopf und schließt die Augen. Der Mann des Staates leidet Höllenqualen meinetwegen. Der Mann des Staates ist verzweifelt. Der Mann des Staates schweigt. Der Mann des Staates straft mich mit der stickigen Luft seines Büros. Eine Minute vergeht, mag sein auch zwei, und ich kann langsam hören, wie dieses seltsame Gebäude lebt, das auf jeder Etage ein Dutzend Männer des Staates beherbergt. Im Nebenraum schallt nervöses Frauenlachen, irgendwo weit oben rauscht ein Hahn, springt eine Bohrmaschine an – wohl ein Verhörkünstler reinsten Leitungswassers, der sein Gegenüber mit Blicken durchbohrt. Wenn ich jetzt leise aufstünde und in den Korridor entschlüpfte, mein Mann des Staates würde wohl gar nichts mitbekommen. Aber plötzlich gluckert es in seinem Bauch. Und sofort ist er mir sympathisch – als ob da unter seinem Jackett noch ein anderer sitzt, klein, nicht staatlich, ein ganz normaler Mann, ein Mensch mit all seinen Marotten und Macken, Pickeln und Pusteln, Ecken und Kanten.

    Vielleicht hat er sogar ein Kätzchen.

    Und das Kätzchen einen Ball.

    Einen Moment lang glaube ich tatsächlich, dass sich alles ganz einfach auflösen ließe: Ich geh jetzt hier leise raus und sage zu niemandem ein Wort, und er schlägt die Augen wieder auf, streicht mich lächelnd aus seinen Protokollen hier, geht in die Kantine, schaut auf sein Telefon, als wäre nichts gewesen, und vergisst mich, und ich vergesse ihn, und wir begegnen uns nie wieder.

    Und kaum beginne ich daran zu glauben, dass das möglich sein könnte, da verstummt sein Innenleben, er kommt wieder zu sich und heftet seinen zornigen Blick auf mich.

    »Hören Sie mir mal gut zu, Oleg Olegowitsch. Ich werde das nicht wiederholen. Ein Mensch ist zu Tode gekommen, das ist kein Kinderkram. Uns ist bekannt, dass Sie mit diesem Fall unmittelbar zu tun haben. Deshalb habe ich auch zu Ihnen gesagt: ›Nehmen Sie ein Papier und schreiben Sie, klar und deutlich, wann und unter welchen Umständen Sie …‹«

    Er wühlt in seinen Papieren.

    »… hier: ›Koslowitsch Denis, Bundas Stanislaw, Kaschkan Natalja kennengelernt haben.‹ Verstehen Sie, wovon ich rede? Oleg Olegowitsch? Muss ich Ihnen auf die Sprünge helfen, hm? Was genau passiert ist? Muss ich das, hm?«

    Ich antworte nicht. Diese Namen sagen mir wirklich nichts. Sie sind fremd. So habe ich sie nie genannt.

    »Gut, dann wollen wir mal …« Er tastet nach einer unheilvollen Akte. »Hier: Koslowitsch Denis Walerjewitsch, Sie kennen ihn ja, nicht? Hier, auf dem Foto, ist er nicht so gut beieinander, aber noch zu erkennen. Schauen Sie sich gerne Leichen an, hm, Oleg Olegowitsch? Und Bücher lesen Sie auch gerne … Doch, doch, das weiß ich. Und hier haben wir Wort und Mord an einem Ort.«

    Ich wende mich ab. Er ist zufrieden, denkt, gleich hat er mich so weit. Noch ein bisschen Druck, dann läuft der Saft aus mir raus. Aus den Augen, aus den Fingern, aufs Papier, auf sein Gesicht weint der saure Saft der Schuld, den er, der Winzer, zum kostbaren Trank veredelt – und die Gerechtigkeit nimmt Platz an der üppigen Tafel und schmaust und schlemmt, und wir mögen die Gerechtigkeit ja alle so gern. Aus dem Augenwinkel habe ich das Foto natürlich gesehen. Ich konnte gar nicht anders, ein Mensch des Informationszeitalters wie er, keine Abkehr ohne Rückkehr, es gibt keine überflüssigen Bilder, Buchstaben und Laute mehr, keine fremden Taten und Geheimnisse, überall müssen wir unsere Nase hineinstecken, sonst finden wir nicht in den Schlaf. Den lieben langen Tag sind wir nur am Lesen. Deshalb hatte ich heimlich einen Blick auf das Foto geworfen, und er hatte den Blick bemerkt, musste ihn bemerkt haben.

    Der schalkäugige, großmächtige Mann des Staates verfolgt meine Reaktion genau. Er kann ja nicht wissen, dass ich Eidetiker bin, dass mir ein kurzer Blick auf etwas genügt, dieses Etwas in mein Bewusstsein springen und dort auf ewig verankert sein zu lassen. Natürlich ist es besser, wenn dieses Etwas Buchstaben auf Papier oder einem Bildschirm sind und kein nackter junger Bursche, den ich erst kürzlich mit nicht existierenden Schätzen zu verführen suchte. Koźlik, Koźlik, was hast du nur angerichtet. Können wir uns wenigstens jetzt noch darauf verständigen, dass das alles nur ein Spiel war? Steh auf, lösche dich von diesem Asphalt, von dieser Aufnahme, aus meinem Gedächtnis, einigen wir uns darauf, einander nie gekannt zu haben. Dann verschwindet auch der auf der anderen Seite des Tisches. Löst sich in Luft auf, der gestrenge Mann des Staates – und wir gehen alle nach Hause. Können wir nicht einfach alle nach Hause gehen?

    »Ich mache mir natürlich nichts aus Fremdsprachen«, sagt er nachdenklich und schiebt das Foto zurück in die Akte. »Aber sogar ich kann klipp und klar sagen: Was da auf seiner Haut geschrieben steht, ist nicht Russisch. Eingeritzt mit einem Messer. Das Messer haben wir gefunden. Aber der Text da … Verstehst du nur Bahnhof. Das ist kein Englisch, kein Deutsch, kein Französisch. Wir zeigen das Leuten vom Fach, logisch, aber dechiffrieren konnten wir es noch nicht. Sehen Sie, Oleg Olegowitsch, ich spreche ganz offen zu Ihnen. Und Sie?«

    Und noch ein Blatt Papier. Es legt sich ganz akkurat vor mich hin, als hätte ich einen Vertrag zu unterzeichnen und als hinge es allein von meinem Federstrich ab, ob wir beide davon profitieren, wir und unser seltsames Unternehmen, das bislang konkurrenzlos ist.

    »Interessant, nicht?« Wieder heftet er seinen Blick auf mich. »Ich habe es selbst abgeschrieben. Von Hand. Direkt von der Haut dieses Koslowitsch. Und ich will mich nicht beklagen. Vielleicht erklären Sie mir, was das ist? Helfen Sie uns? Was steht da? Sie sind doch ein gebildeter Mann, beherrschen viele Sprachen. Ist doch so?«

    »Wer hier wen beherrscht, wäre noch zu klären …«

    »Was brummeln Sie da? Wieso denn verhören? Wir unterhalten uns einfach. Hier, viel Vergnügen.«

    Was ich da sehe, jagt mir einen Schauer über den Rücken. Er beugt sich ungeduldig über den Tisch, sieht bald den kurzen Text an, bald mich. Sicher, ich weiß, was da auf diesem Blatt steht. Balbuta ist im Grunde ganz einfach – man braucht nicht viel Fantasie, muss nur ein klein wenig Dichter sein. Und sollte natürlich die Wurzeln behandelt haben, aber das ist schnell getan. Wurzelbehandlung – klingt wie beim Zahnarzt. Zweiunddreißig Zähne, hundertdreißig Wörter. Der Neandertaler hatte vierundvierzig Zähne.

    »So viel wie Charms Zeisige hatte«, sage ich.

    »Was sagen Sie da?«

    »Nichts, nur so.«

    Zahlen, Zahlen, Zahlen. Zahlen gegen Wörter. Ich habe das alles durchdacht. Wurzelgeflecht versus Strafrecht.

    Ich würde zu gerne schreiben. Alles erklären, meine Unschuld beweisen. Es jemandem erzählen, aber richtig, ganz von vorn. Sonst kapiert das ja keiner. Und dieser Rohling hat mir das Papier weggenommen.

    Ich wende mich nicht mehr ab. Stumpf starre ich auf den mir untergeschobenen Text. Auf Papier wirken die Wörter solide. Als hätte nicht ich sie erdacht. Als hätte ich nichts mit der Sache zu tun. Lächerlich wird das, falls sie die Wahrheit rauskriegen. Die Abschrift ist natürlich Pfusch, fehlerhaft – aber vielleicht war auch das Original so, Koźlik hat gerne mal Buchstaben ausgelassen, die jungen Leute leiden alle an Dysgrafie, sind überhaupt alles Dyslektiker heutzutage, und schuld ist nur das weltumspannende Netz, das Netz hat die Rechtschreibregeln außer Kraft gesetzt, hat Orthografie und Ethik gleichermaßen aus dem Verzeichnis der Fähigkeiten und Fertigkeiten gestrichen. Und die Empathie.

    Was hast du da mit mir gespielt, Koźlik?

    »Was denn für Sprachen?« Ich versuche, mich zusammenzureißen. »Da verwechseln Sie mich, in bin kein Polyglott.«

    Er glaubt mir nicht. »Ach was? Hat man mir aber gesagt.«

    Ich habe ganz vergessen, dass es neben Koźlik noch andere gab. Kaštanka, Bunja. Haben die etwa auch so dagesessen, in diesem stickigen Büro, sich abgewandt und so getan, als hätten sie nichts mit der Sache zu tun, die sich erdreistet hat, einfach zu passieren?

    »Na ja, vielleicht … Nein, ich weiß nicht. Es hat schon eine Ähnlichkeit, aber womit? Nein, kann ich nicht sagen. Baskisch vielleicht. Aber das beherrsche ich nicht. Ich habe nur gehört, das soll eine sehr schwierige Sprache sein. Ich weiß nicht. Und überhaupt hatte ich in der Schule nur Deutsch!«

    Der letzte Satz hat beinah hysterisch geklungen. Und doch empfinde ich einen gewissen Stolz. Weil es richtig ernst ist. Endlich nimmt jemand mich und mein Werk ernst. Und wenn es nur ein kleiner Mensch in einem stickigen Büro ist.

    Aber da fängt er plötzlich an, laut vorzulesen, was auf dem Blatt geschrieben steht, mit seiner hölzernen Stimme, setzt die Betonungen, als wollte er mich beleidigen, liest, als risse er einem schutzlosen Wesen brutal die Kleider vom Leib, und der Leib dieses Wesens tritt allmählich aus dem Dunkel seiner Idiotie hervor, kaum zu erkennen, aber doch noch lebendig. Und er quält ihn, geißelt ihn mit seiner Schandzunge, zerreißt Wort um Wort. Und grinst mich hämisch an dabei. Der Mann des Staates grinst mich an, als läse er von den Zornesfalten auf meiner Stirn und nicht von dem grauen Blatt Papier. Die verstümmelten Worte dröhnen mir in den Ohren. Die Notiz, die Koźlik hinterlassen hat, ist gar nicht lang, aber dieser uninspirierte Vortrag macht mich gleich wahnsinnig.

    »Das muss man ganz anders lesen, melodiös, weich, das ist doch Musik, man muss gar nicht die Bedeutung der Wörter kennen, um sie richtig auszusprechen, Sie haben ja überhaupt kein Gespür!«, würde ich ihm am liebsten ins Gesicht schleudern.

    Aber ich kann mich beherrschen.

    Mit zusammengekniffenen Augen sieht mich der Mann des Staates lange an, dann schiebt er alles zurück in die Akte.

    »Sie wollen uns nicht helfen, Oleg Olegowitsch. Aber Sie werden müssen. Es gibt Zeugen. Die nach eigenen Angaben mehrfach … Kurzum, die Sie gesehen haben mit Koslowitsch, Kaschkan und diesem, wie heißt er gleich … Bundas Stanislaw. Es gab da eine Verbindung. Eine starke Verbindung.«

    »Nichts weiter. Bekannte eben.«

    »Bekannte … Na sicher. Allzu bekannte. Sie wurden häufig zusammen beobachtet. An den unterschiedlichsten Orten. Und dann … Dann sind diese drei auch mehrfach bei Ihnen zu Hause gewesen. Beziehungsweise in der widerrechtlich von Ihnen angemieteten Räumlichkeit. Was haben Sie dort getrieben?«

    »Nichts. Sprachen gelernt.«

    »Und da sagen Sie, kein Polyglott, bloß Deutsch … Was lügen Sie denn ständig, hm? Ich habe Sie doch längst durchschaut. Was für Sprachen?«

    »Verschiedene …«

    »Welche?«

    »Nicht so wichtig.«

    »Sie haben sich also zusammengesetzt und gelernt? Und weiter nichts? Weiter haben Sie nichts getrieben? Vielleicht haben Sie ja mit fremden Zungen noch andere Dinge angestellt? Hm?«

    »Nein. Wir haben geredet, nichts weiter.«

    »In welcher Sprache?«

    »Einer, die es nicht gibt.«

    »Aber Sie haben sie gesprochen?«

    »Ja.«

    »Also gibt es sie?«

    »Nein. Das heißt, ja, schon, aber … Niemand weiß davon.«

    »Also gibt es sie jetzt? Ja oder nein?«

    »Nein.«

    »Klar. Wunderbar. Ich frage mich wirklich, weshalb ich Sie so auf dem Kieker habe. Ist doch alles prima. Ich bin einfach zu argwöhnisch. Und Sie sind ein Unschuldslamm und Opfer des Polizeistaats. Ein vierzigjähriger Junggeselle lädt zwei junge Burschen und eine Minderjährige zu sich nach Hause ein, redet mit ihnen in einer Sprache, die es verdammt noch mal nicht gibt, und dann ritzt sich einer der Burschen mit dem Messer irgendwelche Wörter in die Haut und stürzt sich nackt aus dem Fenster. Großartig. Keine weiteren Fragen. Kein Kriminalfall. Eine ganz normale Geschichte, weiteres Nachdenken überflüssig. Alles so simpel wie das Muhen einer Kuh. Wahrscheinlich sollte ich mich bei Ihnen entschuldigen und Sie gehen lassen, wohin es Ihnen beliebt. Dass Sie bei sich zu Hause weiter Sprachen sprechen können, die es gar nicht gibt, sich die nächste Charge Minderjähriger ranholen und sie lehren können, mit dem Messer auf der Haut zu schreiben. Von Hand.«

    »Das habe ich nicht gelehrt … mit dem Messer. Sehen Sie … Wir haben geredet. Es ist eine Kunstsprache. Ich habe sie erfunden.«

    »Weshalb?«

    Ich wende den Blick ab. Ich bin hilflos wie ein Kind. Dieses Tempo macht mir Angst, da fühlen sich meine Hände an wie aus Papier. Deshalb fällt mir auch nichts Besseres ein, als mit einem schmierigen Lächeln zu fragen: »Wie meinen Sie das?«

    »Ich habe gefragt: ›Weshalb?‹«

    Auf diese Frage war ich wirklich nicht vorbereitet. Wahrscheinlich bin ich sogar erbleicht. Mit finsterer Miene, die Brauen verständnislos vorgeschoben, sieht er mich an, als hätte er mich eben der Lüge überführt. Ich befürchte schon, dass ich ihm jetzt eine Vorlesung über Esperanto und andere Conlangs halten muss, ihm erzählen, dass ich nicht der einzige Perverse weltweit bin, der sich für Kunstsprachen interessiert. Und beiläufig erwähnen, dass der Ausdruck »Kunstsprache« im vorliegenden Fall terminologisch nicht korrekt ist, constructed languages müsste es heißen. Künstlichkeit ist der Totzustand, die Illusion. Aber wir waren vier lebendige Sprecher, ohne jegliche Illusionen. Irgendwie sollte sein formaljuristischer, bürokratiegeiler Kleinverstand doch in der Lage sein, das zu begreifen, sein herrschaftlicher Schrumpfgrips, sein Kleinsthirn, in dem für Fantasie und Schönheit kein Platz ist. Aber irgendwelche Bücher wird er doch gelesen haben. Er hat doch ein Kätzchen zu Hause! Und das Kätzchen einen Ball! Er ist ja nicht doof. Simpel wie das Muhen einer Kuh – das kriegt nicht jeder in diesem hohen Haus so formuliert. Nein, ich empfinde keinen Hass gegen ihn. Gerade haben wir miteinander geredet, mit Müh und Not zwar, aber es war ein Gespräch, und wo immer es uns hinführen mag, ich habe versucht, ihn zu verstehen – und er mich. Und dann auf einmal dieses unerbittliche, unpassende, ärgerliche »Weshalb?«.

    Ja, weshalb eigentlich? Menschen erfinden Conlangs, um andere Menschen glücklich zu machen. Um Menschen die Chance auf Verständigung zu geben. Oder um sich an Gott zu rächen. Oder als intellektuelle Spielerei, um ein künstlerisches Problem zu lösen, als Denksportaufgabe. Abends leere Kästchen füllen, bis alles aufgeht und man in Ruhe Tee trinken und über das Ewige nachsinnen kann. Darüber, womit man Geld verdient und am Leben bleibt. Und dann erschaffen Menschen noch Sprachen, weil sie wissen wollen, was drin ist in ihnen, den Sprachen.

    Aber weshalb musste ich das tun?

    »Geben Sie mir Papier«, bitte ich ihn mit bebender Stimme. »Bitte. Ich habe Angst zu sprechen, ich muss schreiben.«

    »Nein.« Er schüttelt den Kopf. »Sonst fangen Sie wieder mit Ihren Würstchen an, mit den Zukunftskoffern. Wir machen das folgendermaßen: Es gibt da noch einen Raum … Der steht gerade leer. Frisch renoviert. Ich gebe Ihnen ein Diktiergerät und schließe Sie da für ein, zwei Stündchen ein. Und Sie setzen sich hin und erzählen. Alles, wie es ist. Stellen Sie sich vor, Sie würden schreiben. Und dann reden Sie. Ohne dabei zu vergessen, dass Sie die Aufgabe haben, alle meine Fragen zu beantworten. Dann hängt alles nur noch von Ihnen ab. Und keine Schöngeisterei, haben wir uns verstanden?«

    Ich nicke. Eine interessante Wendung. Kaum spricht er so geschäftsmäßig und unaufgeregt, schon ist er mir ganz nah. Ich würde ihm am liebsten die Hand drücken oder ihn sogar umarmen.

    Mein Leben lang träume ich davon zu sprechen, als schriebe ich. Ich habe gehört, für diese Verrichtungen seien unterschiedliche Gehirnhälften verantwortlich. Das Problem ist nur, dass mir alles Gehörte immer verlogen vorkommt. Ich weiß, dass das Unmögliche möglich ist. Sonst bräuchte man ja gar nicht zu leben.

    Er bringt mich in den leeren Raum, in dem es nichts gibt außer Tisch und Stuhl, und schaltet das Gerät an.

    Ich nenne meinen Namen und entsinne mich mühsam, welches Datum heute ist.

    »Keine Belletristik! Nur Fakten, Namen und Zahlen«, erinnert er mich noch einmal streng, bevor er die Tür zuzieht.

    »Ja, ja, sicher, verstanden«, antworte ich und wedle eifrig mit den Armen. Ich will, dass er möglichst schnell verschwindet.

    Ein Schlüssel dreht sich im Schloss. Durch ein vergittertes Fenster schaut die Sonne herein und breitet ihr chinesisches Spielbrett auf dem Tisch aus. Jetzt bin ich allein, sitze da und weiß nicht, wo anfangen. Das Gerät auf dem Tisch zeichnet meinen Atem auf, meinen Herzschlag, die fernen Geräusche von Bohrern und Hähnen, Fingertrommeln. Minutenlang starre ich es schweigend an, und irgendwann kommt es mir vor, als hätte ich bereits alles gesagt. Die ganze Geschichte ist schon da, in diesem Teufelskästchen. Draußen rüttelt jemand an der Klinke und stapft verärgert durch den Korridor davon. Ich rücke den Stuhl näher an den Tisch, das Atmen fällt mir immer schwerer, ich bekomme kein Wort mehr heraus. Da bemerke ich ein Fädchen. Sein Ende lugt aus der leicht geöffneten Schublade des leeren Tisches. Gott allein weiß, wie es hierhergeraten ist, das blaue Fädchen, das sich an einem Nagel in der Holzschublade verhakt hat. Behutsam, damit das unscheinbare blaue Schwänzchen nicht abreißt, befreie ich es, ziehe es ab und wickle es mir um den Zeigefinger. Dann wickle ich es wieder ab. Und wieder auf. Es ist so lang wie meine Hand.

    Das Spiel fesselt mich. Ich denke nun nicht mehr an Wörter. Ich spiele mit meinem Fadenfreund, und ein anderer, der uns nicht länger zusehen möchte, räuspert sich und beginnt zu sprechen. Ich höre seinem Gerede nur mit halbem Ohr zu. Manchmal würde ich ihm am liebsten ins Wort fallen und ihn korrigieren, aber das Fädchen ist wichtiger. Überhaupt schlägt dieser andere von Beginn an den falschen Ton an, vergreift sich in der Wortwahl, manchmal lügt er schamlos und gibt sich viel klüger, als er ist. Wenn man ihm zuhört, ist alles ganz einfach. Wie in Büchern. Aber ich will ihn ausreden lassen.

    Einfach zuhören, was er so redet … Nur Stümper fangen Erzählungen mit einem Kaffee an. Kaffee … Nach dem Motto: Schaut her, was ich für ein Bohemien, Romantiker und Europäer bin, was für eine koffeinhaltige, aromatische harte Nuss, nie ohne meinen Kaffee, ohne Kaffee bin ich ein Krüppel, kein Anfang und kein Ende. Kaffee …

    Aber wenn ich ehrlich bin, ist es genau so gewesen.

    2.

    Irgendwann habe ich mir einen Kaffee aufgebrüht, mich an den Tisch gesetzt und mir meine Sprache ausgedacht.

    Nachdem ich sie mir ausgedacht hatte, lehnte ich mich auf meinem Stuhl zurück und sah mich in aller Ruhe um.

    Im Aschenbecher kauerten fünf Stummel. Die namenlose Blume auf dem Fensterbrett sinnierte über Blut und Boden. In meinem stillen, langweiligen Hof war es schon dunkel, im Haus gegenüber hatten sie längst Licht gemacht und die Gardinen vorgezogen. Wie in der Umkleidekabine. Nackte Menschen hinter den Vorhängen probierten einander an: Drückt es? Zwickt? Passt … »Langt für auf dem Land«, wie meine urbanen Eltern zu sagen pflegten.

    Das Notebook schickte ein leises Schnurren in die Stille der Wohnung und erleuchtete mein Gesicht.

    Das graue Gesicht eines Menschen, der sich eine Sprache ausgedacht hatte.

    Für einen Augenblick konnte ich mich selbst von außen betrachten: Ich sitze an einem Feuer, Wald ringsum, kenne nur drei Wörter, und das genügt mir.

    In diesen Momenten, vor dem laufenden Notebook in der dunklen Wohnung beim Blick aus dem Fenster, kann es dir vorkommen, als wäre die ganze Welt von dir erdacht. Als wärst du es gewesen, der eben auf seiner Tastatur diese sonderbare Welt erschaffen hat, die nun ein Eigenleben führt. Ein gefährliches Gefühl. Und wie schmerzhaft dann die Einsicht, dass von dir überhaupt keine Rede sein kann. Wie auch, da war ja wirklich weit und breit nichts, wozu ich beigetragen hätte. Alles, vom Dach über meinem Kopf bis zum kümmerlichsten Mikrochip, von den Straßenlaternen bis zum Rädchen im Feuerzeug, hatten andere erdacht, gefertigt, erbaut, bemalt und benannt. Und die Menschen hinter den Gardinen machten keinerlei Anstalten, sich hinter mir zu versammeln. Ich hatte keine Ahnung, was in ihnen vorging. So wenig wie sie von mir. Das Einzige, worüber ich normalerweise verfügen konnte, war die Zeit. Leere Kästchen, in die ich mich einschreiben musste. Die Kästchen waren knapp, und man selber war reichlich. Da halfen nur Tricks und Kniffe. Eine Quälerei für alle Beteiligten.

    Doch diesmal war es anders gekommen.

    Seit ich mich mit meinem Becher Kaffee an den Tisch gesetzt hatte, waren zwei Stunden vergangen. Von den Lichtverhältnissen abgesehen hatte sich scheinbar nichts verändert. Ich war noch der Alte. Und auch die Welt war noch dieselbe wie zwei Stunden zuvor. Unverändert und doch gänzlich anders. Da draußen liefen Menschen herum, und sie alle bedienten sich einer fremden Sprache, ich aber hatte meine eigene. Für sich genommen veränderte dieser Umstand noch nichts, und doch erfüllte er mich mit einer seltsamen Freude. Als hätte man mich eines Verbrechens für schuldig befunden, für das ich niemals den nötigen Mut aufgebracht hätte.

    Ich war erschöpft. Die erhabene Erschöpfung des Schöpfers, die heitere Erschöpfung des Kreativen. Da plötzlich bemerkte ich, wie hungrig ich war, ich ging in die Küche, schaltete überall Licht an, holte einen Zipfel Wurst aus dem Kühlschrank, kaute begierig drauflos und trank Wein direkt aus dem Pappkarton hinterher. Nebenan bellte ein Hund, Schlüssel klimperten, dem Fernseher wurde der Knebel abgenommen, und er legte sofort ein umfassendes Geständnis ab. Ich drückte den Schalter am Wasserkocher, der alte, schwarze sowjetische Zähler neben der Tür begann zu schnurren, drehte sich wie eine Schallplatte, die gleich einen Marsch, einen Jazz-Song, einen Walzer zum Besten geben würde. Etwas, das längst aus der Mode gekommen war. Da überfiel mich die Angst, die Datei könnte verschwunden sein – ich stürzte zurück zum Tisch und sah nach: Sie war noch da, meine ausgedachte Sprache leuchtete mir ins Gesicht wie der Vollmond. Ich kopierte die Datei behutsam auf einen Stick und versteckte ihn an einem sicheren Ort. Dann schaltete ich das Notebook aus, öffnete das Fenster und warf die Stummel hinaus. Vieračka würde bald kommen. Aber weder sie noch die Nachbarn noch irgendwer sonst auf dieser Welt sollte erfahren, dass ich mir an diesem Abend einen Kaffee aufgebrüht, mich an den Tisch gesetzt und …

    Ich nannte sie Balbuta. Gott allein wusste, warum.

    Und dieser Gott war ich.

    Schon als Kind hatte ich mich für konstruierte Sprachen begeistert.

    Ich weiß noch, wie wir Papierfiguren ausgeschnitten, sie angemalt und dann auf dem Fußboden Staaten gespielt haben: Wir haben Kriege geführt, Frieden geschlossen, Handel getrieben, uns neue Ländereien zugelegt – Teppichsibirien, Sofagebirgszüge und andere koloniale Besitztümer. Es ging darum, sich eine möglichst große Bevölkerung zu besorgen. Unter unseren Scheren rieselten Soldaten zu Boden, Bauern, Beamte, Priester, See- und Kaufleute. Soldaten machten wir natürlich am liebsten. Wir erfanden Uniformen und Waffen für sie, Orden, Ränge und für die größten Heroen sogar Charaktere. Ich hatte das Spiel erfunden und meine Freunde sofort angefixt, stundenlang konnten wir auf dem Boden herumkrabbeln, unsere Armeen und Bevölkerungen verschieben, Städte errichten und uns pausenlos beschießen und bekriegen: tam, tam, tadam. Tausende Figuren standen unter unserem Kommando. Wir waren zwölf, dreizehn Jahre alt, das Zeitalter der Computerspiele war noch nicht angebrochen, aber unser Spiel begeisterte uns auf eine Art und Weise, wie es die heutigen Baller-, Arcade- und Strategiespiele nicht vermögen. Wir spielten nach der Schule bei mir zu Hause, und unsere Welt musste wieder abgebaut sein, bevor meine Eltern von der Arbeit kamen, sonst musste alles hastig unter den Füßen der Erwachsenen zusammengerollt werden, und man vergaß in der Eile, welche Grenzen gerade in der Welt gezogen worden waren. Manchmal kamen die Erwachsenen früher und erwischten uns mitten in unserer kollektiven geistigen Umnachtung. Anfangs achteten sie nicht weiter darauf, was sich da vor ihren Füßen abspielte, aber mit der Zeit wurden sie hellhörig. Offenbar gab es uns unbekannte Elterngespräche, bei denen sie diskutierten, was mit uns verkehrt war.

    Eines Tages hielt uns der Vater eines Freundes an, als er uns zufällig auf der Straße begegnete (wir waren gerade unterwegs zu mir und hatten die Taschen voller Figuren), und sagte mit wohlmeinendem Feuer im Blick, wobei er ausgerechnet mir in die Augen sah und mich am Oberarm gepackt hielt: »Hör mal, ihr seid doch kernige Jungs! Wieso macht ihr diesen Quark? Ihr könntet schon mit den Weibern knutschen … Oder besauft euch mal. Oder, was weiß ich, haut euch die Schädel ein. Was kriecht ihr am Boden rum wie die Kleinkinder?«

    »Verzieh dich, Papa«, knurrte mein Kumpel.

    Wir standen rum, grinsten schüchtern und wussten nicht, was wir sagen sollten. Er war der Papa. Befugt, zu strafen oder zu begnadigen, Pfützen statt Augen, Proletarierfäuste, Penis, Pesthauch, Prinzipien. Und wir waren Niemande, Pubertierende mit Papierfiguren in den Taschen unserer Schuljacketts.

    »Du verbietest deinem Vater nicht den Mund! Wenn du weiter mit dem rumkriechst, wird aus dir kein Kerl, sondern ein Pappschwanz!«

    Er drückte meinen Arm noch fester. Er hatte getrunken. Er fand, meine Eltern fassten mich nicht hart genug an. Aber was konnte er tun? Höchstens mich loslassen, seinem Sohn in die Tasche fahren und das ganze Volk, Soldaten, Wandermönche, Heerführer, Kaufleute, Schmiede, aus ihm herausschütteln, direkt auf den Asphalt, auf den kürzlich jemand den frischen, stinkenden Frühling gekotzt hatte, jemand Großes, der jetzt im Himmel schwamm und dem wir nun seit dreizehn Jahren vor den Füßen herumstolperten.

    Er trampelte auf den Figuren herum, trat sie in die Lache, dieser allmächtige Vater, ein wahrer Gott, nicht aus Papier; auf dem Asphalt lag nun ein schmutziger Brei aus den Fantasien seines Sohnes, und es wäre sein gutes Recht gewesen, seinen Sprössling jetzt auf die Knie zu zwingen, damit er das aufleckte. Ich starrte diesen Vater an wie hypnotisiert. Diese Macht begeisterte mich. Er bemerkte meinen Blick, spuckte aus und ging.

    Nüchtern fürchtete er mich. Und er nannte mich hinter meinem Rücken »dieser Kranke«. Mit Respekt und Verachtung zugleich, auch so was gibt es. Wir wohnten in einer Neubausiedlung am Stadtrand, hier kannte jeder jeden, hier war es schwierig, Geheimnisse zu haben. Er hatte Angst, ich könnte seinen Sohn mit meiner »Krankheit« anstecken, mit meiner Pappschwänzigkeit, meiner Papierkriecherei, meiner abnormalen Bücherliebe.

    Wie gesagt, die Idee zu dem Spiel stammte von mir, meine Kumpels waren neidisch deswegen und wollten ständig Einfluss auf die Regeln nehmen, aber das passte mir wiederum nicht. Deshalb erhoben wir uns mitunter vom Boden und setzten den Widerstreit im Luftraum fort – da standen sich nicht mehr Papierfiguren gegenüber, sondern gestrenge Gottheiten mit geballten Fäusten.

    Und noch eine weitere Idee stammte von mir: nicht nur Papiersoldaten, -mönche und -werktätige für das Spiel zu basteln, sondern auch Frauen. Keine Frage, über den Frauenfiguren saßen wir deutlich länger, versuch doch mal, all die geheimnisvollen Kurven und Katzenprofile auszuschneiden, die feine Spitze der rätselhaften Körper, die jemand erfunden haben musste, um uns zu strafen, Körper, an die man nur denken musste, schon wurden einem die Hände feucht, die Brustwarzen hart, und es zog einem zwischen den Beinen. Einmal gezittert, schon hattest du statt einer Frau eine aufgedunsene, unförmige alte Hexe. Und Alte zählten nicht. In unseren Spielen kamen überhaupt weder Alte noch Kinder vor. Nur gesunde, weiße Papiermannsbilder, die immer nur ihresgleichen aus dem Weg räumen wollten.

    Es ist schon eine Krankheit, dieses Jungsdasein. Mein Körper kam mir damals vor wie ein Baum im Frühling. In den ersten Knospen an den Zweigen, in den Schmerzen, unter denen sie sich im Frühjahr öffneten, in ihrem Gestöhne im März, das ich allein zu hören schien, entdeckte ich etwas meinem armen Knabenkörper Verwandtes. Was war das für eine Qual. Die Leiden des Dreizehnjährigen. Denn unsere Fantasie war damals so in Schwung, dass wir keinerlei Pornos brauchten, keine Stimulanzien. Irgendwann konnte ich nicht mehr an mich halten und zeichnete nackte Frauenfiguren, alle grölten vor Lachen und folgten erleichtert meinem Beispiel, und dann lagen wir bäuchlings auf unseren Imperien und verglichen, wer es wie hinbekommen hatte, knallrot lagen wir am Boden, als hätte man uns die Haut abgezogen, und irgendwie wollten wir einander nicht in die Augen sehen, und wir hatten Angst, unsere Eltern könnten gleich kommen und uns bei diesem Spiel überraschen. So groß war die Angst, dass wir die Frauenfiguren nach jedem Spiel zerstörten und das nächste Mal wieder neue ausschneiden mussten. Und wir bastelten, ungestüm und unbeholfen, und wir wussten nicht mehr, wer wir waren, Götter, Sklaven oder Verrückte, und wir lachten laut, und wir fluchten, und wir fuhren aus der Haut vor etwas Unaussprechlichem, Schrecklichem und Unausweichlichem.

    Eines Abends, wir hatten alle nackten Figuren noch kurz vor der Rückkehr meiner Eltern zerstören können, entdeckte ich, als ich mit ihnen vor dem Fernseher saß, zu meinem Entsetzen, dass eine Figur unter dem Sofa liegen geblieben war. Wie hatte ich die nur übersehen können? Was würde geschehen, wenn meine Mutter sie fand (sie machte häufig sauber, fast täglich) … Ich konnte dem Film nicht mehr folgen, dachte nur noch an die vergessene Figur. Und meine Eltern saßen neben mir wie festgeklebt. Ich konnte das Ende des Films kaum erwarten, blieb noch lange in der Stube, war dort aber nie alleine. Dann schickten mich meine Eltern in die Küche, Konfitüre holen, dann gingen auch sie, aber einzeln, immer nur einzeln, und ich wartete vergebens auf den einen Augenblick, da ich die unglückselige Figur schnappen und mir in die Hose stopfen konnte. Ich glühte vor Scham. Als endlich beide Eltern weg waren, kroch ich unter das Sofa, aber die Figur war weg! Keine Figur, die reine Leere und Sauberkeit – und diese absolute Sauberkeit erschreckte mich mehr, als das größte Donnerwetter es getan hätte. Sie war dort gewesen. Ich hatte sie gesehen. Wo war sie hin? Die Antwort auf diese Frage trieb mich noch lange um.

    Jahre später, ich war schon ziemlich erwachsen und manchmal allein zu Hause, konnte ich manchmal nicht an mich halten, dann legte ich mich auf den Boden, als suchte ich nach der verlorenen Frau. Sie war nirgends zu finden. Ich nahm Schere und Papier, und wieder wuchsen um mich herum die Imperien meiner Kindheit, meine Soldaten, Bauern, Priester nicht existenter Kulte, und ich lag mit geschlossenen Augen da und lauschte wehmütig meinen Empfindungen nach. Manchmal meinte ich, ein vertrautes Stechen im Herzen zu spüren, ich wartete auf das vertraute, vergessene Ziehen im Unterleib, lag da, um die Vergangenheit nicht zu verschrecken, die, so glaubte ich, jeden Moment durch die leere Wohnung huschen musste – aber am Ende kam immer nur die Enttäuschung. Man kommt nicht mehr dorthin. Jedenfalls nicht alleine. Man bräuchte Feinde oder Mitstreiter, aber die vermag niemand hervorzurufen aus dem Schattenreich.

    Was das mit konstruierten Sprachen zu tun hat, fragt ihr euch? Mit Balbuta? Ist sie etwa schon damals entstanden? Natürlich nicht. Balbuta war noch so fern wie der Mond.

    So fern wie der Papiermond für den geschärften Bleistiftzahn.

    Aber damals, bei unseren komischen Spielen, wenn wir unsere Papierfiguren über den Boden schoben, stellte ich den Jungs eine wichtige Bedingung: Wenn wir schon Staaten und Völker hatten, müssten wir auch Sprachen für sie erfinden, erklärte ich ihnen voller Ungeduld. Es erschien mir so offensichtlich, ich hätte heulen können, aber leider sah nur ich das so. Meine Kumpels ließen sich zwar widerwillig darauf ein, doch es war zwecklos. Sie begnügten sich mit zwei, drei dürren Phrasen, reines Dekor, sinnlose Phrasen, die sie sich selbst nicht merken konnten. Und wenn ich sie ausfragte, wie dieses oder jenes Wort oder eine Wendung in ihrer Sprache hieß, war immer schnell Schluss. Ich habe ihre rauen, überdrehten Stimmen noch im Ohr: »Hör doch auf, du verdirbst nur alles mit deinen Marotten.« Inzwischen ist mir natürlich klar, dass sie etwas anderes wollten: tam, tam, tadam, Macht, Mörserbeschuss, Militär und nackte Frauenfiguren. Ein paar aus dem Stand erfundene Wörter für ihr Volk fanden sie völlig ausreichend und waren dann sauer, wenn ich ihnen die grusligen Unstimmigkeiten in ihren Sprachsystemen aufzeigte.

    Mir war es nämlich bitterernst. In dicken Heften legte ich Wörterbücher und Grammatiken für meine papiernen Untertanen an. Und ich achtete streng darauf, dass in meinem Land alles regelkonform zuging. Gab einer meiner Generäle eine schriftliche Order, musste ich immer wieder in meinen Heften nachschlagen. Ich gestattete meinen Generälen keine Fehler. Jedenfalls keine sprachlichen. Das ärgerte meine Freunde. Ihre eilig zusammengeschnippelten Völkchen sprachen munter Russisch, obwohl sie auf dem Papier ihre Landessprachen hatten. Klingt irgendwie vertraut, nicht? In meinen Truppen und Geheimdiensten gab es sogar eigens ausgeschnittene und ausgemalte Spezialkräfte mit dunklen Brillen, die die Sprachen der Feinde lernen sollten, aber sie hatten einfach nichts zu tun und verschlissen auf den Teppichen ihre Papierhosen.

    Meine Kumpels hatten also nicht vor, Zeit und Papier für Nebensächlichkeiten wie die Konstruktion von Sprachen zu vergeuden, bestimmt hielten sich mich für einen furchtbaren Langweiler. Und doch spielten sie meine Spiele mit jungenhaftem Eifer, hatte ihnen doch niemand sonst etwas Vergleichbares zu bieten.

    Einer meiner Kumpels ist jetzt Türsteher in einer großen Shoppingmall. Wenn ich ihm begegne, tu ich so, als wären wir nicht miteinander bekannt. Ein anderer ist an den Suff gekommen und in Moskau gestorben. Er hatte gerne Wörter verdreht – von ihm stammte dieser Ausdruck, den er mit stupider Begeisterung und einem rülpsenden Lachen wiederholte: »normaldý«. Mit Betonung auf dem »y«. Normaldý, Aleshka, alles klar. Alle lachten. Außer mir. Unter ihrem dümmlichen Gelächter überlegte ich mir, woher und wozu dieses abnormale »normaldý« in unser Minsker Russisch gekommen war und wie es dort hatte haften bleiben können; so eindeutig wild, Turksprache, eine komische Klette aus der fernen Steppe, die ein willkürlicher Wind vom einen Ende des Imperiums zum anderen geblasen hatte.

    Ein dritter Spielkamerad war nach England gegangen und hatte mich Jahre später bei Facebook wiedergefunden. Er ging mir eine ganze Weile auf die Nerven mit seinen Privatnachrichten, in denen er forsch fragte, was ich im Leben erreicht hätte – und alles auf Englisch. Wieso denn jetzt Englisch? Damit er nicht für einen von hier gehalten wurde? Aber wer sah das denn im privaten Chat? Rasch wurde mir alles klar. Er brauchte meinen Neid. Er wollte Anerkennung für seinen success. Er hätte zu gern gezeigt, dass er »im Leben was erreicht« hatte. Scheinbar müssen die alle, wenn sie gehen, so dermaßen auf Europäer machen, so krass und kultiviert sein, dass du kotzen könntest. Ich sah mir das Foto meines Spielkameraden, der unter irgendwelchen Palmen hervorgrinste, genauer an. Dem stand doch auf gut Russisch ins Gesicht geschrieben: Kind einer miesen Vorstadtsiedlung, Sowjetmensch qua Geburt, reinblütiger Slawe, also Sohn einer Jüdin und eines Tataren. Sein Gesicht war noch das alte. Neu war der Name. Am Ende hatte er ein neckisches »-off« bekommen. Früher Syrnikaŭ, jetzt Sirnikoff. Ob sein persönlicher Speicher die packenden Teppichpartien noch parat hatte, die Pakte, Paraden, Partisanenkämpfe, unsere Papierpornoprozessionen mit puckernden Fingerkuppen von Teppichkante zu Teppichkante? Über all das Gemeinsame, Ferne hätte ich ihn gerne ausgefragt, aber ich schrieb nur: »Fuck off, Sir Nikoff.« Was brauch ich Emigranten, ich bin selber Emigrant. Ich bin ja mein Leben lang vor all ihren Sprachen geflohen, hin zu meiner, der einzigen.

    Ja, schon als dreizehnjähriger Freak in Trainingshosen hatte ich Sprachen erfunden. Mein Lieblingsbuch war damals das Wörterbuch des jungen Philologen. Besonders der Eintrag, der überschrieben war mit »Künstliche Sprachen«. Ich sehe ihn noch vor mir: Er war auf der rechten Seite, links war eine Abbildung, und er ging auf der Folgeseite noch weiter, ich schaute ihn mir wieder und wieder an und erinnere mich noch genau an das ewig schale Gefühl, wenn ich die Seite umblätterte – der Eintrag war ärgerlich kurz und viel zu schnell zu Ende. Ich verzehrte mich nach mehr Informationen, aber die waren nirgends zu bekommen, nicht in der Schulbücherei, auch nicht in der Stadtteil- oder Stadtbibliothek, überall dasselbe Elend, mir blieb nur mein armes, weißes, allwissendes Wörterbuch: kackbraune Kakao- und Konfitüreflecken auf meiner Leib- und Magenseite, Kekskrümel, in Ewigkeit geplättet im prallen Falz, anthropomorphe Sprachäste in den Abbildungen. Bald schlug es sich von selbst auf der richtigen Seite auf. Um wieder nur diese Armseligkeit zum Vorschein zu bringen, die ich längst auswendig kannte. Und doch bin ich eben in diesem weißen Büchlein zum ersten Mal auf Esperanto und Zamenhof gestoßen, auf Volapük und Pfarrer Schleyer, auf Ido und Interlingua. Diese Wörter verzauberten mich, Ido Esperanto klang für mich nach einem Frauennamen und Volapük wie der Name einer wollüstigen Waldgottheit, die der unschuldigen Nymphe (beziehungsweise der Nymphomanin) nachjagte. Fast konnte ich die fremden, unverständlichen Worte hören, die ihnen über die Lippen gingen; das Bild, das ich vor mir sah, sobald ich mein Wörterbuch zur Hand nahm, hatte etwas Verruchtes, Beunruhigendes. Das Wörterbuch lag immer richtig – mit ihm konnte ich die Scheußlichkeit unserer Siedlung und den Irrsinn an meiner schrecklichen Mittelschule vergessen, die öden Pflichten, die roten Armbinden der Diensthabenden, mit denen wir Schüler aussahen wie Jungnazis. Mit seinem festen Einband, rundum positiv und proper, voll farbiger Illustrationen wie eine Kinderbibel, verhieß dieses verführerische Oberstufen-Wörterbuch mit seinem gesamten Aussehen jedem Jugendlichen, der die Philologie auserkor, einen Platz in den Reihen der Intelligenzija: allzeit saubere Hände, Schreibstubenruhm und den weißen Befreiungsschein für die schwärzesten Arbeiten. Mein Glaube daran war rasch verflogen. Aber die Sprachen hatten mich verzaubert, und der größte Zauber war, dass das tatsächlich möglich war: seine eigene erschaffen.

    Im Nachhinein begriff ich, weshalb es mir damals nicht gelingen wollte – ich hatte jenen Anfängerfehler gemacht, der einem ernsthaften Sprachkonstrukteur nicht unterlaufen durfte: Ich wollte, dass meine erfundenen Sprachen wie lebende Sprachen waren. Wie bereits existierende. Idiome, die den Anschein von Lebendigkeit erweckten. Sprachen wie von Millionen Menschen verwendet, seit Hunderten von Generationen, ergraute, urwüchsige Sprachen mit eingeschriebener Vorgeschichte. In meinen Konstruktionen rollte ich gewissermaßen den Klangteppich für meinen Film aus, schmückte die mir vertraglich zustehende Kunstwelt mit einer Kunstsprache. Ich war nicht frei. Alles sollte sein wie bei anständigen Leuten, dabei standen mir nur meine stümperhaft ausgeschnittenen Papierfiguren zur Verfügung. Nicht im Traum wäre mir eingefallen, dass auch meine Kumpels und ich Helden waren, einer eigenen Sprache würdig, dass wir schon die fertige Ur- und Vorgeschichte darstellten, durchaus geeignet, Neues hervorzubringen.

    Eine Sprache zu erschaffen, ist Schwerstarbeit. Damals und auch später noch, bevor in meinem Leben die lange Zeit der Niederlage anbrach, hatte ich mehrfach versucht, etwas Bleibendes zustande zu bringen, war aber immer wieder über ein Problem gestolpert, dessen ich einfach nicht Herr wurde. Je lebendiger meine Sprache wirkte, desto mehr Konventionen, Entsprechungen und Regeln erforderte sie. Ungeduldig und schludrig entwarf ich Lexik und Grammatik und hoffte, endlich zum rettenden Grund vorzustoßen – aber Sprache ist unersättlich, sie will immer noch mehr, und du stürzt dich hinein, vertiefst dich in der Hoffnung auf ein Wunder, doch bis zum Grund ist es immer noch entsetzlich weit. Und du gehst einfach unter. Du versinkst in den Untiefen der Sprache, in ihren Verheißungen. Inzwischen weiß ich, dass man, um eine Sprache erfinden zu können, zuerst selbst ihren Grund definieren muss. Und sich dann von dort abstoßen und vergessen muss, wo und wie tief er liegt. Es der Sprache selbst überlassen muss, ihren Grund bald auf den zuzubewegen, der sich in sie versenkt, bald von ihm weg.

    Wahre Sprachkonstrukteure schaffen keine Sprachen, die »wie lebendig« sind. Sie schaffen lebende Sprachen.

    Balbuta ist so lebendig geworden, dass sie sogar jemanden das Leben gekostet hat.

    3.

    Jede konstruierte Sprache muss fünf wichtigen Anforderungen genügen.

    Erstens muss sie leicht zu erlernen sein. Ohne Ausnahmen und andere unlogische Schwierigkeiten, die nichts zu ihrer Schönheit beitragen, sondern nur den neuen, von uns geschaffenen Raum zustellen. Der Raum einer neugeborenen Sprache ist ein Zimmer mit weißen Wänden, hellem Holzfußboden, viel Sonnenlicht und deckenhohen Fenstern. Luft und Licht. Ohne Schnickschnack.

    Zweitens braucht sie Wohlklang. Mangelnder Wohlklang hat seinerzeit Volapük das Genick gebrochen. Die Musik hält eine Sprache in unserer Welt, lässt ihre Zellen zu einem Organismus zusammenwachsen und sie nicht wieder ins Chaos zurücksinken. Da sind Kompromisse vonnöten. Neun von zehn Europäern verbinden das Ideal des Wohlklangs und der Musikalität mit dem romanischen Erbe. Was auch immer man von diesen Kanaillen halten mag, irgendwo haben sie recht. Volllautung und Betonungen, die Reinheit der Vokale, das Tönen der Mitlaute – das alles kippen zu wollen, wäre töricht. Wobei mein Ideal in dieser Hinsicht immer das Litauische war … Diese gesangliche, altertümliche Sprache unserer Nachbarn – diese Laute auszusprechen, bereitet einem körperliches Wohlbehagen. Sicher hat diese Vorliebe auch in Balbuta ihre Spuren hinterlassen.

    Drittens muss die Sprache poetisch sein. Einerseits selbst poetischer Natur, ihrer Anlage nach, andererseits muss sie auch Poesie hervorbringen können, ein Potenzial zur Bildlichkeit mitbringen, die Kraft, vom Unsagbaren zu sprechen. Eine Sprache ist keine Sprache, wenn sie keine Geheimnisse birgt. So reich und komplex eine Sprache auch sein mag, sie ist tot, wenn sie nur eine begrenzte Zahl an Interpretationen zulässt. Wenn man keine Gedichte in sie übersetzen kann (und auch nicht aus ihr).

    Viertens braucht sie eine eigene Philosophie. Sie muss die Persönlichkeit desjenigen, der sie beherrscht, verändern, muss Fragen stellen, ihn in Kontakt mit der Welt bringen, Einfluss nehmen auf sein Denken.

    Fünftens muss sie Freiraum geben. Jeder, der sie erlernen möchte, muss das Recht haben, mit ihr anzustellen, was er will, sie zu verändern und seinen Bedürfnissen anzupassen. Sprache ist undenkbar ohne Flexibilität, sie ist eine Schlange, die mit ihrem klappernden Körper jede Mauer, jeden Spalt, jedes Relief überwindet, eine Schlange, die nichts aufzuhalten vermag, weder unter der Erde noch auf ihr oder im Himmel.

    Also muss jede neu geschaffene Sprache in sich den Wohlklang und die Freiheit des Esperanto verbinden mit der Rationalität und dem Bewusstsein von Toki Pona, dem beginnenden Wahnsinn der slawischen Mundarten und der Vieldeutigkeit fernöstlicher Schriftzeichen.

    Balbuta genügte allen fünf Anforderungen.

    Sie war wirklich zugänglich und einfach geraten. Ihre Regeln konnte man in zehn Minuten verinnerlichen, die Lexik an einem Tag.

    Die Balbuta-Phonetik ist nicht streng geregelt. »J« nach Vokal wird wie »i« gesprochen. Betont wird die vorletzte Silbe, nur bei Wörtern auf -utima, -utika, -utikama jeweils das »u«.

    Balbuta. Sprache. Wort. Geschichte. Erzählung. Antwort. Frage …

    Sag: balbutika. Das heißt: Wörter. Oder: Sprachen. Oder …

    Die lateinischen Buchstaben sind allgemein bekannt. Eine Schrift ohne diakritische Zeichen, die sind überflüssig. Keine Digrafe, Diphtonge, Artikel, Popel, Doubles, Privatduelle … Jedes Substantiv endet im Nominativ auf -uta, ansonsten auf -utima.

    Sag: balbuta balbutima. Das Wort aller Wörter. Oder das Lied der Lieder?

    Für Substantive, die eine Beschäftigung oder einen Beruf bezeichnen, habe ich einen eigenen Professionssuffix erfunden: -ask für Männer und -unja für Frauen.

    Sag: balbask. Balbunja. Tajnobalbask. Tajnobalbunja. Dichter. Dichterin … Oder einfach ein ambitionierter, aber unbegabter Hobbylinguist?

    Und noch der Plural: -utika. Wie gesagt, einfacher geht’s nicht. Flektiert enden die Wörter im Plural auf -utikama.

    Balbutika. Worte. Balbutikama. Von Worten. Grimuta mau balabutikama. Die Musik meiner Worte. Mann, bin ich ein selbstverliebter Ho Den Sak. Die Musik, oh, là, là, meiner Worte …

    Aber ist das etwa nicht Musik? Alle Adjektive enden auf -oje, Adverbien auf -oju, Verben auf -uzu. Adjektive und Adverbien sind unveränderlich. Diese ganzen Konjugationen und Deklinationen tragen nichts zur Verständlichkeit bei, wozu also für Balbuta zusätzliche Vignetten erfinden, wozu mein mit den blanken Nägeln der Logik gezimmertes Werk mit Blümchen überfrachten? Balbuta, das ist Konstruktivismus mit Art-déco-Elementen und kein imperial verkitschter Pseudoklassizismus. So habe ich das entschieden, als erster Balbutaner.

    Bei den Verben war das natürlich ein bisschen komplizierter. Die Vergangenheitsform wird durch die vorangestellte Partikel bim gebildet, das Futur durch bu.

    Sag: Bu balbuzu. Ich werde sprechen. Bim balbuzu. Ich habe gesprochen. Ich habe gesprochen und werde sprechen: Bim balbuzu da bu balbuzu.

    Der Konjunktiv, mein Lieblingsmodus, tanzt sich folgendermaßen: Man nehme ein Verb und stelle ihm ein bif voran. Zugegeben, das habe ich nur aus Schönheitsgründen erfunden. Und dann noch, um ein wenig Offenheit und Ehrlichkeit in den Balbuta-Nebel zu bringen. Wer Balbuta beherrscht, spielt immer mit sich selbst.

    Als konstruierte Sprache vereinigt Balbuta apriorische und aposteriorische Plansprachenmerkmale in sich. Sie schöpft also aus fremden Quellen, speist aber auch neue. Ihre lexikalische Basis bilden ein paar Hundert Wörter, die uns alle benötigten Wurzeln und Trümpfe liefern. Die Bildung weiterer und die Übertragung aller möglichen Bedeutungen liegen in der Hand des jeweiligen Sprechers. Darin liegt auch die poetische Kraft der Balbuta – nur wenn du eine Ahnung von Poesie hast, du die geheimnisvollen Reserven der Fantasie in dir anzapfen und die längst verkümmerten Organe für das Wunderbare reaktivieren kannst, vermagst du in Balbuta all das Schwierige und Spannende auszudrücken, das du in dir trägst. Kannst du dich mit dem inneren Feuer dieser Sprache erleuchten, mit der aus dem Nichts auflodernden Flamme der in dir entdeckten Stärke. Potenziell ist jede Aussage in Balbuta ein fertiges Gedicht beziehungsweise der Zustand, in dem du mehr vom Leben willst als Fressen, Klogang, Sex und Schlaf.

    Schau ganz ans Ende des Buches. Dort steckt das Wörterbuch, das Zauberschloss mit seinen Balbutaschätzen, balbutika balbutima, Schätzen, an denen sich jeder bedienen kann und die dadurch immer mehr werden.

    Die Balbuta-Philosophie beruht also auf Vielfalt, Freiheit und Poesie. Sie kennt kein »müssen«. Sie kennt kein »wir«, nur eine unendliche Vielzahl freier und einzigartiger »Ichs«. Sie kennt kein »Gott« – sollte jemandem einfallen, einen Gott haben zu wollen, benennt er ihn mit seinen Worten, die nur er gebrauchen kann und niemand sonst. Sie kennt kein Moralisieren und keine Moral, keine Wörter, die bewerten, ob etwas gut oder schlecht ist, richtig oder falsch. Alles hat seine Daseinsberechtigung. Die Welt ist komplex, und das ist weder gut noch schlecht, das ist einfach so. Wenn man doch zum Ausdruck bringen möchte, was man empfindet, kann man auf andere Worte zurückgreifen, die die Emotionen zügeln und beruhigen, sodass nur die Wahrheit übrig bleibt. Balbuta ist ökologisch und tolerant: Sie unterscheidet nicht zwischen Mensch und Tier, zwischen Unkraut und vom Aussterben bedrohten Pflanzen, bevorzugt nicht, kennt keine sprachliche Knute, nicht die Herrschaft der exakten und endgültigen Benennung. Jemanden in Balbuta zu erniedrigen ist schwierig, ihn zu lobpreisen ein Leichtes. Das Wort für »schön« bezeichnet lediglich die persönliche Haltung zu einem Objekt. Balbuta ist eine Sprache des erlesenen Geschmacks. Eine Sprache der Freiheit, der Poesie und des Glücks.

    Balbuta ist offen: Faulere Zeitgenossen können lateinische Termini balbutisieren, ohne sich dessen schämen zu müssen. Eigennamen und Titel kann man regulär schreiben, wie man will. Auch wenn man Ščymiřyckoŭski heißt. Wie er heißen will, darf jeder selbst entscheiden und bestimmen. Und das ist zu respektieren.

    Na ja, die Freiheit ist ein Messer mit vielen Schneiden – auch in Balbuta kann man Losungen formulieren:

    Belarus bu istuzu!

    Kau ne fuzu, ne kusuzu.

    Fuzasko ujma tutikama, bu kopja!

    Deutschland ujming ujma!

    Rosija statuzu tork!

    Fu Amerika ujma noju!

    Oder sogar:

    Duzu tributika stutima – o tajnuta.

    Ugustrilutika – o ne hitruta!

    Wie gesagt, das Wort balbuta bedeutet Sprache, aber auch Wort, Name, Titel, Aussage, Botschaft, Brief, Mitteilung und so weiter. Von balbuta lassen sich weitere Wortarten mit zahlreichen Bedeutungen ableiten: balbuzu heißt sowohl sprechen als auch benennen, rufen oder eine Vorlesung halten, balboje heißt sprachlich, namentlich, mitteilsam, mündlich, ausgesprochen … Balboju: mündlich, in Worten, vermittels Sprache … Balbuta duzu tau algutima balbuzu ujma. Jetzt braucht es nur noch weitere Wörter drumherum, die kraft ihrer Logik eine Situation der Freiheit schaffen. In Balbuta bestimmt der Kontext alles. Balbuta regt dazu an, ohne Furcht zu sprechen, lädt dazu ein, zu experimentieren und der Vielgestaltigkeit und Unendlichkeit der Welt Tribut zu zollen. Einfach Wörter in den Mund zu nehmen, alles, was grade zur Hand ist, und keinen Rüffel fürchten zu müssen.

    Für die Welt der Zahlen und Mengen habe ich entschieden, ein gesondertes Schema einzuführen. Dem modernen Menschen flimmern ohnehin ständig Zahlen vor Augen, wieso also nicht einfach anstelle der komplizierten archaischen Formen das vertonen, was das Auge sieht und das Gehirn visuell festhält?

    0 – zironk

    1 – onk

    2 – donk

    3 – tronk

    4 – kronk

    5 – skonk

    6 – sonk

    7 – sidonk

    8 – otonk

    9 – nonk

    10 – dzonk

    Sicher, für die Hunderter und dann weiter waren noch ein paar Wörter vonnöten.

    100 – stonk

    1000 – tisonk

    1000000 – milionk

    Und wenn man einhundertdreiundfünfzig sagen will, sagt man in Balbuta stonk skonkitronk. Und für eintausendzweihundertneunundsiebzig tisonk donkisidonk nonk.

    Wir waren zu viert gewesen. Bim kronk au. Wörtlich: Da waren vier Ichs.

    Aber zunächst war da nur ich allein, Gott. Ksutima au onkuru bim, G.O.T.T., suta da kavuta, amgluta da negrimuta. Im Anfang war nur ich, ein Mensch und Kaffee, Zeit und Stille.

    Da donk bim m-e-e-suta kroskoje. Meesutko. Und der Zweite war er, Koźlik.

    Koooźlik …

    4.

    Nachdem ich mich heimlich an der von mir erschaffenen Sprache ergötzt und aus ihrer Masse eine Handvoll einfacher Figuren geknetet hatte, wie ein Kind aus einem geschenkten Klumpen Knete, kam ich etwas zur Ruhe und fasste den festen Entschluss, vorerst mit niemandem über Balbuta zu sprechen. Ihren unerhörten Geschmack nach und nach zu verfeinern und auf keinen Fall mit irgendwem zu teilen. Eine Pause war nötig – sie sollte noch etwas ruhen, nicht mehr nur Traum sein, zu Kräften kommen, um dann für alle bevorstehenden Herausforderungen gewappnet zu sein. Am besten, dachte ich wehmütig und mit einer fast sadistischen Befriedigung, bliebe sie für immer meine, allein meine tote Schöne.

    Aber die von mir erschaffene Sprache sah nicht tot aus. Nein, Teufel noch mal, Balbuta lag nicht reglos auf dem von mir bereiteten Bett, im Hochzeitskleid, kalt und vollkommen. Von wegen! Sie versuchte mich, vibrierte, verlangte ständig nach meiner Aufmerksamkeit, rief aus dem Dunkel, lockte mit ihren süßen, volltönenden Vokalen. Sie tanzte mich an, sie klunkerte, klirrte, nicht umsonst hatte ich sie mit Geschmeiden hell flirrender Klänge behängt, voll und leidenschaftlich stieß sie in ihr Horn, und mir wurde immer schwummriger. Ihre Lebenstüchtigkeit war absolut. Sie konnte alles – und sie gehörte mir ganz allein.

    Wie ein liebestoller persischer Satrap besuchte ich sie jede Nacht in ihrem Zimmer, zu dem es nur einen einzigen Schlüssel gab, ergötzte mich an ihr, sah mich satt, ließ ihre Gold-, Seiden- und Silberschätze von einer Hand in die andere rinnen, beschnupperte ihr Material, strich über ihre Haut – und empfand dabei stetig zunehmende Angst, sie könnte mir geraubt werden, oder ich würde sie unters Volk verteilen. Unter all die Armen, Törichten, Gesichtslosen, sie verteilen in einem entsetzlichen Anfall von Trunkenheit, und könnte sie mir nie wieder zurückholen. »Ich war das letzte Mal bei dir«, schwor ich mir nach jedem meiner Besuche, »hörst du, das letzte!«, und dann stürzte ich doch wieder los, den Käfig zu öffnen, kaum dass Vieračka aus der Tür war.

    Irgendwann im Winter konnte ich nicht länger an mich halten und übersetzte erste Gedichte und Kurztexte in Balbuta. Balbuta schien nur darauf gewartet zu haben – endlich sprudelte Blut in ihren Adern, sie nahm jede erdenkliche Form an, die ich ihr vorschlug, sie brauchte keine Befehle oder Ermahnungen, sie war lächelnd geschmeidig, wurde weich oder verhärtete brav, kaum dass ich mir klar wurde, was ich von ihr wollte. Sie war die endlose Weite des Wortes, sie verwandelte sich in jedes Bild, das ich mit hineinzunehmen wünschte in ihren goldenen Käfig. Meine Balbuta – sie war mir so zu Willen, so zuvorkommend. Jeden Tag konnte ich das Wunder beobachten: Vor meinen Augen erstanden wie aus dem Nichts neue Pflanzen, Lebewesen, Landschaften, unerforscht, ungesehen und allein für mich zu erkennen. Mein bloßer Wunsch genügte, diese Fülle und dieses Geheimnis auftreten und die Realität beiseiteschieben zu lassen. Ich war ihr König. Ihr Diktator. Ihr einziger Liebhaber, der erste und letzte. Ihr Herz. Ihr Mörder.

    Irgendwann im März, im Tremolo eines Trolleybusses, dachte ich an meine Balbuta, malte mir aus, wie ich sie diese Nacht besuchen würde – da stieg jemand ein, der … Wie soll ich sagen? Er erschien mir auf einmal dermaßen gewöhnlich, dass ich mich abwenden musste, so übel wurde mir.

    Es war ein Mann: nicht kahl, aber recht licht behaart, nicht teuer gekleidet, aber alles neu, vom Markt, sodass es nicht herausstach, der Blick nicht etwa dümmlich, aber auch nicht gerade klug, der Körper insgesamt wohlproportioniert, aber diese korrekten Proportionen nahmen ihm jegliche Individualität, er hatte weder Narben noch Muttermale oder Bart, sein Gesicht war von gelblich-gräulicher Färbung, aber nicht allzu grau oder zu gelb, sondern gerade so, dass es in den Farben der Stadt aufging; sein Erscheinungsbild bot kaum Anhaltspunkte, er war nicht groß, nicht klein, eher mittelgroß, mittleres Alter, Mittelklasse, mittlere Reife, Mittelmaß, Mittelwert – und mit Sicherheit an einem Mittwoch geboren.

    So ein mittlerer Durchschnittsbelarusse, der menschliche Basisbetrag.

    Sogar verglichen mit denen, die um mich herumsaßen und die Innereien des Trolleybusses verstopften, war er normal, so normal, dass ich seine Banalität geradezu körperlich spüren konnte, seine Mittelmäßigkeit, seine Gewöhnlichkeit, es war, als hätte die Alltäglichkeit selbst ihn zu ihrem Repräsentanten erkoren, ihrem Botschafter in diesem städtischen Nebel, als verkörperte sich in ihm ihre finstere Macht über die Volksmassen. Das Mittelmännchen umfasste die Haltestange und entblößte gähnend sein nicht sonderlich gutes, aber durchaus noch intaktes Gebiss. Als er den neuen Ort besetzt, seinen Platz an der Sonne gesichert hatte, sah er sich furchtsam-verächtlich um – so machen die das alle, solange sie keine unmittelbare Bedrohung wahrnehmen können.

    Sofort standen wir in Konfrontation zueinander, dabei sah ich ihn zum ersten Mal – und er mich ebenso. Irgendetwas lag in der Luft, als beobachtete jemand uns beide. Auch er spürte, dass da etwas war, warf mir Blick um Blick zu, konnte nicht begreifen, woran es lag, empfing aber diffuse Wellen meiner Abscheu und meiner Abhängigkeit von ihm – seine Blicke wurden immer feindseliger, aus seinen seichten Augen sprachen wachsende Angst und Hass.

    Ich konnte den Blick nicht mehr abwenden. Und da stellte ich mir in aller Deutlichkeit vor, dass dieser gewöhnliche Mensch, dieser Mister Normo hier, Herr Normaldy, gleich etwas in Balbuta zu mir sagen würde.

    Es war wie ein Schlag ins Gesicht.

    Als stürzte der Trolleybus in einen Abgrund.

    Als hätte man mich mit einer Kanone in den Himmel geschossen.

    Er, dieser ganz gewöhnliche Mann, könnte Balbuta sprechen. Könnte Balbuta beherrschen. Sich aneignen. Könnte in Balbuta seine Durchschnittswörter sagen, Durchschnittsgedanken denken, seine Durchschnittsbedürfnisse in Balbuta formulieren. Weshalb eigentlich nicht? Der Mann war ja lebendig wie ein Schimmelpilz, und Balbuta lebte auch. Gleich macht er den Mund auf … Und dann höre ich …

    Das konnte nicht sein.

    Und war doch möglich. Er hatte Hirn genug, die von mir definierten Regeln zu verinnerlichen. Er hatte ausreichend Gedächtniskapazitäten für das gesamte Vokabular. Sein Mund konnte die Laute so gut hervorbringen wie der meine, und seine Rede konnte in Balbuta erklingen wie in jeder Sprache sonst.

    In jeder sonst – weshalb also nicht in meiner?

    Diese Einsicht tat ungeheuer weh.

    Und ungeheuer wohl.

    Die Scham überfiel mich. Ganz ähnlich der aus Kindheitstagen. Die süße Scham des Papierjungen, der Papierfrauen malt und seine Bilder hastig zerknüllt aus Angst, dabei erwischt zu werden.

    Außerstande den Blick abzuwenden, starrte ich diesen Mann im Trolleybus an und ließ ihn in Gedanken bald diesen, bald jenen Halbsatz in Balbuta sprechen, er blinzelte, meine Hypnose machte ihn rasend, er hätte nie gedacht, dass er so etwas konnte – eine Sprache sprechen, die es nicht gibt. Mein potenzieller Balbutaner. Was hast du mir damals für einen Schreck eingejagt.

    Die Wahrheit, die sich mir in diesem Moment offenbarte, versengte mein Bewusstsein. Ein einziger Fehler im Weltenbau, schon die Möglichkeit eines Fehlers, schon die Vorstellung eines Fehlers, und jeder könnte Balbuta sprechen. Eine entsetzliche Eifersucht brach über mich herein, die mich nicht nur aufwühlte, sie erregte mich richtiggehend, und ich hatte dieser Erregung nichts entgegenzusetzen. Ich teilte, was ich liebte, und ich wollte, dass sie es vor meinen Augen nahmen. Es schmatzend verschlangen, sich einverleibten, zu eigen machten, in den Mund stopften. Es war, als wohnte ich einem fremden Liebesakt bei. Und ich konnte nicht genug davon bekommen. Ich gierte nach mehr.

    Irgendwie gelang es mir, an der nächsten Haltestelle meine schweißnassen Hände von der Haltestange zu lösen und aus dem Bus zu rennen. Mister Normaldy mit seiner Gewöhnlichkeit und seinem Hass konnte endlich aufatmen. Nicht so ihr, meine lieben Minsker. Ich bewegte mich durchs Gewühl und probierte jedem Entgegenkommenden meine Balbuta an: finster dreinschauenden Männern, Frauen mit leeren Blicken, Kindern und Greisen – und ich fand niemanden, bei dem ich sicher ausschließen konnte, dass er Balbuta würde sprechen können, wenn man es ihm beibrächte.

    Und da gab ich mir den Ruck.

    Die Entscheidung war töricht, aber ich konnte nicht an mich halten. Noch gänzlich zurechnungsfähig, äußerlich noch sittlich, durchschnittlich, normal, hatte ich schon Ja gesagt zu dieser Orgie mit mir selbst.

    Schweißnass und sicher leichenblass stellte ich mich mit stockendem Herzen vor den McDonald’s und zückte mein Telefon.

    Scheinbar telefonierend stand ich mitten in der Innenstadt, unter all diesen unterschiedlichen Menschenwesen, die mich,

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