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Kellergeschoss
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eBook242 Seiten2 Stunden

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Über dieses E-Book

Kellergeschoss - keine bautechnische Anleitung, kein Immobilienangebot, vielmehr Ort des Vergessens, die verborgene, dunkle Kehrseite verbannter Erinnerungen an eine Zeit in einem geschundenen Land: Argentinien Mitte der 1970er Jahre. Bernhard Hagemeyer erzählt in seinem neuen Roman vom Schicksal des Politikberaters Felix Krauthner, der im Oktober 1975 im Auftrag der Bundesregierung von einem Bonner Institut nach Argentinien entsandt wird, um im Rahmen deutscher Entwicklungshilfepolitik einen Beitrag zur Stabilisierung der Demokratie zu leisten. Er erwartet von seinem Auslandseinsatz nicht nur einen Karrieresprung. Voller Lebensfreude, gemeinsam mit seiner jungen Familie, will er sich einen Jugendtraum erfüllen. Ohne genau zu wissen, worin dieser bestehen könnte, begibt er sich auf die Reise nach Buenos Aires in der Hoffnung, der Weg entstehe im Gehen: Die Zukunft gehört jenen, die an ihre Träume glauben. Der argentinische Projektpartner, ein Institut zur Aus- und Weiterbildung von politischen Führungskräften, wurde ihm als kompetent und vertrauenswürdig beschrieben. Hier jedoch steht der persönliche Zugriff auf deutsche Entwicklungshilfegelder im Mittelpunkt des Interesses. Krauthner trifft eine folgenschwere Entscheidung.
Im Land herrschen bürgerkriegsähnliche Zustände. Die Konflikte steigern sich ins Unermessliche, als im März 1976 eine Militärjunta die Macht übernimmt. Bonner Direktiven drängen ihn an den Rand des politisch Vertretbaren und des ethisch-moralisch Verantwortbaren. Er sieht sich in seiner Mission verraten und hintergangen. Vergeblich unterstützt er einen demokratisch, sozial-liberal gesinnten Senator: "Wir stehen auf der Seite der Freiheit." Mehr und mehr entwickelt sich sein Traum zum Albtraum. Bedroht, von schweren Gewissenskonflikten geplagt, verlässt er mit seiner Familie fluchtartig, von guten Freunden gerettet, das Land. Zurück in Deutschland überwindet er die verbannten Erinnerungen, indem er sich einem befreundeten Journalisten offenbart.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum19. Apr. 2018
ISBN9783746932958
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    Buchvorschau

    Kellergeschoss - Bernhard Hagemeyer

    Bernhard Hagemeyer

    Kellergeschoss

    Autor

    Bernhard Hagemeyer

    geboren 1939 in Bottrop

    Dipl. rer. pol.

    verheiratet, zwei Kinder

    lebt in Bonn

    www.book-art.eu

    Bernhard Hagemeyer

    Kellergeschoss

    Roman

    img1.jpg

    Impressum

    Bernhard Hagemeyer, Kellergeschoss

    © 2018 Bernhard Hagemeyer, Bonn

    Umschlaggestaltung, Illustration: book-art.eu

    Cover: Studie von Judith Oldekop, Zürich

    Rückseite: Buenos Aires, Casa Rosada, Plaza de Mayo

    Verlag und Druck: tredition GmbH, Hamburg

    ISBN

    E-Book: 978-3-7469-3295-8

    Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    MEINER FAMILIE

    ZUM POLITISCHEN HINTERGRUND DER EREIGNISSE

    In Argentinien herrschen zwischen 1973 und 1976 bürgerkriegsähnliche Zustände. Die demokratisch gewählte Regierung Perón gerät durch gewaltsame Auseinandersetzungen auf offener Straße, Mord und Totschlag, Entführung und Erpressung mehr und mehr in Bedrängnis. 1974 stirbt Staatspräsident Juan Domingo Perón. Seine Frau María Estela Martínez de Perón, bisher Vizepräsidentin, übernimmt die Regierungsgeschäfte. In Wirklichkeit bedient López Rega als graue Eminenz die Schalthebel der Politik. Die innerparteilichen Machtkämpfe zwischen den Erben des Peronismus, den Fraktionen in Partei und Gewerkschaft, der linksextremistischen Stadtguerilla, den Montoneros, auf der einen Seite und der regierungsnahen, ultrarechten paramilitärischen Triple A um López Rega auf der anderen, stürzen das Land ins Chaos. 1976, die Gesellschaft gespalten, übernimmt das Militär die Macht. 1983, am Ende der Diktatur, liegt Argentinien in politischen und wirtschaftlichen Trümmern.

    INHALT

    Vergangenes ist nicht vergessen

    IKrauthners Zeitrechnung

    II Gleis eins

    III Zwielicht

    IV Zug um Zug

    VTango Milonga

    VI Avenida Corrientes

    VII Spiel der Steckenpferde

    VIII Ruf des Wendehalses

    IX Margerite im Haar

    XSehr geehrter Herr Brigadegeneral!

    XI Flieg, Gedanke

    XII Am Ende des Weges

    Epilog

    Das riskante Manöver empfand Felix Krauthner als nicht erwähnenswert. Kein Wort verlor er darüber. Er stand an der Reling. Hatte er das nicht mitbekommen? Wo war er mit seinen Gedanken?

    Ich hatte auf der anderen Rheinseite auf ihn gewartet. Die Hände über den Kopf geschlagen, musste ich mitansehen, wie die Fähre beinahe von einem hochstehenden Frachter gerammt worden wäre.

    Nur noch bedingt manövrierfähig, auf dem Weg von Bonn-Plittersdorf nach Oberdollendorf, war die Christophorus II stromabwärts gedriftet. Wie ich später von Karlchen, dem Wirt im Schifferstübchen, erfuhr, hatte sich Treibgut in einer der Schiffsschrauben verfangen. Dem Kapitän sei es mit äußerstem Geschick sowie unter verstärktem Einsatz des noch intakten Ruders gelungen, das Schiff aus einem Müllstrudel zu befreien und an der Anlegestelle Fährstraße festzumachen.

    Wir gehen einige Schritte. Auf der Terrasse des Schifferstübchens, romantisch am Oberkasseler Rheinufer gelegen, nehmen wir Platz. Unsere Sakkos hängen wir über Stuhllehnen, klönen und lassen es uns bei Kölsch und Himmel un Ääd gut gehen. Gern schwelge ich in Erinnerungen. Krauthner weniger. Ihn interessiert die Gegenwart. Es ist Christi Himmelfahrtstag, der 27. Mai 1976.

    Wenngleich er mir nicht mit einem Kartengruß, geschweige denn einem Telefonat gratuliert hatte, habe ich ihn dennoch eingeladen, meinen vierzigsten Geburtstag aus dem vergangenen Dezember nachzufeiern. Zu der Zeit hatte er sich in Argentinien aufgehalten. Zugegeben, ein infantiler Vorwand. Aber ich muss ihn unbedingt sprechen. Er hat viel zu erzählen. Als ich mich erkundige: „Wie war es in Buenos Aires?" winkt er mit einer laschen Handbewegung ab und zieht die Mundwinkel nach unten. Wie recht er tat. Wie banal die Frage, wie infam. Ich weiß doch, wie es ihm und seiner Familie ergangen war. Sein Gesicht ist schmal geworden.

    Während ich fidelen Touristen zurückwinke, die auf einem Vergnügungsdampfer stromaufwärts fahren, schaut er einem Lastkahn nach. Am Bug steht in großen, weißen Lettern ISABELA. Mit einem Schlag ist seine frühere erfrischende Heiterkeit, seine fröhliche, ich kann sogar sagen sprühende Lebensfreude verflogen. Seine Gedanken scheinen abzuschweifen, sich zu verlieren und mit Bildern zurückzukommen. Die Stimme gesenkt -fast ist es ein Flüstern -beginnt er, den Blick nach unten geschlagen, von persönlich Erlebtem, Ereignissen und Geschehnissen in Buenos Aires zu erzählen. Es scheint, als bräche ein Damm des Schweigens. Aber kaum hat er einige Sätze gesagt, hält er inne, kramt aus der Umhängetasche eine Pfeife, raucht vor sich hin und sagt schließlich gedehnt langsam: „Warum soll ich mich ständig erinnern? Man muss einen Schlussstrich ziehen, um die Gegenwart nicht mit überkommenem Schuldgefühl zu belasten. Strich drunter, verstehst du?"

    „Was ist mit dir?", frage ich.

    „Nein, ich will davon nichts mehr hören. Ich finde es beschämend, von tristen Geschichten, von der Vergangenheit nicht loslassen zu können. Es lässt sich nichts ändern."

    Aus früheren Gesprächen glaube ich zu wissen, was in ihm vorgeht, wenn er versucht, sein Empfinden zu verbergen. Dann weiß er nicht, wie er mit Ereignissen umgehen soll, die ihn kaum betreffen. Geschehnisse, mit denen er nichts zu tun hat, bringt er dennoch mit regelrechten Schuldfantasien in Verbindung. So wird es auch jetzt sein. Er hatte mal gesagt, er könne einen Grund dafür nicht finden, nicht umschreiben, geschweige denn erklären. Ob es ein unbewusstes, traumatisierendes Erlebnis ist, das ihn bedrückt? Ich weiß es nicht. Doch ahne ich nichts Gutes.

    Jedes Wort bedeutungsvoll betonend, frage ich: „Von welchen Schuldgefühlen sprichst du?"

    Er gibt keine Antwort, sitzt mit gesenktem Kopf, seine Pfeife immer wieder erneut ansteckend, nur kurz vor sich hin paffend und bleibt stumm.

    „Weißt du noch? Erinnerst du dich?" Ich lache, um ihn aufzuheitern. „Hast du vergessen, wie wir dich zu Studentenzeiten hier, bei Karlchen in dieser Kneipe, Pulle getauft haben? Du standst kurz vor deinem Examen in Geschichte und politischer Soziologie hier an der Bonner Universität, als du eine Wette gewonnen hattest. Ohne schlucken zu dürfen sonst hättest du eine Runde zahlen müssen, und knapp bei Kasse warst du schon immer -hattest du zwei Flaschen Bier in dich hineinlaufen lassen. Der Notarzt musste dir die Kohlensäure aus dem Magen pumpen und warf dir respice finem, beachte das Ende, an den Kopf. Er könne, wenn du des Lateinischen nicht mächtig genug seiest, ebenso Wilhelm Busch zitieren: Wehe, wehe, wenn ich auf das Ende sehe! Und ihr habt mich, den bereits Alten Herrn Aloisius Plakermann, Pfaffemötz getauft, weil ich Priester werden wollte. Du weißt es so gut wie ich: Nach einer turbulenten Weiberfastnacht mit Erika hatte ich den Pfaffenrock an den Nagel gehängt. Die Mütze, die rheinische Mötz war geblieben. Lang ist’s her!"

    Ich sehe ihn gespannt an, aber er hebt nicht den Kopf, nickt nicht, sagt nichts. Denkt er darüber nach, warum ich ihm schon wieder mit dieser Geschichte komme?

    Er fände es lächerlich, wiederholt er, in der Vergangenheit herumzustochern: „Ich will Buenos Aires vergessen. Und du weißt, warum. Wieso quälst du mich damit? Hast du deshalb zum Geburtstagsdrink eingeladen?"

    Sofort gleicht sein Gesicht einer verschlossenen Kellertür. Fürchtet er, es könnten Dinge ans Tageslicht treten, die er gern unter Verschluss wüsste? Hat er Angst vor dem Schweigen?

    Es ist dunkel geworden. Im farbenprächtigen Spiel der untergehenden Sonne hebt sich die schwarze Bonner Stadtkulisse ab vom gleißenden Licht des ruhig dahinfließenden Rheins. Irgendwo schlägt ein Hund an. Ein anderer kläfft wütend zurück. Vom Ufer kriecht nasse Kälte hoch.

    Krauthner meint, ein Kölsch könnten wir noch vertragen. Wir ziehen unsere Sakkos wieder an und gehen ins Wirtshaus. Als habe man den Winter über nicht gelüftet, schlägt uns verbrauchte, stickige Kneipenluft entgegen. Karlchen, der Wirt, begrüßt uns, ohne die Pfeife aus dem Mund zu nehmen, mit bierfeuchtem Handschlag. Wie gewohnt geht er gegen elf Uhr zu Bett. Die Gäste, die bleiben möchten, wird er bitten, die Zeche aufzuschreiben, anderntags zu bezahlen, beim Verlassen der Kneipe das Licht im Schankraum auszumachen und die Tür hinter sich zuzuziehen.

    Unschlüssig, begleitet von einem gequälten Lächeln, kramt Krauthner in seiner Umhängetasche. Wortlos schiebt er mir erst jetzt eine rote Mappe über den Tisch. Als fühle er sich erleichtert, drückt er das Rückgrat durch und sagt mit fester Stimme: „Die kannst du behalten."

    Auf der Mappe steht mit dickem Filzstift geschrieben: Buenos Aires. Ich sehe ihn fragend an. Er antwortet mit einem erstickenden Lachen, das in heiseres Husten übergeht.

    Während des oberflächlichen Blätterns in Vermerken und Zeitungsausschnitten, in einem Schreibheft -darauf von flüchtiger Hand notiert: Amsterdam-Kladde -, in Briefen auch mein Brief liegt darunter -fällt mir ein kleines Couvert auf den Fußboden. Ich finde darin einen Zettel: Zerknüllt, weggeworfen, wieder entfaltet.

    Umständlich schiebe ich das Blatt zurück in den Umschlag. Mir schießt das Blut in den Kopf.

    Die Drohung der Montoneros sei ihm, wenige Tage nach dem Militärputsch, unter die Haustür seiner Wohnung in Olivos geschoben worden, sagt er.

    1. Warnung

    Movimiento Peronista Montonero

    Sección Che Guevara

    img2.jpg

    Jetzt bin ich es, der sich nicht erinnern möchte und schüttle den hochroten Kopf. „Was soll ich damit? Warum zeigst du mir deinen Erinnerungskram? Du willst doch davon nichts mehr wissen!" Wohl ist mir nicht.

    Er blickt verdutzt. Im Aschenbecher klopft er die Pfeife aus, pustet den Rest in den Raum, reibt den Dreitagebart am Kinn und beugt sich zu mir: „Nicht ich, sondern du, Alois Plakermann, mein Freund Mötz, begnadeter Journalist von Beruf, du bist der Schmock, der in der Vergangenheit stochert, stöbert und sie in die Gegenwart holt. Meine Zeitrechnung ist eine andere." Er atmet tief durch und redet sich in Rage. „Deshalb gebe ich dir diese verdammte rote Mappe. Schreib, was du willst: Auf der Grundlage mündlicher und schriftlicher Überlieferungen eines Herrn Felix Krauthner und so weiter und so fort. Mein Copyright, Bonn 1976, hast du! Die ISBN gibt dir ein Verlag. Wenn du denn einen findest."

    Da lacht er sich schief. Es ist ein spöttisches, ein überbetont lautes Lachen.

    Ich bitte Karlchen um zwei Kölsch. Er, immer ein freundliches Lächeln auf den Lippen, malt zwei Striche auf den Bierdeckel und verabschiedet sich singend mit „Gute Nacht, Freunde, es ist Zeit zu gehen …!"

    Morgen zahle ich die Zeche.

    Krauthner beginnt zu reden. Der Damm bricht endgültig. Nochmals vereinzelte Andeutungen, dann gibt es kein Halten mehr. Die Hände auf den Tisch gelegt, gefaltet, als wolle er beten, hebt und senkt er den Kopf, schaut mich an, wieder weg. Lässt den Blick durch den Kneipenraum schweifen. Gelegentlich unterbricht er seinen Redefluss, trinkt, raucht, macht kurze oder lange Pausen, lacht oder weint. Wenngleich ich viele Fragen hätte, unterbreche ich ihn nicht. Ich notiere Stichworte, gelegentlich ganze Sätze in mein dünnes Notizen-Büchlein, das ich immer bei mir trage, um Gedanken einzufangen, die mir durch den Kopf schießen. Schließlich sage ich nur: „Wir sind ein Stück des Weges gemeinsam gegangen -wenngleich du an einem anderen Ort: Buenos Aires."

    Erst am frühen Morgen werden wir das Wirtshaus verlassen, das Licht im Schankraum löschen und die Kneipentür hinter uns zuziehen.

    I

    Krauthners Zeitrechnung

    Seit dieser durchzechten Nacht lebe ich in einer merkwürdigen Stimmung. Einmal glaubte ich einen seltsamen Traum gehabt zu haben. Krauthner tat sich schwer, eine steile Treppe hinunterzugehen. Seine gebückte Haltung, den kahlen Kopf eingezogen -in Wirklichkeit trägt er kräftig gewachsenes, rotblondes Bürstenhaar -war weniger der niedrigen Decke, als seinem hohen Alter geschuldet -er ist zwei Jahre jünger als ich! Ich spürte, während ich ihn am Arm stützte, wie sich sein Zittern auf mich übertrug. Mit verschiedenen Schlüsseln öffnete er eine Kellertür. Sie knarzte in den Angeln. Stickiger, muffiger Modergeruch erinnerte an nasskalte Luftschutzkeller. Als er Licht machte, huschte eine Kakerlake über den nackten Fußboden und versteckte sich unter aus der Wand gefallenem Mörtel. Gezielt ging er auf ein Regal zu und schob die Brille auf die Stirn. -Krauthner trägt keine Brille! -Aktenordner und Bananenkisten trugen kein Datum, sondern Namen der Städte, in denen er mal gelebt hatte. Darauf angesprochen, wiederholte er flüsternd -offensichtlich wollte er Hannah und die Kinder nicht aufwecken: „Nicht die Zeit, der Ort bestimmt die Erinnerung. Erinnerung, befreit von Zeit, bestimmt der Ort Schuld und Angst." Als er das sagte, setzte er die Brille zurück auf die Nase, zwinkerte mit dem Auge und zeigte ein hohlwangiges, fratzenhaftes Gesicht. Er begann zu weinen, löschte das Licht, und ich sah, wie die Kakerlake zurückkam.

    Schweißgebadet wache ich auf, bleiern liegt mein Körper in den Kissen. Auf dem Weg zum Kühlschrank sehe ich auf dem Küchentisch die rote Mappe. Merkwürdig, brumme ich und gehe ins Bad.

    Von meinem Fenster aus lasse ich den Blick in den blaugrauen Horizont schweifen. Eine Amsel komponiert ein melodisches Guten-Abend-Lied. Es könnte eine beschauliche Ruhe über dem Ennertwald liegen: Stille, so weit das Auge reicht. Doch böse krächzend liefert eine Krähe einem Mäusebussard-Pärchen, das im Segelflug kreisend nach Nahrung sucht, einen beängstigenden Luftkampf. Ist es der Auftakt für diese Zeilen, da ich nunmehr vom Schicksal der jungen Familie Krauthner erzähle?

    Montevideo, Beginn seiner, wie er es nennt, kleinen, persönlichen Zeitrechnung. Er heuerte 1967 an einem Bonner Institut für Internationale Kooperation, IIK, an, um im südamerikanischen Uruguay seine Sprachkenntnisse zu vervollständigen und Auslandserfahrungen zu sammeln. Nach seiner Rückkehr, so hatte man ihm versprochen, werde man ihm bei seiner beruflichen Planung mit Aussicht auf eine politische Karriere zur Seite stehen. Beruflich unerfahren, hatte er zu sehr vertraut. Nach Montevideo, zwei Jahre später, stand er jedoch vorübergehend ohne sinnvolle Beschäftigung auf der Straße -getreu den Bonner Gepflogenheiten: Die Unverbindlichkeit von Absprachen.

    Einige Jahre später, am 30. März 1975, erreicht ihn von eben diesem Institut ein Anruf. Krauthner ist, wie sein Vater im westfälischen Platt zu sagen pflegte, von de Klötzkes: sprachlos, bass erstaunt. Geht noch einmal ein Wunsch in Erfüllung, den er lange nicht mehr gewagt hatte zu träumen? Er freut sich unbändig.

    Am nächsten Tag verabreden wir uns nicht wie gewohnt bei Karlchen im Schifferstübchen, sondern in Bad Godesberg bei Ria, in einem von mir gern und häufig frequentierten Restaurant, nahe dem Kurpark und dem Bahnhof gelegen. Journalisten aller Schattierungen, Politiker jeglicher Couleur, ehrenwerte und windige Lobbyisten, auch intelligente Zeitgenossen, Intellektuelle und solche, die sich dafür halten und dazugehören möchten, gehen hier ein und aus.

    Mir waren ungute Ahnungen gekommen, als er mir am Telefon sagte, welches Institut angerufen hatte. Doch mit einer wegwerfenden Handbewegung schob ich meine Bedenken beiseite. Obschon in Sorge um ihn und seine junge Familie, wollte ich meinem langjährigen Freund Felix keine Steine in den Weg legen und tat, als sei ich begeistert. Ich suchte aber auch meinen Vorteil: Ich recherchierte damals über seltsame Wirtschaftsbeziehungen dieses Bonner Instituts nach Südamerika. Über Korruption, Veruntreuung von deutschen Steuergeldern und Schwarzen Kassen. Dunkle Geschäfte waren ruchbar geworden. Bundestagsabgeordnete schienen verwickelt.

    Krauthner schnippt mit den Fingern. Ob er nicht ins IIK zurückkommen wolle, habe man ihn gefragt, beginnt er zu erzählen, ehe er Platz genommen hat. Angedacht sei ein Projekt zur Stärkung der Demokratie in Argentinien. Man möchte auf seine überaus wertvollen Kenntnisse, schöpferische Kreativität und umfangreichen Erfahrungen einschließlich seiner hervorragenden Spanischkenntnisse zurückgreifen, die für ein derart anspruchsvolles Vorhaben unerlässlich seien. Er sei, wenngleich noch jung, ein beschlagener Fahrensmann und als Projektleiter prädestiniert.

    „Hat er das so formuliert?", frage ich.

    Bedenklich schüttelt er den Kopf. „Na, nicht wörtlich, aber doch fast. Dabei habe ich einen übertriebenen, auch ironischen, vielleicht falschen Unterton herausgehört. Ich weiß nicht."

    „Ein Gesülze, was der Mann am Telefon abgesondert hat. Schmeicheleien -immer ein zwielichtiges Unterfangen!", gebe auch ich zu bedenken.

    Er hält inne, zündet umständlich eine Pfeife an und inhaliert tief.

    „Deine Zweifel scheinen berechtigt", sage ich.

    „Auf der anderen Seite -wann bekomme ich nochmals so

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