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Der vergessene Soldat: Originaltitel "Le Soldat oublié", Übersetzung aus dem Französischen
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Der vergessene Soldat: Originaltitel "Le Soldat oublié", Übersetzung aus dem Französischen
eBook877 Seiten12 Stunden

Der vergessene Soldat: Originaltitel "Le Soldat oublié", Übersetzung aus dem Französischen

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Über dieses E-Book

Ein Welterfolg (1967), neu im Helios-Verlag verlegt, das in mehr als dreißig Sprachen übersetzt und über drei Millionen Mal verkauft wurde.

"Ich werde versuchen den Abgrund der menschlichen Perversion angemessen zu beschreiben und das zum Ausdruck zu bringen, was ich mir niemals hätte vorstellen können, was mir unmöglich erschienen wäre, hätte ich es nicht erlebt …"

Geboren im Elsass als Sohn eines französischen Vaters und einer deutschen Mutter, war Sajer siebzehn Jahre alt, als er 1942 in den Mahlstrom des Zweiten Weltkrieges gezogen wurde. Er hat früher als andere die Sprache wiedergefunden und ein bis heute einzigartig fesselndes Dokument hinterlassen, das dem Grauen des Krieges und der Hilflosigkeit, mit welcher der einzelne Soldat seiner alles überrollenden Walze gegenübersteht, so nahe kommt wie es die einfache Aneinanderreihung von Worten nur zulässt.

Scheint dem jungen Sajer zu Beginn alles noch wie ein großes Abenteuer, so holt ihn Hunger, Kälte, Angst und die entfesselte Gewalt des Krieges in Kursk, Charkow und Bjelgorod bald auf den Boden der Tatsachen zurück. Doch dieser Krieg hat ihn schon ganz vereinnahmt und es gibt kein Zurück mehr. Das Blatt im Osten beginnt sich zu wenden, und die deutschen Soldaten in Russland treten einen zähen, harten und grausam umkämpften Rückzug an, der ihn über Rumänien und Polen bis nach Memel an der Ostsee führt, wo er das blutige Inferno des Untergangs erlebt.

Am Ende bleibt das zutiefst Menschliche des großen Leids als etwas zurück, das größer und nachhallender ist als die Dokumentation der Zeit und des Krieges. Sajer bringt das aus seiner Erinnerung ans Licht, und wir wollen und können nicht wissen, welche unendliche Mühe ihn das gekostet haben mag.

"Das Buch verdichtet Raum und Zeit zu einem einzigen pochenden Schmerz" (Time Magazine)

"Niemand, der das Buch zu Ende liest, wird es je wieder vergessen" (New York Times)

"Eine epische Geschichte, großartig erzählt." (Wall Street Journal)
SpracheDeutsch
HerausgeberHelios Verlag
Erscheinungsdatum15. Juni 2016
ISBN9783869331584
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    Buchvorschau

    Der vergessene Soldat - Guy Sajer

    Bahnhof.

    Erster Teil. Russland

    Herbst 1942

    Erstes Kapitel. Nach Stalingrad

    Minsk. Kiew. Die Feuertaufe. Charkow

    Neben einer langen Kolonne von Eisenbahnwaggons machten wir Halt. Es kam der Befehl, die Gewehre am Bahndamm zusammenzustellen und das Gepäck abzulegen. Es war etwa ein Uhr am Mittag. Laus hatte etwas Proviant aus seinem Gepäck geholt und kaute darauf herum. Sein Gesicht, obgleich nicht sehr einnehmend, war uns vertraut geworden, und seine Anwesenheit gab uns Sicherheit. Seine Geste war wie ein Signal, und wir holten alle unser Essen heraus. Einige vertilgten gleich so viel, dass es zwei Mahlzeiten entsprach. Laus bemerkte es, begnügte sich aber damit zu erklären: »Fresst nur! Fresst alles auf! … Aber keine Proviantausgabe mehr innerhalb der nächsten acht Tage!«

    Dennoch hatten wir das Gefühl, nicht einmal die Hälfte der Menge gegessen zu haben, die wir gebraucht hätten, um unseren Bärenhunger zu stillen. Immerhin haben wir uns ein wenig aufgewärmt.

    Nun warteten wir schon seit zwei Stunden, und die Kälte begann uns zu durchdringen. Wir liefen hin und her, blödelten herum und trampelten mit den Füßen, um sie warm zu halten. Einige brachten es fertig zu schreiben, meine Finger waren aber zu steif dafür. Ich begnügte mich damit zu beobachten. Unaufhörlich fuhren Züge mit Kriegsmaterial ein. Sie stauten sich am Bahnhof in einer Länge von etwa sechshundert Metern. Das Ganze schien sehr schlecht organisiert zu sein. Einzelne Wagenkolonnen fuhren vor, nur um gleich wieder zurückgeschoben zu werden. Einige Kompanien standen sich wie wir die Beine in den Bauch, andere mussten ausweichen, um einen Zug vorbeizulassen, der gleich wieder zurückgeschickt wurde. Ein heiliges Durcheinander.

    Der Zug, an dem wir lehnten, schien für alle Zeiten stehen geblieben zu sein. Vielleicht war es besser, er setzte sich niemals in Bewegung.

    Um mich zu beschäftigen, zog ich mich zu den Öffnungen der Wagen hoch, durch welche die Tiere ein wenig frische Luft bekamen. Anstelle von Tieren waren die Waggons aber vollgestopft mit Munitionskästen.

    Vier Stunden warteten wir nun schon. Auf Grund der Untätigkeit war uns bitterkalt geworden. Die Temperaturen erreichten den Gefrierpunkt, und die Dämmerung brach langsam herein. Um die Zeit totzuschlagen, griffen wir wieder zu unseren Vorräten. Es wurde Nacht, doch der Zugverkehr ging im Schein spärlicher Beleuchtung weiter. Laus schien ebenfalls die Nase voll zu haben. Er hatte die Mütze über die Ohren gezogen, den Mantelkragen hochgeschlagen und lief auf und ab. So musste er mindestens zwanzig Kilometer zurückgelegt haben. Inzwischen hatten wir eine kleine Gruppe von Kameraden gebildet, die lange zusammenbleiben würde. Einige von ihnen kannte ich schon seit Chemnitz: Lensen, Olensheim und Halls – drei Deutsche, die genauso schlecht Französisch sprachen wie ich Deutsch; Morvan, ein Elsässer, und Uterbeick, ein brünetter Österreicher, der wie ein italienischer Tänzer frisiert war und sich später von unserer Gruppe trennen würde. Und dann ich selbst, halb Franzose, halb Deutscher. Wir sechs lernten jeder ein bisschen von der Sprache der anderen, mit Ausnahme des verdammten Uterbeick, der nicht aufhören wollte italienische Schnulzen zu summen. Seine Klagelieder klangen ziemlich fremd in unseren Ohren, die eher an Wagner, als an italienische Komponisten gewöhnt waren. Besonders die Leiden eines verlassenen neapolitanischen Liebhabers waren nicht mitanzuhören.

    Halls besaß eine Uhr mit Leuchtziffern, auf der wir erkennen konnten, dass es halb neun war. Bestimmt ging es bald los, schließlich wollten wir hier nicht übernachten. … Eine Stunde später hatten viele von uns bereits ihre Decken abgeschnallt und sich so gut es ging auf den Boden gelegt – vorzugsweise auf erhöhte Stellen, um sich vor der Feuchtigkeit zu schützen. Einige hatten sogar den Mut, sich unter die Waggons zu legen. Sie hofften, dass der Zug nicht abfahren würde.

    Unser Feldwebel hatte sich einfach auf einen Stapel Eisenbahnschwellen gesetzt. Er rauchte eine Zigarette, und jedesmal wenn sie aufglomm, sah man seine müden Gesichtszüge. Was unsere kleine Gruppe anging, so konnten wir uns nicht gut damit abfinden, die Nacht draußen verbringen zu müssen. Man konnte uns doch unmöglich hier schlafen lassen. Bestimmt würde bald zur Abfahrt gepfiffen werden, und all die Dummköpfe, die keine Geduld gehabt hatten, würden dann alle Mühe haben, in der Eile ihre Decken einzusammeln. Tatsächlich hätten wir besser daran getan, ihrem Beispiel zu folgen und dadurch zwei Stunden Schlaf zu gewinnen. Denn zwei Stunden waren seither vergangen, und wir saßen noch immer auf dem Schotter des Bahndammes. Es wurde immer kälter, und es begann leicht zu regnen. Unser gutmütiger Feldwebel war dabei, sich mit den Eisenbahnschwellen einen Unterstand zu bauen, was keine dumme Idee war. Er spannte noch seine wasserdichte Plane darüber und schützte sich so wirkungsvoll gegen den Regen.

    Nun wurde es auch für uns Zeit, einen Unterstand zu finden, der diesen Namen verdiente. Doch wir konnten uns nicht allzu weit von den Haufen mit den Gewehren entfernen und diese dort im Freien lassen, wo sie dem Regen ausgesetzt waren. Das würde sonst später einen ordentlichen Ärger geben. Natürlich waren die besten Plätze besetzt, und es blieb uns nichts anderes übrig, als unter die Wagen zu kriechen. Wir hätten gern Unterschlupf in den Waggons selbst gefunden, aber die Türen waren fest mit Draht verschlossen.

    Fluchend nahmen wir unter diesem äußerst unheimlichen und sehr notdürftigen Schutz Platz. Der Regen fiel schräg vom Himmel und gelangte so auch unter die Wagen. Das, dachte ich, sollte die deutsche Armee sein! Wir waren wütend. Im Nachhinein konnte ich über dieses bisschen Ärger nur lachen …

    Mehr schlecht als recht gelang es uns, Schutz vor dem verdammten Regen zu finden. Dies war meine erste Nacht unter freiem Himmel. Es ist wohl überflüssig hinzuzufügen, dass ich kaum ein Auge zugetan habe. Ich erinnere mich, dass ich lange Zeit die Radachse fixiert habe, die mein Baldachin war. In meiner Müdigkeit bildete ich mir ein, dass sie sich drehte, so als ob sich der Zug in Bewegung setzen würde. Ich schreckte hoch, nur um festzustellen, dass sich nichts rührte, und fiel dann wieder in einen Halbschlaf – nur um erneut hochzufahren. Beim ersten Tageslicht verließen wir unser komfortables Hotel, steif, niesend und mit leichenblassen Gesichtern.

    Um acht Uhr hieß es Antreten und Abmarsch zu den Bahnsteigen. Halls unterließ es nicht kundzutun, wir hätten ruhig einen Tag länger auf der Burg bleiben und erst in der Früh aufbrechen können, um dennoch rechtzeitig hier zu sein. Der arme Junge – genausowenig wie wir hatte er zu diesem Zeitpunkt eine Ahnung von den zermürbenden Anforderungen des Soldatenlebens im Krieg. Dies war unsere erste Nacht im Freien, und es sollte nicht die letzte sein. Bald lernten wir weit schlimmere kennen.

    Wir wurden als Zugbegleiter eingeteilt. Unsere Kompanie wurde auf drei lange Transportzüge für Militärmaterial verteilt, zwei bis drei Mann pro Waggon. Ich fand mich mit Halls und Lensen auf einem offenen Güterwagen wieder, der mit Tragflächen von Flugzeugen beladen war, die ein schwarzes Balkenkreuz trugen, sowie mit anderem, mit Planen bedecktem Material. Der Zug war für die Luftwaffe bestimmt. Den Aufschriften nach kam er aus Regensburg und fuhr nach Minsk.

    Minsk – das war Russland. Wir schluckten.

    Vom Pech verfolgt, waren wir zur Fahrt auf einem offenen Waggon verdonnert worden. Der Regen hatte sich in Schnee verwandelt und es herrschte eine unerträgliche Kälte, die durch den Fahrtwind noch verschlimmert wurde. Kurz entschlossen krochen wir unter eine große Plane, die den riesigen Motor einer Do-17 abdeckte. Das hielt den Wind ab, und indem wir ganz nah zusammenrückten, verschafften wir uns einen Hauch von Wärme. Eine gute Stunde blieben wir dort und alberten herum. Der Zug fuhr mit einer Geschwindigkeit von etwa sechzig Stundenkilometern, und wir hatten keine Ahnung, was draußen vorgehen mochte. Von Zeit zu Zeit vernahmen wir das Dröhnen von Zügen, die in entgegengesetzte Richtung an uns vorüberfuhren.

    Plötzlich glaubte Lensen, im Lärm des fahrenden Zuges jemanden rufen gehört zu haben. Vorsichtig streckte er den Kopf aus unserer Deckung heraus.

    »Es ist Laus«, sagte er, drehte sich unbeeindruckt um und zog die Plane wieder zu. Zehn Sekunden später wurde diese weggerissen, und der Feldwebel bekam angesichts unserer heiteren Mienen einen Wutanfall. Laus war in voller Dienstmontur, mit Stahlhelm und Handschuhen. Seine Kapuze und das Gesicht darunter waren ebenso verschneit wie der Rest des Zuges, der sich schwankend hinter seiner Silhouette abzeichnete. Ein schallendes »Achtung!«, schlug uns entgegen, aber das Rütteln des Waggons machte es unmöglich, diesem Befehl mit einer der Situation angemessenen Diensteifrigkeit nachzukommen.

    Die Szene wäre einer Burleske würdig gewesen! Ich sehe heute noch, wie sich der Riese Halls vergeblich bemühte Haltung anzunehmen, während er hin- und hergeworfen wurde. Auch ich schaffte es partout nicht mich komplett aufzurichten, weil sich mein langer Mantel in einem der vielen Teile des Flugzeugmotors verhakt hatte. Doch selbst Laus war nicht in der Lage eine würdevolle Haltung zu bewahren. Verzweifelt stützte er sich mit einem Knie auf die Plattform, und wir machten es ihm nach. Aus einer gewissen Entfernung mussten wir wie vier Verschwörer ausgesehen haben, die ihre Köpfe zusammensteckten und sich irgendwelche Geheimnisse anvertrauten. In Wahrheit wurden wir ordentlich zur Sau gemacht.

    »Was treibt ihr da unten?«, schrie Laus. »Was glaubt ihr, wo ihr seid? Was denkt ihr denn, wozu ihr auf diesem Zug seid?«

    Halls, der sich gern spontan äußerte, erlaubte sich, das Wort an unseren Vorgesetzten zu richten. Es sei nur unter dieser Plane möglich gewesen es hier auszuhalten, die Kälte sei mörderisch, und da es ohnehin nichts zu bewachen gäbe … Halls Äußerungen zeugten ganz offensichtlich von einem völligen Mangel an Objektivität.

    Wie ein wütender Gorilla packte der Feldwebel unseren Kameraden beim Kragen und schüttelte ihn heftig hin und her, während er ihn mit Flüchen überschüttete. »Ich mache Meldung! Beim ersten Halt lasse ich euch in eine Strafkompanie versetzen. Ihr habt einfach euren Posten verlassen! Ihr riskiert das Erschießungskommando … Wenn ein Waggon hinter euch in die Luft gegangen wäre, was dann? Ihr hättet von eurem Nest aus nicht Alarm schlagen können!«

    »Wieso«, wagte Lensen einzuwenden »sollte ein Waggon in die Luft gehen?«

    »Halt‘s Maul, du Trottel! Es gibt Partisanen, die entlang der Eisenbahnlinien lauern. Wenn sie die Züge nicht gerade in die Luft jagen, dann werfen sie Spreng- oder Brandkörper rein, wenn die Wagen langsam fahren. Um so etwas zu verhindern seid ihr hier! Schnappt euch eure Helme und dann ab nach vorne, oder ich schmeiße euch aus dem Zug!«

    Wir ließen es uns nicht zweimal sagen und bezogen trotz der Kälte, die uns ins Gesicht schnitt, Posten an besagtem Ort. Laus setzte seine Runde fort, indem er von einem Waggon zum anderen kletterte. Der Mann war kein Drückeberger, er hatte eine genaue Vorstellung von den Pflichten, die er zu erfüllen hatte. Ich habe es nie erlebt, dass er sich vor irgendeiner Aufgabe gedrückt hätte. Wahrscheinlich fand ich ihn deshalb irgendwie sympathisch, obwohl ich noch nie mit ihm gesprochen hatte. Alle anderen Feldwebel der Kompanie stellten im normalen Dienst weniger strenge Anforderungen. Sie gaben vor, sich für die große Aufgabe bereitzuhalten, aber wenn es darauf ankam, war Laus genauso auf seinem Posten wie sie, wenn nicht mehr. Er war der Älteste unter ihnen. Wir wussten aber nicht, ob er schon an der Front gewesen war. Im Grunde war er wie alle Feldwebel der Welt: pflichtbewusst, und nahezu Unmögliches von uns fordernd. Mit seiner Standpauke hatte er zu Recht die Frage aufgeworfen, was aus uns im Angesicht des Feindes werden sollte, wenn wir nicht einmal fähig waren, ein bisschen Kälte und Gefahr auszuhalten. Ich nahm mir seine Vorwürfe zu Herzen. Schlagartig wurde ich mir meiner Rolle bewusst. Es wäre doch zu dumm, uns von irgendeinem Anarchisten in die Luft jagen zu lassen, bevor wir irgendetwas anderes gesehen hätten.

    Wir fuhren jetzt durch einen Wald mit niedrigen, verschneiten Tannen. So konnte ich mit Muße über die Gewissensfrage nachdenken, die der Feldwebel aufgeworfen hatte, und gleichzeitig die Landschaft bewundern. Dieser nördliche Teil Polens war wirklich spärlich besiedelt; nur selten waren wir an Dörfern vorbeigekommen. Plötzlich bemerkte ich vor dem Zug eine Silhouette, die den Eisenbahndamm entlanglief. Ich nahm nicht an, dass ich der einzige war, der die Gestalt sah, aber niemand auf den Waggons vor mir schien zu reagieren.

    Ich lud schnell meine Mauser durch, legte das Gewehr auf der sich vor mir befindenden Kiste auf und zielte auf die Gestalt, die nur ein Partisan sein konnte. Unser Zug fuhr langsam. Die Gelegenheit, einen Sprengkörper zu werfen, wäre günstig gewesen. Bald war der Mann auf meiner Höhe. Ich konnte an seinem Verhalten nichts Verdächtiges entdecken; wahrscheinlich war es ein polnischer Waldarbeiter, der aus Neugierde herangekommen war. Die Arme in die Hüften gestemmt sah er sich ruhig den Zug an. Ich war völlig verwirrt. Ich war bereit zu schießen, doch nichts rechtfertigte meine Absicht. Da hielt ich es nicht länger aus, zielte ein Stück weit über seinen Kopf und drückte ab.

    Die Denotation ließ die Luft erzittern, und der Gewehrkolben schlug heftig gegen meine Schulter, denn ich hatte in meiner Aufregung den Karabiner nicht ordentlich gehalten. Der arme Kerl lief davon, was seine Beine hergaben, mit dem Schlimmsten rechnend. Ich bin sicher, dass ich durch mein unbedachtes Handeln dem Reich einen weiteren Feind beschert hatte.

    Der Zug hatte seine Geschwindigkeit nicht verringert. Einige Augenblicke später tauchte Laus auf, der trotz der Kälte seine endlosen Kontrollen fortsetzte. Er sah mich erstaunt an.

    Wir hatten nun trotz der Befehle entschieden uns abzuwechseln. Zwei von uns standen Wache, der Dritte versuchte sich unter der Plane aufzuwärmen. Wir waren jetzt an die acht Stunden ununterbrochen unterwegs und fürchteten uns vor der Nacht, die wir wahrscheinlich auf dieselbe Weise würden verbringen müssen. Vor zwanzig Minuten hatte ich Halls abgelöst, und seit zwanzig Minuten kämpfte ich vergeblich gegen das Zittern an. Die Nacht kam näher, und mit ihr vielleicht auch Minsk. Wir fuhren auf einer eingleisigen Strecke; im Norden wie im Süden waren wir von dunklem Wald umgeben. Seit einer Viertelstunde hatte der Zug seine Fahrt beschleunigt, was uns nun endgültig würde gefrieren lassen. Auch hatten wir bereits einen großen Teil unserer Verpflegung aufgegessen, um keinen Kalorienmangel zu erleiden.

    Plötzlich verlangsamte der Zug seine Geschwindigkeit. Die Bremsen kreischten auf den Rädern und die Kupplungen prallten heftig aufeinander. Bald fuhren wir nur mehr so schnell wie ein Radfahrer. Ich sah den Zug vorne nach rechts schwenken: Wir bogen ab auf ein Neben- oder Abstellgleis.

    Noch etwa fünf Minuten fuhren wir weiter, dann stand der Zug still. Aus den ersten Waggons sprangen zwei Offiziere und gingen den Zug entlang nach hinten. Laus und zwei Unteroffiziere gingen ihnen entgegen. Sie besprachen etwas miteinander, doch wir erhielten keine Kenntnis darüber.

    Wir horchten nach allen Richtungen. Der Wald, der uns umgab, schien für Angriffe jeder Art wie geschaffen. Wir waren gerade ein paar Minuten da, als ein ratterndes Geräusch ertönte. Um uns die Füße zu vertreten und durch die Bewegung etwas aufzuwärmen, waren wir von den Waggons gesprungen; doch ein Pfiff, begleitet von Gesten, forderte uns auf wieder unsere Posten einzunehmen. Auf dem rechten Gleis kam uns in der Ferne eine dampfende und völlig unbeleuchtete Lokomotive entgegen.

    Was ich dann sah, ließ mich vor Schreck erstarren. Ich wünschte ich wäre ein begabter Schriftsteller, um beschreiben zu können, was sich unseren Blicken bot. Zuvorderst kam ein mit Eisenbahnmaterial beladener Waggon, den die Lokomotive vor sich herschob, und der die Ursache dafür war, dass ich den Zug für unbeleuchtet gehalten hatte. Anschließend kam die rauchende und japsende Lokomotive selbst, ihr Tender sowie ein geschlossener Waggon, durch dessen Dach ein kurzer Schornstein hervorragte, von dem dünner Rauch aufstieg – offenbar die Feldküche. Der folgende Waggon mit hohen Seitenwänden war mit bewaffneten deutschen Soldaten besetzt; ein Zwillings-MG war auf den Rest des Zuges gerichtet: Er bestand aus offenen Waggons, ähnlich den unseren, nur hatten sie eine ganz andere Fracht. Auf der ersten Ladefläche, die vor meinen erstaunten Augen vorbeizog, sah ich nur eine undefinierbare Masse. Bei genauerem Hinsehen erkannte ich, dass es übereinander gestapelte Menschen waren. Direkt dahinter waren andere in kauernder Haltung oder stehend aneinander gepresst. Jeder Waggon war bis zum Bersten voll. Einer von uns, der erfahrener war als ich, sagte nur zwei Worte: »Russische Gefangene.«

    Ich hätte eigentlich die braunen Mäntel erkennen müssen, die ich schon einmal in der Umgebung unserer Burg gesehen hatte, aber es war bereits zu dunkel. Halls sah mich an; abgesehen von den durch den Frost hervorgerufenen roten Flecken war sein Gesicht kreidebleich.

    »Hast du gesehen«, sagte er leise, »sie stapeln ihre Toten vorne auf, um sich vor der Kälte zu schützen.«

    »Was!?«, sagte ich verstört.

    Tatsächlich hatte jeder Waggon vorne seinen Stapel Leichen. Gebannt durch diesen grauenvollen Anblick war ich außerstande meinen Blick von dem Schauspiel abzuwenden, das da langsam an mir vorbeizog. Flüchtig sah ich blutleere Gesichter und nackte, von Frost und Tod steife Füße.

    Gerade fuhr ein zehnter Waggon an mir vorbei, als etwas noch Schrecklicheres passierte. Von einem der wackeligen, makabren Stapel glitten vier bis fünf Körper herunter und fielen neben die Gleise. Der Todeszug hielt nicht an. Nur die Gruppe unserer Offiziere und Unteroffiziere näherte sich. Der Zug rollte weiter vorbei; er war endlos lang. Ich weiß nicht mehr, was mich veranlasste herunterzuspringen und zu den Offizieren zu gehen. Verstört salutierte ich und fragte stotternd, ob die Leute tot seien. Einer der Offiziere sah mich erstaunt an, und es wurde mir klar, dass ich meinen Posten verlassen hatte. Er sah wie durcheinander ich war und äußerte nicht den geringsten Vorwurf.

    »Ich fürchte, ja«, sagte er traurig. »Du wirst deinen Kameraden helfen, sie zu beerdigen.«

    Dann drehte er sich um und ging weg. Halls war mir gefolgt; wir kehrten zu unserem Waggon zurück um die Spaten zu holen und begannen etwas seitab vom Bahndamm eine Grube auszuheben. Laus und ein anderer durchsuchten die Leichen nach irgendwelchen Hinweisen auf deren Identität. Ich erfuhr später, dass die Mehrzahl dieser armen Teufel keine Papiere hatte. Halls und ich nahmen unseren ganzen Mut zusammen und zogen, ohne hinzusehen, zwei Leichen in die Grube.

    Als wir gerade dabei waren die Körper mit Erde zuzudecken, wurde zur Abfahrt gepfiffen. Es wurde zunehmend kälter und wir waren tief erschüttert. Ein ungeheurer Ekel packte mich.

    Eine Stunde später passierten wir zwei Gebäudereihen. Trotz der fehlenden Beleuchtung konnten wir sehen, dass sie mehr oder weniger zerstört waren. Ein weiterer Zug kam uns entgegen, nicht so schrecklich wie der vorhergehende, aber auch nicht gerade ermutigend. Er bestand aus großen Waggons, die mit dem roten Kreuz versehen waren. Durch die Fenster sahen wir Tragbahren, es musste sich um Schwerverwundete handeln, wenn sie auf diese Art transportiert wurden. An anderen Fenstern gaben uns Soldaten mit Verbänden freundschaftliche Zeichen. Endlich erreichten wir den Bahnhof von Minsk. Unser Zug hielt an einem breiten und langen Bahnsteig, der von Menschen wimmelte: Soldaten in voller Ausrüstung oder in Arbeitskleidung, Zivilisten, russische Kriegsgefangene, die von anderen Gefangenen mit rot-weißen Armbinden bewacht wurden. Letztere waren meist mit Stöcken oder Knüppeln bewaffnet – es waren Antikommunisten, die berüchtigte Volkskommissare der russischen Armee denunziert und sich so das Recht erkauft hatten, ihre Kameraden überwachen zu dürfen. Das spielte uns in die Hände; niemandem gelang es besser als ihnen, aus den Gefangenen gute Arbeitsleistungen herauszuholen.

    Zuerst hörte man Befehle auf deutsch, dann auf russisch. Eine Menschenmasse näherte sich unserem Zug, und im Licht von Lkw-Scheinwerfern begann auf dem Bahnsteig das Ausladen. Wir beteiligten uns an dieser Arbeit, die etwa zwei Stunden dauerte und uns ein bisschen aufwärmte. Wieder griffen wir zu unseren Vorräten. Der Fresssack Halls hatte in zwei Tagen bereits mehr als die Hälfte seiner Verpflegung aufgebraucht. Für den Rest der Nacht wurden wir in einem großen Gebäude untergebracht, wo wir halbwegs bequem schliefen.

    Am nächsten Tag wurden wir zu einem Lazarett gebracht, in dem wir eine Reihe von Impfungen erhielten. Hier blieben wir zwei Tage. Minsk sah aus, als hätte es einiges durchgemacht. Es gab viele zerstörte Häuser mit von Einschüssen durchlöcherten Fassaden. Manche Straßen waren für jedwede Fahrzeuge unpassierbar. Ein Bomben- oder Granattrichter folgte auf den anderen, sodass sie teilweise sogar ineinander übergingen. Oft waren die Krater bis zu vier, fünf Meter tief. Hier musste es ordentlich eingeschlagen haben! Behelfspfade aus Brettern und anderen Materialien überbrückten dieses Chaos. Von Zeit zu Zeit machten wir einer Russin Platz, die mit einem großen Vorratsbeutel bepackt war und immer drei bis vier Knirpse im Gefolge hatte. Diese starrten uns mit unglaublich großen Augen an. Es gab auch einige merkwürdige Geschäfte, deren schmale, zerbrochene Schaufenster durch Bretter oder Strohsäcke ersetzt worden waren. Um zu erfahren, was in ihnen verkauft wurde, machten Halls, Lensen, Morvan und ich ein paar Abstecher hinein. Hier gab es große Steinguttöpfe in verschiedenen Farben, gefüllt mit einer Flüssigkeit – wahrscheinlich ein Getränk –, in der irgendwelche Pflanzen schwammen oder mit verschiedenen Sorten getrockneten Gemüses. Andere beinhalteten einen undefinierbaren Sirup, irgendetwas zwischen Marmelade und Butter.

    Da wir auf Russisch nicht einmal guten Tag sagen konnten, redeten wir nur untereinander, wenn wir diese Geschäfte betraten. Die wenigen Russen, die wir dort antrafen, verfielen meistens in Schweigen und nahmen eine halb höfliche, halb ängstlich Haltung ein. Für gewöhnlich kamen die Hausherrin oder der Hausherr mit einem strahlenden Lächeln auf uns zu und boten uns in großen Schöpflöffeln ihre wunderbaren Erzeugnisse an, mit dem Ziel die furchterregenden Kämpfer, die sie offenbar in uns sahen, zu besänftigen.

    Oft gaben sie uns ein feingemahlenes, gelbes Mehl gemischt mit diesem Sirup. Es schmeckte nicht unangenehm und erinnerte, natürlich nur sehr entfernt, an Honig. Unangenehm war nur der hohe Fettgehalt. Ich sehe noch immer die Gesichter der Russen, wie sie uns lächelnd diese Paste anboten und dabei etwas aussprachen, das wie »Urlka« klang. Ich habe nie erfahren, ob das heißen sollte: »Bedienen Sie sich, essen Sie«, oder ob es einfach der Name dieser Mischung war. Es gab Tage, da schwelgten wir geradezu in Urlka. Was uns nicht daran hinderte, uns pünktlich um elf Uhr zur Essenausgabe einzufinden.

    Halls nahm alles, was ihm die Russen so höflich anboten. Es gab Momente, in denen er mich anwiderte. Er hielt den russischen Händlern sein Essgeschirr zum Befüllen hin, die ihm stets lächelnd darin verschiedene flüssig-triefende Speisen zusammenschütteten. In seinem Geschirr mischte sich das berühmte Urlka mit geröstetem Korn, zerstückelten Salzheringen und verschiedenen anderen Dingen. Halls das Schwein verschlang alles mit unerschütterlicher Zufriedenheit.

    Von diesen Momenten der Zerstreuung in den Pausen unseres Dienstes abgesehen, hatten wir kaum Gelegenheit uns zu amüsieren. Minsk war ein großes Nachschubzentrum der Armee. Auf- und Abladen lösten sich unaufhörlich ab. Die Truppe war in diesem Sektor bestens organisiert. Es gab regelmäßig Post, für die Soldaten, die außer Dienst waren, gab es Kinos, zu denen wir anderen aber keinen Zutritt hatten, es gab Bibliotheken und Restaurants, die von russischen Zivilisten geführt wurden, aber ausschließlich deutschen Soldaten vorbehalten waren. Sie waren ziemlich teuer, ich für meinen Teil bin nie hingegangen. Halls, der alles geopfert hätte um sich vollzustopfen, gab dort sein ganzes Geld sowie einen Teil unseres Geldes aus. Selbstverständlich musste er uns dann alles ganz genau schildern, was er mit entsprechenden Ausschmückungen auch tat. Beim Zuhören lief uns das Wasser im Mund zusammen.

    Wir wurden hier besser versorgt als in Polen und konnten uns zusätzlich fast umsonst besorgen, was wir uns an Verpflegung wünschten. Das war auch nötig. Es herrschte jetzt, zu Anfang Dezember, strenge Kälte. Die Temperatur erreichte dreizehn bis vierzehn Grad unter Null, und der Schnee, der immer wieder fiel, taute nicht weg. Stellenweise lag er einen Meter hoch. Dadurch verzögerte sich die Versorgung der Fronttruppen natürlich sehr, und den Erzählungen der Infanteristen zufolge, die aus den vorderen Linien zurückkamen, wo die Kälte noch mörderischer war als in Minsk, mussten sich die armen Kerle dort winzige Rationen teilen. Die Kälte und der Mangel an Kalorien führten zu körperlichen Leiden wie Lungenentzündungen, Erfrierungen, usw.

    Das Reich unternahm zu dieser Zeit gewaltige Anstrengungen, um die Truppen vor dem erbarmungslosen Feind des russischen Winters zu schützen. In Minsk, Kowno und Kiew sahen wir zu riesigen Stapeln aufgetürmt Decken, spezielle Winterbekleidung aus Lammfell sowie Stiefel mit dicken, isolierenden Sohlen, deren filziger Schaft aussah als bestände er aus zusammengeballten Haaren. Handschuhe, mit Katzenfell ausstaffierte Kopfschützer, Heizlampen, die mit Benzin, Diesel oder Trockenspiritus funktionierten, Berge von Kartons mit Spezialkonserven sowie tausend andere Dinge häuften sich in den riesigen Lagern. Wir hatten mehr als genug von allem in Minsk. Und wir von den Transporttruppen der Rollbahn hatten die Aufgabe diese Sachen bis zu den vorderen Linien zu bringen, wo sie von den unglücklichen Kämpfern verzweifelt erwartet wurden. Wir taten alles Menschenmögliche, doch das war nicht genug. Wie sehr wir gelitten haben, nicht unter der roten Armee, die sich bisher eigentlich nur zurückgezogen hatte, sondern unter dieser Kälte, ist kaum zu beschreiben. Außerhalb der großen Zentren hatten die deutschen Pioniere nicht die Zeit, die ohnehin raren Straßen zu reparieren oder gar neue anzulegen. Während wir diesen Herbst Sport getrieben hatten, hatte sich die Wehrmacht nach einem außergewöhnlichen Vormarsch mit dem ganzen Material in einem unglaublichen Meer aus Schlamm festgefahren. Dann war der erste Frost gekommen und hatte die großen Wagenspuren, die nach Osten führten, gefrieren lassen. Die Mechanik der Fahrzeuge hatte auf diesen Wegen, die höchstens von Panzern normal befahrbar waren, furchtbar gelitten. Trotzdem hatte das Gefrieren des Bodens für einen Moment die Versorgung der Truppen ermöglicht. Bis der Winter seine Schneemassen über die endlose Weite Russlands verteilte und damit ein weiteres Mal den Verkehr lahm legte.

    In diesem Dezember 1942 waren wir schwer damit beschäftigt, täglich den gefallenen Schnee wegzuschaufeln, um unseren Lkw zu ermöglichen an einem Vormittag zwanzig oder dreißig Kilometer zurückzulegen. Unter dem Schnee offenbarte uns der steinharte Boden seine unheilvolle, mit Buckeln und Schlammlöchern gespickte Oberfläche, die wir sprengen oder auffüllen mussten, um die Fahrbahn zu ebnen. Am Abend beeilten wir uns dann für die Nacht einen Unterschlupf zu finden.

    Manchmal war es eine von den Pionieren erbaute Baracke, manchmal eine Isba oder sonst irgendein Haus. Oft fanden wir uns mit fünfzig Mann in einem Häuschen wieder, das für ein Paar und zwei Kinder gedacht war. Am besten war es noch in den großen, speziell für Russland hergestellten Zelten. Sie waren hoch und spitz wie ein Tipi, sehr solide und für neun Mann ausgelegt; gewöhnlich waren wir etwa zwanzig darin. Unsere Einheit verfügte leider nur über wenige dieser Zelte. Zum Glück hatten wir jedoch genug Vorräte ergattert, sodass wir durch gute Ernährung die Strapazen einigermaßen aushielten. Wir wuschen uns nur wenn es möglich war, das hieß sehr selten; einige von uns verlausten zunehmend, sodass das erste, das wir bei unserer Rückkehr nach Minsk zu erledigen hatten, war uns entlausen zu lassen.

    Das heilige Russland begann mir langsam zum Halse herauszuhängen und meine Tätigkeit als Fahrer ebenfalls. Wie alle anderen hatte ich Angst vor der Feuertaufe, doch ich war jetzt beinahe soweit, dass ich mir wünschte ich könnte endlich einmal diesen Karabiner gebrauchen, den ich seit einer Ewigkeit völlig nutzlos mit mir herumschleppte. Ich hatte das Gefühl, auf etwas zu schießen würde mir die Möglichkeit geben mich für diese Kälte und für meine Blasen zu rächen. Durch das Schneeschaufeln waren meine Hände voll davon. Die Wollhandschuhe, die ich bei solchen Tätigkeiten anzog, ließen schon längst meine eisigen Fingerspitzen zum Vorschein kommen. An Händen und Füßen fror ich so sehr, dass ich zeitweise glaubte es vor Schmerz nicht mehr aushalten zu können. Das Thermometer zeigte zwanzig bis einundzwanzig Grad unter Null.

    Wir lagen nun etwa zwanzig Kilometer nördlich von Minsk. Es galt einen riesigen Wagenpark zu bewachen, und wir hatten uns in den sieben oder acht Häusern des Dorfes einquartiert. Nur ein einziges Haus, das größte, war von einer russischen Familie mit ihren zwei Töchtern bewohnt. Sie hießen Korsky und behaupteten von der Krim zu stammen. »Ein wunderschönes Land«, sagten sie; der Mann sprach besser Deutsch als ich. Sie betrieben eine Art Kantine, wo wir, natürlich auf unsere Kosten, etwas zu essen und zu trinken bekamen. Dort konnten wir uns mal in einer anderen Umgebung, als nur in unseren Quartieren, mit einigen Kameraden treffen und uns amüsieren.

    Der Schneefall hatte aufgehört, doch es wurde immer kälter. Unsere Kompanie war schon etwa eine Woche hier stationiert. An diesem Abend trat ich meine zweistündige Wache an. Ich durchquerte den Wagenpark, in dem ein halbes Tausend Fahrzeuge aller Art abgestellt und zur Hälfte unter dem Schnee begraben war. Vor der nächtlichen Querung dieses Ortes hatte ich mich schon am Vorabend gefürchtet. Ein Partisane hätte sich leicht zwischen den Wagen verstecken und uns abknallen können. Doch dann hatte ich mich damit beruhigt, dass sich der Krieg, wenn er denn existierte, anderswo abspielen musste. Die einzigen Russen, die ich bisher gesehen hatte, waren Gefangene oder Händler. Und wahrscheinlich würde ich niemals andere zu Gesicht bekomme.

    Mit dieser Vorstellung im Kopf erreichte ich meinen Posten über den Pfad, den wir in den Schnee getreten hatten. Die ersten Fahrzeuge lagen etwa fünfzehn Meter entfernt. Eine Schneise von einem Meter Tiefe führte dorthin, was es im Fall eines Angriffs ermöglichte innerhalb der Deckung vorzurücken oder sich zu den Wagen zurückzuziehen. Die Seitenwände der Schneise waren durch den neuen Schnee bereits wieder um siebzig Zentimeter angewachsen, und nach jedem weiteren Schneefall mussten wir aufs Neue schaufeln. Ich hatte mich auf die vor mir liegende Kiste gestellt, von der aus die Wachposten ein bisschen weiter sehen konnten. Über dem Mantel trug ich noch eine Decke, die mich allerdings in meinen Bewegungen behinderte.

    Ich hatte mich geweigert Alkohol zu trinken, dessen Geschmack mir zuwider war, und so bereitete ich mich darauf vor ein weiteres Mal zu schlottern. Die Nacht war klar, und ich hätte noch in hundert Meter Entfernung eine Krähe erkennen können. Eine Ansammlung verkümmerter Büsche verhinderte, dass man den Horizont sehen konnte. Drei der vier Telefonleitungen, die sich durch unser Lager zogen, verloren sich in verschiedenen Richtungen. Die unregelmäßig verteilten Pfeiler stützen die Leitungen jedoch nicht ausreichend, sodass diese teilweise bis auf den Boden hingen.

    Meine Nase begann den beißenden Frost zu spüren – sie war der einzige Körperteil, der unbedeckt war. Ich hatte meine Mütze tief herunter gezogen, sodass sie mir bis über die Ohren reichte, darüber trug ich noch, wie es sich für einen Wachposten gehörte, den Stahlhelm. Den Kragen des Pullovers, den mir meine Eltern geschickt hatten, hatte ich bis zu dem Rand der Mütze hochgerollt.

    Von Zeit zu Zeit warf ich einen Blick auf das, was ich zu bewachen hatte und fragte mich, was wir wohl tun würden, falls die ganzen Fahrzeuge einmal schnell weggeschafft werden müssten. Die Motoren mussten so zäh gehen wie verdammter Gummi.

    Ich war etwa eine Stunde dort, als am Rand des Wagenparks eine Gestalt auftauchte. Ich ließ mich schnell auf den Boden des Schneelochs fallen. Bevor ich die fest eingepackten Hände aus den Tiefen meiner Taschen zog, riskierte ich einen Blick über den Wall. Die Gestalt kam in meine Richtung; das musste einer von den Unseren sein, der die Posten kontrollierte. Aber wenn es ein Bolschewist war? Murrend befreite ich meine Hände und schnappte mir mein Gewehr. Der festgefrorene Verschluss schmerzte mich an den Fingern. Für alle Fälle spannte ich ihn und stieß ein: »Wer da?« hervor. Eine vertraute Antwort kam mir entgegen und die Kugel blieb im Gewehr.

    Ich hatte gut daran getan, die grundlegenden Vorsichtsmaßnahmen zu berücksichtigen: Es war ein Offizier, der seine Runde machte. Ich salutierte.

    »Alles in Ordnung?«

    »Jawohl, Herr Leutnant!«

    »Na, dann also frohe Weihnachten!«

    »Was, es ist Weihnachten?«

    »Ja, schau mal da.«

    Er zeigte auf das Haus der Korskys. Das mit Schnee beladene Dach reichte bis zum Boden. Die schmalen Fenster waren an diesem Abend viel heller beleuchtet, als es wegen der Verdunkelungsverordnung eigentlich zulässig war. In ihrem Schein sah ich die sich bewegenden Silhouetten meiner Kameraden. Kurz darauf stieg eine große Flamme von einem Scheiterhaufen auf, den man wohl mit Benzin entzündet haben musste.

    In der Stille dieser eisigen Nacht hob sich nach und nach ein leiser Gesang aus dreihundert Kehlen empor. »Stille Nacht, Heilige Nacht« … War das möglich? … Es interessierte mich nicht mehr, was außerhalb des Lagers geschah. Ich konnte den Blick nicht von dem Schein wenden, der von der Glut ausging; der Glanz erhellte die Gesichter der am nächsten Stehenden, die der Anderen verloren sich im Schatten. Kraftvoll hob sich jetzt der inzwischen mehrstimmige Gesang. Ich weiß nicht, ob es die besonderen Umstände dieses Weihnachtsabends waren, aber ich kann mich nicht erinnern, seither jemals etwas Schöneres gehört zu haben.

    Zum erstenmal seit ich Soldat war tauchten Erinnerungen meiner frühen Jugend auf, die ja gar nicht so weit zurücklag. Wie mochte es heute abend bei uns zu Hause sein? Wie ging es in Frankreich? Im Wehrmachtsbericht hieß es in der letzten Zeit, dass viele französische Einheiten jetzt an unserer Seite kämpften. Das erwärmte mir das Herz. Deutsche und Franzosen marschierten Seite an Seite, das war großartig! Bald würde ich nicht mehr frieren müssen! Der Krieg würde bald zu Ende sein! Was würde ich alles zu erzählen haben! Diese Weihnacht hatte mir zwar kein Geschenk gebracht, aber so viele gute Nachrichten über die Freundschaft zwischen meinen beiden Ländern, dass ich dennoch überwältigt war.

    Ich war jetzt ein Mann, und ich versuchte in meinem tiefsten Innern einen Wunsch niederzukämpfen, eine Idee, die mich verfolgte und derer ich mich schämte: Ich hätte so gern ein schönes mechanisches Spielzeug bekommen!

    Meine Kameraden sangen weiter; an der ganzen Front durften jetzt so wie sie Millionen Soldaten singen. Ich wusste nicht, dass zu eben dieser Stunde sowjetische T-34, welche die Waffenruhe ausnutzten, die Weihnachten mit sich bringen sollte, die Vorposten im Abschnitt Armotovsk niederwalzten. Ich wusste nicht, dass meine Kameraden von der 6. Armee, bei der ein Onkel von mir war, zu Tausenden in der Hölle von Stalingrad starben. Ich wusste nicht, dass die deutschen Städte unter den ungeheuren Bombenangriffen der RAF und der USAF litten. Und ich hätte niemals den Gedanken gewagt, dass die Franzosen von einer deutsch-französischen Allianz nichts wissen wollten und somit das Drama der Widerstandskämpfer und der Repressalien seinen Lauf zu nehmen begann.

    Es war das schönste Weihnachten, das ich jemals erlebt hatte: Kein Eigennutz war im Spiel, und es war frei von allen kitschigen Beigaben. Ich war allein unter dem weiten Sternenzelt, und ich glaube mich zu erinnern, dass ich eine Träne meine eisigen Wangen herunterlaufen spürte. Ihre Quelle war weder Schmerz noch Freude, sie kam einfach aus der Wahrhaftigkeit, die ich in diesem Moment empfand.

    Als ich zurückkam, hatten die Offiziere die Feierlichkeiten beendet und das Feuer löschen lassen. Halls hatte für mich eine halbe Flasche Schnaps auf die Seite gebracht, von dem ich ein paar Schlucke nahm, um ihn nicht zu enttäuschen.

    Es vergingen weitere vier Tage. Die ganze Zeit über hatte es starken Frost, und Schneestürme sorgten für noch mehr Gemütlichkeit. Wir gingen nur ins Freie, um unsere Notdurft zu verrichten und verheizten Tonnen von Holz. Die Häuser waren so konzipiert, dass sie die Wärme hielten, und es war manchmal sogar zu warm darin. Es ging uns gut. Aber wie gewöhnlich: gerade dann kommt der Ärger.

    Der unsere begann gegen drei Uhr früh. Ein Wachposten stieß polternd die Tür unserer Isba auf und ließ einen eisigen Luftzug und zwei Uniformierte eindringen. Ihre bläulichen, maskenhaften Gesichter hatten den gleichen erstarrten Ausdruck. Sie stürzten zum Ofen und sagten erstmal nichts. Ich war nicht der einzige, der zu schimpfen begann, diese Idioten könnten wenigstens die Tür zumachen. Die einzige Antwort darauf war ein Fluch und ein »Achtung!«. Da wir uns nur erstaunt ansahen, sonst aber nicht reagierten, stieß derjenige, der gebrüllt hatte, die neben ihm stehende Bank mit einem Tritt um. Dann stürzte er sich, seinen Befehl beständig wiederholend, auf das improvisierte Lager eines unserer Kameraden. Gewaltsam riss er den ganzen Haufen von Decken, Mänteln und Jacken weg, mit denen sich unser Freund zugedeckt hatte. Im schwachen Schein unseres Ofens hatten wir die Schulterstücke eines Feldwebels erkannt.

    »Wollt ihr endlich aus euren Löchern kriechen, ihr Schweinebande!«, schrie der Feldwebel und stieß alles um, was in seiner Reichweite lag. »Wer ist hier der Stubenälteste? Wenn das keine Schande ist! Glaubt ihr, dass wir so die russische Offensive aufhalten werden? Ihr habt zehn Minuten, um euren Mist zusammenzupacken, oder ich jage euch nackt raus!«

    Benommen vom Schlaf und verdutzt über dieses abrupte Erwachen packten wir eilig unsere Sachen zusammen. Der wütende Irre war, gefolgt von dem starren anderen Soldaten, hinausgegangen, hatte die Tür weit offengelassen und versetzte nun die Kameraden in der gegenüber liegenden Isba in Panik. Wir verstanden diesen ganzen Aufruhr nicht wirklich. Die Wache meinte, die Männer seien mit einem Krad von Minsk bis hierher gekommen, was uns jedoch auch nicht viel weiter brachte. Es musste einige Zeit in Anspruch genommen haben diese zwanzig Kilometer zurückzulegen, was sie wohl verärgert hatte.

    Obwohl der Feldwebel weiter vergeblich herumbrüllte wie ein Verrückter, dauerte es mindestens zwanzig Minuten, bis er die meisten aufgerüttelt hatte und wir draußen im Schnee angetreten waren. Laus selbst, der genauso wie wir aus tiefstem Schlaf gerissen worden war, tat so, als sei er völlig einverstanden mit seinem wütenden Kollegen und brüllte uns ebenfalls an. Endlich sagte der Feldwebel, der sich noch immer nicht abgeregt hatte: »Ihr müsst euch noch vor Tagesanbruch bei der Einheit von Major Uträner in Minsk einfinden.«

    Und dann, sich Laus zuwendend: »Sie nehmen fünfzehn Lkw aus dem Wagenpark und fahren dorthin, wo ich es Ihnen gesagt habe.«

    Warum hat er diese Befehle eigentlich nicht telefonisch durchgegeben, statt sich in einen solchen Zustand zu bringen? Später erfuhren wir, dass, während wir friedlich geschlafen hatten, die Telefonleitung an vier Stellen durchgeschnitten worden war.

    Es ist unvorstellbar, welche Mühe wir hatten, die Fahrzeuge in Gang zu bringen. Wir mussten erst die Fässer mit Benzin und Alkohol heranrollen, die Tanks auffüllen, die Batterien anschließen, uns damit abrackern die Motoren mit der Kurbel anzuwerfen sowie ganze Berge von Schnee beiseite schaffen, um einen Durchgang herzustellen. Und das alles beinahe ohne Licht. Schließlich waren aber doch alle fünfzehn Lkw fahrbereit, und wir machten uns auf den Weg nach Minsk über die verschneite und holprige Straße, auf der der Feldwebel zu uns gelangt war. Einer der Wagen geriet jedoch auf dem glatten Boden ins Schleudern, und wir brauchten mindestens eine halbe Stunde, um ihn aus dem Graben zu ziehen, in den er gerutscht war. Wir mussten ihn an einen anderen Wagen anhängen, dessen Reifen jedoch durchdrehten; fast die gesamte Kompanie eilte zur Hilfe und wir trugen den Wagen förmlich zurück auf die Straße. Gegen acht Uhr – es war noch immer nicht hell – stießen wir zu Major Uträner und seinem Regiment. Trotz all der Anstrengung war uns nicht warm geworden und wir bibberten so wie wir es schon gewohnt waren. Bald fanden wir uns mit etwa zweitausend bis dreitausend Leuten auf einem großen Dorfplatz wieder. Es herrschte eine große Hektik in Minsk.

    Über Lautsprecher, die da und dort angebracht waren, wurde eine Ansprache von der Kommandostelle her übertragen. Der Sprecher wies uns darauf hin, dass auch eine siegreiche Armee ihre Toten und Verwundeten habe, dass es unsere Aufgabe als Transporteinheit sei, koste es, was es wolle, und allen Schwierigkeiten zum Trotz, die er nicht bagatellisieren wolle, die kämpfenden Truppen mit Verpflegung, Munition und allem anderen nötigen Material zu versorgen. Unser Konvoi müsse unter allen Umständen die Ufer der Wolga erreichen, damit Generaloberst Paulus seine Schlacht siegreich beenden könnte. Achtzehnhundert Kilometer trennten uns noch von unserem Ziel, und wir hatten keine Minute zu verlieren.

    In allen Ecken Russlands vollbrachten die Transporteinheiten wahre Wunder, um Stalingrad zu erreichen: Die 6. Armee wurde nicht ihrem Schicksal überlassen, ich weiß wovon ich spreche. Die Konvois lieferten den roten Truppen, die den Befehl hatten die Verpflegungstransporte, auf die Paulus wartete, zu stoppen, erbarmungslose Kämpfe. Diese starken Truppen trafen nun auf stark bewaffnete mobile Einheiten, welche ihnen enorme Verluste beibrachten. Der eigentliche Feind war aber der furchtbare Winter, der unsere Transporte im Grunde lahmlegte und gegen den die Wehrmacht nichts tun konnte. Die Luftwaffe versorgte die unglückseligen Streitkräfte von Stalingrad so lange mit Nachschub, wie es die Witterung zuließ. Selbst nachdem die Luftwaffenstützpunkte im Nordosten dieser Stätte des Martyriums geschlossen worden waren, warfen die Flieger alles was sie nur konnten mit Fallschirmen ab und stellten ihre Tätigkeit erst ein, als jeder Flug ein Selbstmordkommando wurde.

    Wir brachen nach der Essenausgabe um elf Uhr auf. Von meinen besten Kameraden getrennt geriet ich mit zwei anderen Kerlen auf einen Fünf-Tonnen-Lkw, der zur Hälfte mit schweren automatischen Waffen beladen war. Zunächst ging es auf einer gut geräumten Straße rasch voran. Die Schneepflüge hatten hier ganze Arbeit geleistet. Die Wände aus dem zur Seite geschafften Schnee auf beiden Seiten der Straße waren mindestens zweieinhalb bis drei Meter hoch. Wir kamen an einen Pfeiler, der mit einem halben dutzend Wegweisern gespickt war, die in alle Himmelsrichtungen zeigten. Auf dem Schild, nach dem wir uns richteten, konnte ich lesen: »Nach Pripjet, Kiew, Dnjepr, Charkow, Dnjepropetrowsk.«

    Unsere Truppen hatten alle Leute dienstverpflichtet, die auch nur in der Lage waren eine Schneeschaufel zu halten, und so legten wir an die hundert Kilometer unter ziemlich guten Bedingungen zurück. Bald erreichten wir eine Anhöhe, vor der sich das gewaltige Panorama der Ukraine unter einem gelblichgrauen Himmel ausbreitete.

    Die zehn oder zwölf Lkw vor uns hatten ihre Fahrt stark verlangsamt. Vor ihnen war eine Kompanie Soldaten dabei den Schnee wegzuschaufeln. Ein großer Lkw schob einen Schlitten vor sich her, der mit einer Art Ventilator ausgestattet war, welcher den Schnee nach allen Seiten trieb. Jenseits davon erstreckte sich ein makelloser Schneebelag von mindestens vierzig bis sechzig Zentimeter Höhe in die Unendlichkeit. Die ausgiebigen Niederschläge verdeckten jegliche Fahrzeugspuren, und man musste die Fahrbahn mit dem Kompass wiederfinden. Unser Offizier und die Unteroffiziere waren ein Stück über das geräumte Gebiet hinausgegangen, standen bis zu den Knien im Schnee, untersuchten den Horizont und fragten sich, wie man bei diesen Schneemassen vorwärts kommen sollte. An Bord des Lkw, dessen sämtliche Fenster der Fahrerkabine fest verschlossen waren, genossen mein Kamerad und ich die relative Wärme, die der laufende Motor produzierte.

    Wir waren beide sehr schweigsam. Wobei sich die Situation für eine sinnlose Unterhaltung auch nicht eignete. Wir sehnten uns alle nach ein bisschen Behaglichkeit. Vielleicht erscheint einem das heute als etwas Normales, aber zu jener Zeit und an jenem Ort hatten diejenigen, die das Glück hatten ein wenig Komfort beanspruchen zu können, das Gefühl einen unrechtmäßigen Luxus zu genießen. Wo wir aber gerade davon sprechen, schon war es auch wieder vorbei mit meiner Träumerei. Sie ließen uns aus unseren Fahrzeugen aussteigen und verteilten Schneeschaufeln. Es gab nicht genug für alle, doch unsere Unteroffiziere befahlen uns einfach irgend etwas einzusetzen, Hauptsache der Konvoi könne weiterfahren, wie auch immer das gelinge. Einige schaufelten mit einem Brett, einem Helm, einer Pfanne …

    Zusammen mit zwei Anderen hatte ich die hintere Ladeklappe von einem der Lkw geholt, in der Hoffnung mit diesem sperrigen Gerät den Schneepflug spielen zu können. Doch trotz unseres guten Willens und aller Anstrengungen gelang es uns nicht die Fahrbahn freizubekommen. Die Pfeife eines Feldwebels unterbrach diese chaotische Betriebsamkeit. »Was wollt ihr da eigentlich erreichen? Kommt mit mir, wir gehen Arbeitskräfte auftreiben. Nehmt eure Waffen mit.«

    Ich ließ mir zwar nichts anmerken, aber in Wahrheit freute ich mich. Alles machte ich lieber als Schnee zu schippen. In meinem Inneren bedankte ich mich bei den zwei Idioten, denen ich die Technik mit dem improvisierten Schneepflug verdankte. Wir schlossen uns dem Feldwebel an. Ich hatte nicht die geringste Idee, wo dieser große Mann Arbeitskräfte zu finden hoffte. Seit unserem Aufbruch in Minsk waren wir nur durch zwei ausgestorbene Dörfer gekommen. Mit umgehängtem Karabiner verließ unsere kleine Gruppe nun die Piste, die unsere Lkw geformt hatten und marschierte gen Norden. Ich übertreibe nicht wenn ich sage, dass uns der Schnee bis an die Knie reichte, was unser Fortkommen sehr beschwerlich machte.

    Es waren nun zehn Minuten vergangen, während der ich mich bemühte mit dem Feldwebel, der etwa fünf Meter vor mir war, Schritt zu halten. Ich war völlig außer Atem, und ich spürte wie mir unter der schweren Bekleidung der Schweiß den Rücken hinunterzulaufen begann. Mein Atem bildete große Dampfwolken vor meinem Gesicht, die in der eisigen Luft gleich wieder verschwanden. Ich ging weiter, den Blick immer nur auf die tiefen Spuren gerichtet, die der Feldwebel hinterließ. Ich versuchte genau in seine Fußstapfen zu treten, aber der Mann war viel größer als ich, sodass ich für jeden Schritt einen ordentlichen Sprung machen musste. Ich vermied es den Horizont zu betrachten, der mir ungeheuer weit entfernt zu sein schien. Ein dünner Birkenwald versperrte bald den Blick auf unseren Konvoi.

    Lächerlich klein in dieser weißen Unendlichkeit, marschierten wir immer weiter. Es war mir ein großes Rätsel, wo unser Feldwebel seine berühmten Arbeitskräfte finden wollte. Es war jetzt beinahe eine Stunde her, dass wir aufgebrochen waren. Plötzlich war in der absoluten Stille der Winterlandschaft ein Geräusch zu hören, das lauter wurde. Wir blieben stehen.

    »Es ist nicht mehr weit«, sagte unser Anführer. »Schade, diesen werden wir verpassen!«

    Ich verstand nicht wirklich, was er damit meinte, doch das Geräusch wurde immer klarer. Zu unserer Linken bemerkte ich einen schwarzen Strich in der Schneelandschaft. Ein Zug! … Es war also eine Eisenbahnstrecke ganz in der Nähe. Da sie nicht von den üblichen Oberleitungen gesäumt war, die meistens über den Schienen verliefen, hatte ich nichts bemerkt. Mir war jedoch nicht so ganz klar, was wir mit einem Zug anfangen sollten. Würde er vielleicht unsere Ladung übernehmen?

    Der Zug fuhr in einer Entfernung von fünfhundert Metern sehr langsam an uns vorüber. Er war lang; von Zeit zu Zeit spie eine der fünf angekuppelten Lokomotiven eine beeindruckende Dampfwolke aus, die jedoch wie von Zauberhand verschwand. Der Zug musste mit einer speziellen Vorrichtung zum Beseitigen des Schnees ausgestattet sein. Eine Viertelstunde später waren wir am Bahndamm. »Es kommen hier viele Versorgungszüge für unsere Truppen vorbei«, sagte der Feldwebel. »Sie bestehen aus Güterwaggons und auch aus einigen Passagierwagen für russische Zivilisten. Wir halten den nächsten an und holen uns von den Russen Leute zum Arbeiten.«

    Endlich hatte ich begriffen.

    Jetzt galt es nur noch zu warten. Damit uns nicht kalt wurde, liefen wir hin und her. Tatsächlich war die Temperatur etwas milder geworden; meinem Gefühl nach waren es höchstens zehn Grad minus. Es ist übrigens unglaublich zu erleben, wie schnell man sich an eine Temperatur von minus zwanzig Grad gewöhnt. Diese Kälte erschien uns sehr erträglich. Es gab Soldaten, die zum Schneeschaufeln nur ihre Pullover anbehielten und dabei immer noch schwitzten. Ich kenne wirklich niemanden, der in der Lage wäre, so viele Unannehmlichkeiten, gleichgültig ob durch Kälte, Hitze oder was sonst noch verursacht, zu ertragen wie die Deutschen. Die Russen waren alle miteinander verfrorener. Allerdings hatte ich vollstes Verständnis für sie: Ich lebte quasi mit einem beständigen Zittern.

    Ein erster Zug fuhr uns vor der Nase davon ohne anzuhalten. Unser Feldwebel, der durch alle möglichen Zeichen versucht hatte ihn anzuhalten, tobte. Die Soldaten, die den Zug begleiteten, hatten uns zugerufen, dass sie Befehl hätten unter keinen Umständen anzuhalten.

    Enttäuscht liefen wir weiter in der Richtung des Zuges, der vorbeigefahren war. Jedenfalls musste unsere Straße parallel zu den Schienen verlaufen; es würde also reichen im rechten Winkel zur Eisenbahnlinie zu marschieren, um unsere Kompanie wiederzufinden. Das Dumme war nur, dass wir weit entfernt von der Feldküche waren und es wahrscheinlich schon längst zur Essenausgabe geläutet hatte. Zwar hatte ich in einer meiner Manteltaschen zwei Stücke Roggenbrot, wagte es aber nicht sie herauszuholen, aus Angst teilen zu müssen. Die zwei Soldaten, mit denen ich Schnee geschippt hatte, kannten sich offenbar schon einige Zeit; sie blieben immer zusammen und unterhielten sich untereinander.

    Der Feldwebel stapfte alleine weit vor uns und ich bildete die Nachhut. Wir marschierten nun schon eine geraume Zeit. Die Eisenbahnstrecke führte jetzt durch eine Senke, an deren beiden Seiten mageres Gestrüpp wuchs. Wir waren schon etwa drei Stunden unterwegs, seit wir unsere Kompanie verlassen hatten. Die Gleise führten immer weiter geradeaus; falls ein Zug gehalten hätte, würden wir das noch aus zehn Kilometern Entfernung gesehen haben. Die kleinen Bäume um uns herum wurden dichter und breiteten sich weiter aus.

    Es waren schon fast drei Stunden, dass wir unsere Kompanie verlassen hatten. Von dem Schnee hob sich alles sehr scharf ab. Seit einer Weile sah ich in etwa fünfhundert Metern Entfernung, auf der anderen Seite der Schienen, einen schwarzen Fleck. Zehn Minuten später wurde uns klar, dass es sich dabei um eine Baracke handelte, und unser Feldwebel ging auch schon darauf zu. Das musste wohl eine Unterkunft für Eisenbahner sein oder irgendetwas Ähnliches. Unser Chef hob seine Stimme: »Beeilt euch! Ein Unterschlupf – wir werden dort drin warten.«

    Das war keine schlechte Idee. Wir beschleunigten unsere Schritte, und der Junge mit den vielen Sommersprossen, mit dem ich zusammen Schneepflug gespielt hatte, witzelte mit seinem Kameraden. Wir gingen von rechts auf die Baracke zu, als mir ein scharfer Knall entgegenschlug. In der gleichen Sekunde sah ich eine dünne weiße Rauchwolke links von der Baracke aufsteigen.

    Erschrocken schaute ich zu meinen Kameraden. Der Feldwebel hatte sich in den Schnee geworfen wie ein Torwart nach dem Ball und lud seine MP. Der Junge mit den Sommersprossen taumelte auf mich zu, die Augen weit geöffnet, einen seltsamen, verstörten Ausdruck im Gesicht. Als er nur noch zwei Meter von mir entfernt war, ging er in die Knie, sein Mund öffnete sich, als ob er etwas schreien wollte, aber es kam kein Ton heraus, und er kippte nach hinten um. Es gab einen zweiten Knall, gefolgt von einem dünnen Pfeifen.

    Ohne zu verstehen warf ich mich flach auf den Bauch in den Schnee. Die MP des Feldwebels ratterte, und ich sah wie der Schnee auf dem Dach der Hütte aufstäubte. Doch ich musste immer wieder zu dem jungen, rothaarigen Soldaten hinsehen, dessen regloser Körper wenige Meter von mir entfernt lag.

    »Gebt mir Feuerschutz, ihr Idioten«, schrie der Feldwebel und machte einen Sprung nach vorn.

    Ich sah nach dem Freund des Rothaarigen, der mehr erstaunt als erschrocken aussah. Ruhig schulterten wir beide unsere Gewehre, zielten in Richtung Wald, von dem aus immer noch Schüsse fielen, und drückten ab.

    Die Schüsse aus meinem Karabiner gaben mir etwas Vertrauen – doch ich hatte Angst. Zwei Kugeln pfiffen noch an meinen Ohren vorbei. Mutig hatte sich unser Feldwebel aufgerichtet und warf eine Handgranate. Eine heftige Explosion zerriss die Luft und eine der morschen Hüttenwände zersplitterte.

    Mit einer merkwürdigen Ruhe starrte ich weiter in Richtung Baracke. Der Feldwebel schoss immer noch aus seiner MP. Gelassen schob ich eine neue Kugel in den Lauf meines Gewehrs. Als ich es in Anschlag brachte, kamen zwei schwarze Gestalten aus den Resten der Hütte hervor und begannen in Richtung Wald zu rennen. Die Gelegenheit war günstig; das Balkenkorn meiner Waffe hob sich schwarz von der weißen Landschaft ab, bald schon legte es sich über eine der rennenden Gestalten. Ich drückte ab … daneben!

    Unser Chef war nun bis an die Baracke herangekommen und schoss auf die Flüchtenden ohne sie zu treffen. Nach einer kurzen Weile gab er uns ein Zeichen ihm zu folgen und wir krochen aus unseren Schneelöchern heraus.

    Der Feldwebel beobachtete etwas in den Trümmern der Hütte. Wir kamen näher. Ein Mann lehnte an der Wand; sein bärtiges Gesicht war uns zugewendet und die Augen sahen feucht aus. Er sah uns an ohne ein Wort zu sagen. Seine gefütterte Pelzkleidung war nicht militärisch. Während ich ihn betrachtete, fiel mein Blick auf seine linke Hand; sie war blutüberströmt, und auch aus seinem Kragen quoll Blut. Er tat mir leid. Doch die Stimme des Feldwebels rüttelte mich auf: »Partisane!«, schrie er »Na? … Du weißt, was dich erwartet!«

    Er richtete seine Waffe auf den Russen, der voller Angst noch ein Stück weiter in die Trümmer hineinkroch. Instinktiv war auch ich zurückgewichen. Der große Feldwebel steckte seine MP jedoch zurück in ihr Futteral.

    »Kümmert euch um ihn!«, befahl er und zeigte auf unseren Verwundeten.

    Wir trugen den Partisanen ins Freie; er stöhnte und redete unverständliche Dinge. Erst fern, dann immer näher klang das Geräusch eines herannahenden Zuges.

    Dieser jedoch kam aus der entgegengesetzten Richtung und fuhr dahin zurück, woher wir gekommen waren. Es gelang uns ihn anzuhalten. Drei in große Rentierfelle eingepackte Soldaten sprangen von dem ersten Waggon herunter. Einer von ihnen war ein Leutnant, und wir nahmen Haltung an.

    »Was ist los mit euch?«, schimpfte er. »Warum zur Hölle habt ihr uns angehalten?« Der Feldwebel erklärte ihm die Sache mit den Arbeitskräften.

    »In diesem Zug gibt es nur Verwundete und Sterbende«, erwiderte der Leutnant.

    »Wenn wenigstens ein paar Urlauber dabei gewesen wären, hätte ich euch ein paar abgegeben. Leider kann ich nichts für euch tun.«

    »Wir haben zwei Verwundete«, wagte sich der Feldwebel hervor.

    Der Leutnant ging bereits auf den leblosen kleinen Rothaarigen zu.

    »Ihr seht doch, dass er tot ist …«

    »Nein, Herr Leutnant, er atmet noch schwach …«

    »Na ja, vielleicht. Aber in einer Viertelstunde …«, sagte der Leutnant und machte eine vage Handbewegung. »Also gut, wir nehmen ihn mit.«

    Er pfiff zwei zu Skeletten abgemagerte Sanitäter heran, die unseren Kameraden übernahmen. Als sie ihn aufhoben bemerkte ich mitten auf seinem Rücken einen braunen Fleck, aber ich war mir nicht sicher ob es Blut war, das sich mit der grünen Farbe seiner Jacke vermischte, oder etwas anderes.

    »Wo ist der andere?«, fragte der Leutnant ungeduldig.

    »Dort, bei der Baracke, Herr Leutnant.«

    Als dieser bei dem Sterbenden war, schrie er: »Was? Wer ist das?«

    »Ein Russe, Herr Leutnant, ein Partisane.«

    »Ach ja? Und Ihr glaubt, ich würde mich mit einem dieser Schweinehunde belasten, die uns in den Rücken schießen? Als ob wir nicht genug mit dem Krieg von vorne zu tun hätten!«

    Er gab den zwei Soldaten, die bei ihm waren, einen Befehl; diese gingen auf den Unglücklichen zu, der im Schnee lag. Zwei Schüsse ertönten.

    Eine Viertelstunde später waren wir auf dem Rückweg. Der Feldwebel hatte die Idee aufgegeben, irgendwo Arbeitskräfte aufzutreiben. Wir versuchten unsere Kompanie wiederzufinden, die nicht sehr weit gekommen sein konnte.

    Ich hatte also die Feuertaufe erhalten. Dabei kann ich nicht einmal sagen, welchen Eindruck ich davon zurückbehalten hatte, denn es gelang mir nicht meine Gedanken zu ordnen. Die Ereignisse dieses Tages hatten etwas Absurdes. Die Fußspuren des Feldwebels im Schnee waren riesig. Geistesabwesend sah ich mich nach dem Sommersprossigen um, der an unserer Seite hätte sein sollen. Alles hatte sich so schnell ereignet, dass ich nicht imstande war, das Geschehene zu begreifen, und doch waren zwei Menschen ganz unnötig gestorben. Der unsere war nicht einmal achtzehn Jahre alt.

    Es war schon lange Nacht, als wir unsere Kompanie endlich erreichten; eine klare, kalte Nacht, in der das Thermometer rapide sank.

    Trotz unseres unfreiwilligen, vierstündigen Marsches waren wir steif und hungrig. In meinem Kopf drehte sich alles, so zermürbt war ich von Müdigkeit und Kälte. Mein Atem gefror an dem Kopfschützer, der nur noch meine Augen frei ließ.

    Wir hatten unsere Kolonne, die sich schwarz auf weiß vom Schnee abhob, schon von weitem ausgemacht. Sie war wirklich nicht sehr weit gekommen, seitdem wir sie verlassen hatten. Die Lkw steckten bis zum Fahrgestell in dieser weißen Schneekruste, und in den Rädern und Kotflügeln hingen dicke Eisklumpen. Beinahe alle Soldaten hatten sich in die Führerhäuschen verkrochen und sich, nachdem sie ein bisschen auf der Verpflegung herumgekaut hatten, mit allem zugedeckt was sie hatten finden können. Entkräftet versuchten sie trotz der Kälte zu schlafen. Ein Stück weiter schlugen die zwei armen Teufel, die zur Wache eingeteilt waren, die Stiefel aneinander, um sich die Füße aufzuwärmen.

    Durch die völlig vereisten Scheiben der Führerhäuschen sah man hie und da in den Kabinen die Glut einer Pfeife oder einer Zigarette aufleuchten. Ich stieg über die Heckklappe in meinen Wagen und suchte in der Dunkelheit meinen Brotbeutel und das Kochgeschirr. Mit klammen Fingern hielt ich das Geschirr und schlang schnell irgendetwas ekliges hinein, das an Sojabrei erinnerte und obendrein noch hartgefroren war. Es schmeckte so scheußlich, dass ich nach kurzer Zeit den Rest aus dem Wagen kippte. Ich hielt mich dafür an einer Büchse aus meiner Marschverpflegung schadlos.

    Draußen sprach jemand. Ich beugte mich hinaus, um mehr sehen zu können. Man hatte in einem Schneeloch ein kleines Feuer angezündet, das fröhlich flackerte. Sofort sprang ich aus dem Wagen und näherte mich dieser Quelle der Wärme und der Freude. Es waren dort drei Burschen, darunter der Feldwebel von heute Nachmittag. Letzterer schimpfte vor sich hin, während er auf dem linken Knie Holzbretter zerbrach.

    »Ich habe es satt zu frieren. Ich habe im vergangenen Winter eine Lungenentzündung gehabt. Wenn sich das hier wiederholt, werde ich daran verrecken. Falls wir beobachtet werden, sieht man unsere Karren sowieso auf zwei Kilometer; es sind nicht die paar brennenden Zweige, die uns verraten würden.«

    »Recht haben Sie!«, erwiderte ein Landser, der mindestens fünfundvierzig Jahre alt war. »Die Russen, ob Partisanen oder nicht, sind sowieso in ihren warmen Betten.«

    »Ich wäre so gerne zu Hause«, sagte ein anderer, der in die Flammen starrte. Wir wären fast in das Feuer gekrochen, um möglichst viel von der Wärme abzubekommen. Nur der große Feldwebel war immer noch verbissen dabei aus einer Kiste Kleinholz zu machen.

    Plötzlich wurden wir angerufen: »He, ihr da!«

    Zwischen den Lkw tauchte eine Gestalt auf. Im Schatten erkannte man ein blinkendes Silbermotiv auf seinem Helm. Schon traten der Feldwebel und der Alte schnell das Feuer aus. Der Hauptmann war nun herangekommen und wir nahmen Haltung an.

    »Was fällt euch ein? Seid ihr verrückt geworden? Kennt ihr nicht den Befehl? Aber da ihr schon mal an dem Feuer Wache halten wollet, dann nehmt eure Waffen und macht mir eine Patrouille durch die Umgebung. Eure Idiotie hat bestimmt ein paar willkommene Gäste angelockt; seht zu, dass wir sie rechtzeitig abfangen. Ihr geht zu zweit auf Patrouille bis zum Abmarsch, verstanden?«

    Das hatte uns noch gefehlt! Ich hätte heulen können, als ich ein weiteres Mal dieses verdammte Gewehr holte. Ich war kaputt, erschöpft, durchgefroren und was weiß ich noch alles! Nein, niemals würde ich die Kraft haben wieder durch diesen furchtbaren Schnee zu stapfen, dessen harte Oberfläche dreißig bis vierzig Zentimeter weißen Puder verbarg, in dem meine Stiefel versanken. Ich war erfüllt von einer Wut, der ich nicht freien Lauf lassen konnte. Die Müdigkeit hinderte mich daran. Mühevoll schleppte ich mich zu meinen Leidensgenossen zurück. Der Feldwebel entschied, dass der über fünfundvierzig Jahre alte Kerl und ich die erste Runde machen sollten.

    »Wir lösen euch in zwei Stunden ab, das ist dann weniger hart für euch!«, sagte er. Ich habe nie begriffen warum, aber ich hatte das Gefühl, dass mich dieser Schweinehund mit Absicht mit dem alten Kerl zusammengetan hatte. Er zog es offensichtlich vor mit dem anderen zu gehen, der um die fünfundzwanzig Jahre alt zu sein schien und erfahren aussah, als mit einem jungen Hüpfer von siebzehn Jahren wie mir oder einem Greis wie meinem Begleiter. Ich zog mit meinem Mitstreiter los, überzeugt, dass wir ein ziemlich verletzliches Gespann waren. Schon bei den ersten Schritten rutschte ich aus und schlug der ganzen Länge nach hin. Auf dem hartgefrorenen Schnee riss ich mir die Hände auf. Als ich wieder auf den Beinen stand, musste ich die Tränen mit großer Anstrengung zurückhalten.

    Der Alte war ein feiner Kerl. Auch er sah aus, als hätte er die Nase voll.

    »Hast du dir weh getan?«, fragte er mich in väterlichem Ton.

    »Merde!«, antwortete ich auf Französisch.

    Er sagte nichts, zog seine Mütze tiefer ins Gesicht und ließ mich vorausgehen. Ich wusste nicht wirklich, wo es lang ging, aber das war ja auch egal. Auf jeden Fall würde ich umkehren, sobald die dunkle Masse der Wagenkolonne nicht mehr zu sehen war. Trotz meiner Müdigkeit kam ich schneller voran als mein Begleiter. Nervös ging ich vorwärts und atmete so wenig wie möglich; die eisige Luft fror mir die Nase ab. Schließlich kam der Moment, wo ich es nicht mehr aushalten konnte; meine Knie fingen an zu zittern und ich brach in Tränen aus. Ich wusste gar nicht, was mit mir los war. Ich sah noch einmal ganz klar meine Familie vor mir, Frankreich, und die Zeit, in der ich noch mit einem anderen kleinen Jungen Automechaniker gespielt hatte. Was machte ich hier? Ich erinnere mich, wie ich zwischen zwei Schluchzern laut sagte: »Ich bin noch zu klein, um Soldat zu sein.«

    Ich weiß nicht mehr, ob der andere meine Verstörtheit bemerkt hatte oder nicht, jedenfalls sagte er, als er mich einholte: »Du läufst aber flott, Kleiner. Du musst entschuldigen, wenn ich nicht so schnell kann. Eigentlich hätte ich gar nicht mehr Soldat sein sollen; vor dem Krieg war ich ausgemustert worden. Aber vor sechs Monaten wurde ich trotzdem eingezogen. Die brauchen jetzt alle, weißt du. Hoffen wir, dass wir zurückkommen.«

    Da ich von den politischen Ereignissen der Zeit wenig verstand und einen Verantwortlichen und ein Ventil für meinen Ärger brauchte, begann ich auf die Russen zu schimpfen: »Alles nur wegen dieser Iwans, dieser Schweine! Diese dreckigen Bastarde!

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