FREMDKÖRPER: Ein die Psyche thrillender Trip in schwer begreifbares Ambiente
Von Michael Haderer
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Buchvorschau
FREMDKÖRPER - Michael Haderer
Michael Haderer | Fremdkörper
ROMAN
Inspired by true events
PROLOG
Ich vermute, dem Herrn Mag. Moser von der Polizeidienststelle Wien-Landstraße war immer noch ein wenig übel, als er die Aktenkennzahl KR320/LS/93 in das dafür vorgesehene Feld eintrug und seinen Namen dahintersetzte. Der Fund, den seine Abteilung an jenem Nachmittag des 16. September 1993 gemacht hatte, war so außergewöhnlich und grauenvoll anzusehen, dass er für lange Zeit in den Köpfen der an der Amtshandlung teilnehmenden Beamten herumspuken würde.
Per Zufall war man auf den versteckten Raum gestoßen, wegen eines Ausbaus oder Umbaus. Genau weiß ich es nicht mehr. Tief unten im Labyrinth des Wiener Kanalnetzes. Jedenfalls hatte man eine schwere Eisentür gefunden, die auf keinem Bauplan verzeichnet war – ebenso wenig wie das Gruselkabinett mit den vier in grotesken Posen erstarrten und auf mysteriöse Weise mumifizierten Leichen dahinter.
Die Boulevardpresse stürzte sich gleich geifernd auf das Rätsel der Kanalmumien und es wurde spekuliert und geschrieben, bis den Redakteuren die Finger bluteten. Ein Überbleibsel aus der Zeit der ersten Türkenbelagerung sollte der geheimnisvolle Ort gewesen sein oder auch der zweiten. Eine geheime Zuflucht vor den anstürmenden Horden alles und jeden islamisierenden Osmanen das eine Mal und eine christlich-habsburgische Folterkammer, in der man irrgläubigen Gefangenen die Zehennägel zog, das andere Mal.
Dabei interessierte es die Reporter wenig, dass die Behörden nicht müde wurden, bei jeder Pressekonferenz auf die moderne Kleidung der Toten hinzuweisen, die so gar nicht zur Tracht eines Zeitzeugen des beginnenden sechzehnten Jahrhunderts passte.
Die Tür war von innen verschlossen gewesen und es sah aus, als hätte es einen Kampf gegeben. Nur der eine, der auf eine alte Tragbahre gefesselt war, hatte – man konnte das angeblich trotz seines Zustands noch gut erkennen – einen auffällig zufriedenen Ausdruck im, nun ja, in dem, was einmal sein Gesicht gewesen sein mag.
»Geradezu ein Leuchten!«, gaben die ersten Polizisten vor Ort zu Protokoll, sobald sich ihre Mägen von dem grässlichen Gestank und Anblick einigermaßen erholt hatten. Die Beamten konnten sich nicht wirklich einen Reim darauf machen, was sich wohl in dieser Kammer abgespielt haben mochte. Aus dem Grad der Verwesung der Leichen ließen sich die Ereignisse zwar – soweit waren sich die Wissenschafter einig – mit ziemlicher Sicherheit auf das Jahr 1989 zurückdatieren, aber selbst die erfahrenen Forensiker des FBI, die man behördlicherseits schließlich hinzugezogen hatte, waren nicht mehr in der Lage, genau zu eruieren, wie die Personen ums Leben gekommen waren oder ob und wenn ja, dann wer von wem um Selbiges gebracht worden war. Schließlich schloss die Polizei den Akt als »ungelöst« und ließ ihn ins Archiv bringen.
Ich werde hier nicht preisgeben, wem ich die überaus illegale Zuspielung dieses Dossiers zu verdanken habe, denn ich will meinen Gönner weder bloßstellen, noch der Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung aussetzen. Doch nun, nach Abschluss des Studiums aller Bilder, Schriftstücke und anderer Sachbeweise, nachdem ich jahrelang ausgiebig in den Leben und Vorleben der Verstorbenen gewühlt und umgerührt habe, und nach eingehender Recherche an den Orten des Geschehens, meine ich zu wissen, was damals wirklich geschehen ist. Und ich beteuere hiermit, dass ich überzeugt bin, dass sich alles so oder so ähnlich zugetragen hat, wie hier niedergeschrieben – wenngleich es einem vielleicht schwerfallen mag, das zu glauben.
01
Damals in den Achtzigern gab es noch die alten Wählscheibentelefone, deren durchdringenden Klingelton man weder ändern noch leiser schalten konnte. Wenn man nicht das Glück hatte, einen Anrufbeantworter zu besitzen, der sich nach ein paar Tönen dazwischenschaltete und der akustischen Tortur ein Ende bereitete, war man arm dran nach einer durchzechten Nacht.
Herbs alter Apparat erzeugte besonders bösartige Laute, weil sich wohl irgendwo eine Schraube gelockert hatte, die mit jedem Klingeln vibrierte und schepperte. Scharfe metallische Töne, die ohne einen Funken Mitgefühl sein Hirn aus der tiefen Bewusstlosigkeit rüttelten, in die er es am Abend zuvor mit zumindest drei Litern Bier und einer Flasche billigen serbischen Obstbrandes befördert hatte.
Sechs Uhr morgens.
Herb hob die Augenlider ein klein wenig an und blinzelte auf die grünlich schimmernde Tritium-Anzeige seines Weckers.
»Wer zum Teufel …? Nichts kann so wichtig sein!« Er presste den Polster auf seinen Kopf und fluchte darunter weiter.
Mit jedem neuen Klingeln brandeten Wellen unaussprechlichen Schmerzes an seine Frontallappen und schwemmten das Treibgut vager Erinnerungen an die letzte, in Schnaps versenkte Nacht an:
Das Wettcafé Cojones. Der etwas heruntergekommene Spielplatz für mutige Glücksritter und Hasardeure.
Das Fußballteam der dritten italienischen Liga, das schon wie der sichere Sieger ausgesehen hatte, ehe der Schiedsrichter der Partie eine Reihe unfassbarer Fehlentscheidungen getroffen und so den Ausgang des Spieles massiv zu Herbs Ungunsten beeinflusst hatte.
Der kleine Beleg, auf dem in wenigen Worten und Ziffern die große Hoffnung auf das schnelle Geld geschrieben stand, bis Herb ihn – wie schon so oft – aus Enttäuschung in winzige Teile zerrissen und diese auf dem von verschütteten Getränken klebrig gewordenen Boden der Spelunke verstreut hatte.
Das wissende, überhebliche Lächeln des lungenkranken Lokalbesitzers, den alle nur den Landauer nannten und der sich mit Wetten, vor allem aber mit Wettbetrügereien, bestens auskannte.
Die obdachlosen Seelen, die halb eingeschneit auf den Stufen des Tegetthoff-Denkmals auf dem Vorplatz des Wiener Nordbahnhofs saßen und ihm zuwinkten, als wäre er schon einer von ihnen, während er sich spätnachts durch den eisigen Schneesturm nach Hause arbeitete.
Die Huren vom Max-Winter-Platz, die gleich unter seinem Schlafzimmerfenster ihre letzten Kunden abfertigten, um sich danach rasch in ihre kleinen Bleiben zurückzuziehen und sich den Dreck der Nacht abzuwaschen.
Die pflichtbewussten Hausbesorger, wie sie aus ihren Erdgeschosswohnungen in die Dunkelheit schwärmten und damit begannen, den ersten Schnee im November von den Gehsteigen zu schaben, weil er dort nichts zu suchen hatte – schon gar nicht so früh im Jahr.
Herb griff sich die leere Schnapsflasche vom Boden und schleuderte sie aus dem Handgelenk. Zu kraftlos. Zu ungenau. Der Apparat schepperte gehässig weiter.
Heute war IHR Tag. Der eine Tag. Sein Geburtstag. Den würde sie sich nicht so einfach nehmen lassen.
»Was ist nur aus dir geworden, warum nur bist du so herzlos?«, dröhnte es aus der Leitung, als Herb es endlich fertiggebracht hatte, sich auf die andere Seite des Zimmers zu schleppen und das unvermeidliche Gespräch anzunehmen.
»Herbert Kratochvil, ich habe dir unter unmenschlichen Qualen das Leben geschenkt. Ich habe mich aufgerissen, damit du mit deinem Dickschädel in diese Welt gepasst hast. Bedeutet das denn gar nichts? Wenn ich morgen sterbe, würdest du es frühestens in einem Jahr bemerken. So lange müsste ich in meiner Wohnung verfaulen, weil mein Herr Sohn sich einen Dreck um mich schert!«
Herbs Mutter hatte es nie verwunden, dass er von ihr weggegangen war. Dass er sie alleingelassen und ihr obendrein verboten hatte, ihn zu besuchen. Welch Unverfrorenheit! Wie konnte er sich so etwas erlauben? Einmal im Jahr, an seinem Geburtstag, durfte sie ihn anrufen. Mehr nicht. Und sogar das musste sie ihm auf Knien abtrotzen, sich erniedrigen und ihn darum anflehen. Wie erbärmlich!
»Die Nachbarn würden dich finden und mich dann verständigen, da bin ich sicher, Mutter«, versuchte Herb zu beschwichtigen. Tatsächlich würde sie niemand, der sie persönlich kannte, ernsthaft vermissen oder gar suchen gehen, sollte sie eines Tages nicht mehr keifend im Stiegenhaus des Mietshauses stehen und die Nachbarn beschimpfen. Die Frau war böse und gemein und keiner in ihrem Haus mochte sie leiden.
»Die Nachbarn? Du hast ja keine Ahnung! Im Haus sind schon so viele Türken eingezogen, man kann sich seines Lebens nicht mehr sicher sein als alleinstehende Frau. Du musst wieder zu mir kommen. Du musst mich beschützen! Nicht auszudenken, wenn mich einer von denen …!«, sie sprach den Satz nicht zu Ende oder Herb hörte ihn einfach nicht mehr. Die infernalischen Kopfschmerzen forderten seine volle Aufmerksamkeit.
»Wenn du wieder bei mir wohnen würdest …« Sie machte eine kleine Pause, um ihrem Sohn Zeit zu geben, die Vorteile zu bedenken. Herb bedachte gar nichts in der Richtung. Er sehnte sich nach seinem Bett und nach einer ordentlichen Dosis Aspirin.
Sie versuchte es mit der milden, verständnisvollen Tour.
»Ich verzeihe dir. Du wolltest dir die Hörner abstoßen, wie man so sagt. Dir deine Männlichkeit beweisen. Das verstehe ich doch. Ich bin dir auch nicht mehr böse. Wenn du deinen Fehler jetzt einsiehst, wirst du es nicht bereuen. Ich werde dich schon nicht beißen, du musst mir nur versprechen, dass du von nun an ein braver Junge sein wirst.« Er durfte zurückkommen und wieder bei ihr einziehen, wenn er sich zu hundert Prozent unterwarf.
»Ich bin zufrieden mit meinem Leben, wie es ist«, erwiderte Herb ungerührt. »Ich werde nicht wieder bei dir wohnen.«
»Ich meine es ja nur gut!« Sie schluchzte laut auf. Sein Widerstand würde sich in der Säure ihrer Tränen auflösen, die Schuldgefühle würden ihn weichkochen. Weinen war ihre schärfste Waffe. Der hatte er unter normalen Umständen nicht viel entgegenzusetzen.
»Das zieht heute nicht mehr, Mutter! Ich falle auf die Mitleidstour nicht mehr herein. Ich hasse es, wenn du weinst, aber ich werde unter keinen Umständen mehr zu dir zurückkommen!«
Weil auch dieser Plan fehlschlug, geriet sie derart in Wut und begann so laut zu schreien, dass es Herb vorkam, als hielte er sein Ohr direkt an den Schallbecher einer von einem manischen Volksmusikanten geblasenen Trompete. Für einen kurzen Moment zogen sich sogar seine Kopfschmerzen verschüchtert zurück. Sein Gehirn geriet bei diesem Lärm in gefährliche Schwingungen. Die Mutter wollte sich mit aller Macht durch die Telefonleitung direkt in seinen Kopf pressen, sein System sozusagen von innen heraus angreifen.
Plötzlich spürte er, dass etwas in ihn eindrang. Zuerst war es nur ein seltsames Kitzeln, so ähnlich wie Ohrentropfen einen ein wenig kitzeln, sobald die Flüssigkeit in den Gehörgang einläuft. Nicht einmal unangenehm. Herb schaute verdutzt. Er hatte wegen des Überraschungsmoments noch keine vernünftige Theorie parat.
»Das kann doch nicht wahr sein! Jetzt kriecht mir die alte Hexe in mein Hirn!«
Er schleuderte den Hörer samt Mutter gegen die Wand, sodass er in seine Einzelteile zerbarst.
»Geh raus aus mir«, klagte Herb.
Es dauerte ein wenig, bis er begriff, dass nicht die Mutter, sondern ein Insekt in ihn hineingekrochen war. Es hatte wohl im Telefonhörer gewohnt und war vom Geschrei der Frau in die Flucht getrieben worden. Nun versuchte es, sich in Herbs Gehörgang ein gemütliches neues Nest einzurichten.
Eine Ameise? Eine Spinne? Eine Raupe, die sich an seinem Gehirn satt fraß, bis sie schließlich, in eine fette Motte verwandelt, durch eine seiner leeren Augenhöhlen in die Welt hinaus surrte? Oder vielleicht ein Mistkäfer?
Ein Mistkäfer war denkbar. Herb war nicht eben pingelig, wenn es um häusliche Sauberkeit ging.
»Um Himmels willen! Bitte, bloß keine Kakerlake!« Der widerlichste aller möglichen Gedanken.
Das Tier musste jedenfalls scharfe Gliedmaßen haben, denn was immer es da drinnen anstellte, es tat ziemlich weh. Er befühlte die Ohrmuschel vorsichtig mit seinem Zeigefinger. Blut.
»Es muss heraus! Jetzt. Sofort!«
Herb bohrte seinen Zeigefinger so tief in seinen Gehörgang, wie es nur ging. Vielleicht konnte er es an einem seiner Füßchen greifen und herausziehen oder es mit seinen zu langen, ungepflegten Fingernägeln herauskratzen, wie überschüssiges Ohrenschmalz. Seine Finger waren für dieses Vorhaben allerdings um zwei Nummern zu dick. Selbst mit dem Kleinen kam er nicht einmal in die Nähe seines Widersachers. Er stellte sich vor, wie der verdammte Käfer sich über ihn lustig machte und ihn verspottete:
»Du kriegst mich nicht! Mit deinen Wurstfingern!« Dass selbst ein so niederes Tier nicht die geringste Achtung vor ihm hatte, machte Herb rasend.
Es erzeugte ein unerträgliches, kratzendes Dauergeräusch. Zermürbend, wie eine auf einem Nagel abgespielte Vinyl-Schallplatte, wie ein Song nach der zwanzigsten Wiederholung: Genervt bettelt man den Mann am Plattenspieler um etwas Abwechslung an. Aber er lässt sich in seine Performance nicht hineinpfuschen und bleibt unbeirrt auf seiner Linie.
Herb versuchte sich unter diesen Bedingungen auf eine neue Strategie zu konzentrieren.
»Wasser!« Er tippte sich selbst tadelnd auf die Stirn. »Warum ist mir das nicht gleich eingefallen? Das Ding herausspülen! Das muss klappen.« Er rannte in die kleine Küche, zur Sitzbadewanne, der einzigen Wasser spendenden Quelle in dieser Wohnung. Manchmal auch Behelfspissoir, wenn Herb für den Weg zum Gangklo zu faul oder zu betrunken war. Und heute die rituelle Hinrichtungsstätte dieses unerwünschten Mitbewohners.
»Ich werde dich nicht ersäufen! Das hättest du wohl gerne. So einfach wird dein Tod nicht werden.« Er wollte das Tier noch leiden sehen, bevor er es in die Hölle schickte. Herb nahm das Haarsieb und platzierte es auf dem Abfluss. Die Wanne schien ihm der perfekte Auffangbehälter. Er drehte an den Armaturen, bis er die Wassertemperatur angenehm fand. Dann legte er den Kopf zur Seite und begann mit dem Fluten seines Hörorgans.
»Ein wenig einwirken muss es natürlich. Ha!«, lachte Herb siegessicher. Die richtige Portion Zynismus zur richtigen Zeit. »Warte nur, ich werde meinen Spaß haben mit dir, das verspreche ich!«
Nach einigen Momenten voreiliger Schadenfreude drehte Herb den Kopf ruckartig zurück, weil er hoffte, dass der so austretende Schwall das Tier mitreißen würde. Er malte sich aus, wie es schreiend in den Abgrund der Wanne stürzte und dort um Gnade winselte, weil eine Flucht aussichtslos war.
Aber seine Wünsche blieben ungehört. Nur Wasser rann aus dem Ohr und strudelte langsam in den Abfluss. Kein Käfer blieb im Haarsieb hängen und auch sonst war nichts zu sehen. Herb prüfte jeden Zentimeter. Nichts. Er konzentrierte sich auf sein Ohr. Vielleicht war das Vieh ja wenigstens ertrunken. Ein wenig Hoffnung keimte auf, weil im Moment irgendwie Ruhe herrschte. Sowohl außen als auch innen. Als Herb sich schon daranmachte, die Befreiung von seinem Parasiten mit der letzten im Kühlfach verbliebenen Tiefkühl-Pizza zu feiern, hob der Käfer sein penetrantes Gesäusel von Neuem an. Vielleicht sogar noch gemeiner als zuvor. Als wollte er sagen: »Der zweite missglückte Versuch, hahaha, du kannst es nicht! Du bist ein Versager!«
Herb ließ sich erschöpft und etwas entmutigt auf den alten Diwan fallen, den ihm der Vormieter hinterlassen hatte, weil er zu faul gewesen war, ihn ordnungsgemäß zu entsorgen. Wenn man die Rückenlehne zuerst etwas anhob und dann niederdrückte, ließ sich ein halbwegs vernünftiges Bett daraus zaubern. »Nicht wirklich für zwei geeignet.« Herb versuchte schon lange, eine potenzielle Kandidatin für den Platz neben ihm zu finden.
»Sie müsste schon ziemlich dünn sein. Und klein. Und sie müsste ziemlich verliebt an mir kleben, sonst ginge sich das nie aus.« Schöner Gedanke. Aber er kannte keine, die die Bedingungen auch nur annähernd erfüllt hätte. Vor allem an der letzten Hürde scheiterten sie alle. Die Einzigen, die sich hartnäckig an ihn klammerten, waren zum einen seine Mutter und neuerdings das lästige Getier in seinem Ohr. Die Mutter war für dieses Mal erfolgreich abgewehrt. Der Telefonhörer lag immer noch kaputt auf dem Boden. Kein Ton kam mehr aus seiner Richtung. Allem Anschein nach hatte die dominante Herrscherin klein beigegeben. Nun galt es noch den kleinen Eindringling loszuwerden, der immer noch zirpend in seinem Ohr saß. Der Tag war noch zu retten.
Der Staub der letzten Wochen, wenn nicht Monate, der sich auf Herbs rissigem Parkettboden angesammelt hatte, brachte ihn auf eine neue Idee. Zugegeben, der Gedanke war ein wenig unkonventionell. Aber rein physikalisch, meinte Herb, müsste er eigentlich zum ersehnten Ergebnis führen. Ein Insekt mag sich der Gravitation entziehen und an der Decke laufen können, aber dem Unterdruck eines M-2500-Watt-Staubsaugers würde es nichts entgegenzusetzen haben. Das war todsicher. Die Schwierigkeit bestand vor allem darin, das Tier anschließend im Staubbeutel wiederzufinden. Nach wie vor bestand Herb ja auf seine Rache. Den langsamen, qualvollen Tod. Das Tier musste für die verursachten Schmerzen büßen. Daran führte kein Weg vorbei.
Er nahm die Schachtel mit dem Gerät aus dem Kleiderschrank, legte die Saugrohre sorgfältig nebeneinander auf den Boden und setzte aus ihnen, wie ein Heckenschütze, seine Anti-Insekten-Waffe zusammen. Er entschied sich für den kurzen Lauf, weil einfach praktischer, wenn an das eigene Ohr gehalten, und stellte sich vor den Spiegel, der an der Schranktür angebracht war. Es sah beinahe so aus, als wollte er sich mit dem Staubsauger selbst erschießen.
»Sprich dein letztes Gebet!«, forderte Herb seinen Gegner auf und drückte mit den Zehen auf den Startknopf.
Fast hätte es ihm Hirn und Augen aus dem Schädel in den Staubbeutel gesogen, so stark war der M 2500. Mehr als ein paar Sekunden hielt er dem Sauger nicht stand. Schnell, solange er noch Herr seiner Entscheidungen war, drückte er seinen Fuß wieder auf den Power-Knopf.
»Don’t try this at home!«, riet er seinem Spiegelbild. Er fühlte sich etwas schwindelig nach dieser Prozedur.
Doch Herb hatte keine Zeit, sich deshalb hinzulegen und die Beine hochzulagern, bis sich sein Kreislauf wieder stabilisierte. Er musste das Vieh finden, und zwar schnell, ehe es aus dem Staubbeutel flüchten konnte. Die Klappe des M 2500 war Gott sei Dank leicht zu öffnen. Darunter befand sich der pralle Beutel, voll Dreck aus vergangenen Tagen. Herb öffnete den Sack vorsichtig an einer Seite und schnitt dann das Papier mit einer Nagelschere nach und nach auf. Keine Sekunde ließ er dabei den Staub aus den Augen. Nicht die kleinste Bewegung durfte ihm entgehen.
Nun, da er den Beutel zur Gänze geöffnet hatte, breitete Herb sorgsam den Inhalt auf dem Boden aus. Er trennte Haarbüschel von Zigarettenstummeln und anderen nicht mehr definierbaren Schmutzpartikeln. Mit einem kleinen Metallkamm zeichnete Herb im Stile eines Kare-San-Sui-Zen-Meisters gleichmäßige Muster in den Dreck. Aber kein Tier. Nicht mal eine tote Fliege.
Er begann nun hektischer zu wühlen. Der aufgewirbelte Staub tauchte das Zimmer in einen Nebel aus Ruß, Hautschuppen, Haaren und etlichen anderen undefinierbaren Ablagerungen längst vergangener Zeiten. Alles um ihn herum versank im Dreck.
Herb nahm dieses Chaos kaum wahr. Er war ganz darauf fixiert, die Leiche seines Gegners auszugraben. Er musste sichergehen, dass er ihn besiegt hatte. Doch da war nichts. Konnte das Vieh entwischt sein? Zentimeter für Zentimeter untersuchte er den Boden vor sich. Keine Regung.
»Nein! Sei still! Sei endlich still!«, schrie er verzweifelt, als das Gejammer und Gekratze in seinem Gehörgang erneut einsetzte. Alles war umsonst gewesen. In Herbs verzerrtem Gesichtsausdruck spiegelte sich der ganze Frust über die neuerliche Niederlage. Er richtete seinen Blick Hilfe suchend nach oben. Immer noch auf den Knien, bot er einen erbarmungswürdigen Anblick. Sogar ein Atheist hätte Gott um Gnade für diesen armen Sünder angefleht. Ein Häufchen Elend im Dreck. Die Schmerzen im Ohr, das Pochen im Hirn, der sägende Lärm überall in seinem Kopf trieben ihn langsam in den Wahnsinn. Er presste einen lauten, langen Schrei aus seinen Lungen. Vielleicht konnte er alles andere übertönen. Den Gegner niederschreien, ihm Angst machen, sodass er wenigstens mit dem Lärmen aufhörte. Das wäre ein Anfang, ein Kompromiss, auf den sich Herb einließe. Ein wenig Ruhe, das war seine bescheidene Forderung. Darauf könnte man sich mit ihm einigen und einen Sonderfrieden aushandeln und meinetwegen in Symbiose weiterleben. Nur der Krach sollte endlich aufhören.
»Bitte!«
Doch weder Gott noch Käfer hatten an diesem Morgen ein Einsehen. Es war schon erstaunlich, wie ein Wesen, das klein genug war, in ein Ohr zu passen, einen derart durchdringenden Lärm erzeugen konnte.
Herb trommelte mit der flachen Hand auf sein Ohr. Auch wenn das natürlich in keiner Weise half, er tat es trotzdem, immer wieder. Dabei plärrte er sich in einen tranceartigen Zustand. Er war dabei, den Verstand zu verlieren.
Plötzlich durchfuhr ihn ein besonders heftiger Schmerz. Der Eindringling hatte damit begonnen, sein Trommelfell zu durchtrennen. Mit scharfen Gliedmaßen, die er zum Zerteilen seiner Insektenbeute benutzte, oder mit furchterregenden Kauwerkzeugen, mit denen er sie einspeichelte und halb vorverdaut durch seinen Insektenschlund würgte. Es tat höllisch weh. Tränen schossen Herb in die Augen. Es war genug. Er konnte nicht mehr und er wollte nicht mehr.
Er rannte in die Küche und wühlte hektisch in der Besteckschublade nach einer geeigneten Waffe. Er griff sich die offene Packung mit den 100 Schaschlikspießen für gesellige Grillabende und streute die dünnen Holzstäbe auf den Küchentisch. Er nahm einen Spieß, umklammerte ihn fest in seiner Faust und verfehlte den Gehörgang beim ersten Versuch nur knapp. Er stach sich dabei eine unangenehme Wunde in das Ohrläppchen, die aussah, als hätte er sich mit brachialer Gewalt ein Loch für einen größeren Ohrschmuck piercen wollen. Verzweifelt versuchte er seine zittrige Hand so weit zu kontrollieren, dass er den Spieß in seinen Gehörgang einführen konnte, und begann dann wild darin herumzustochern. Immer wieder zog er das Holz heraus und stach erneut zu. Er würde seinen Peiniger aufspießen. Koste es, was es wolle.
Im nächsten Moment verlor er das Bewusstsein. Seine Beine gaben nach und sein Körper sackte zusammen. Kein Muskel hatte noch die Kraft, gegen die Ohnmacht Widerstand zu leisten. Er hatte sich noch am Duschvorhang seiner Sitzbadewanne festzuhalten versucht und, als er zusammenklappte, das Plastik mitgerissen. So saß Herb in seiner kleinen Küche. An die Wanne gelehnt und von