Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Das Frühstück der Langschläferin: Ein Unterhaltungsroman auf Leben und Tod!
Das Frühstück der Langschläferin: Ein Unterhaltungsroman auf Leben und Tod!
Das Frühstück der Langschläferin: Ein Unterhaltungsroman auf Leben und Tod!
eBook399 Seiten5 Stunden

Das Frühstück der Langschläferin: Ein Unterhaltungsroman auf Leben und Tod!

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

New York. 24. März 1975. Bei dem Gedanken, dass er niemals alle Bücher, die er besitzt, lesen kann, bricht Felix Bartholdy ohnmächtig mitten auf der Straße zusammen. Er wird von Vera Farrow und Hazel Knocklewood mitgenommen, die ihm Unterschlupf gewähren. Während Felix sich auf das Dach setzt und Zahlenreihen schreibt, um nicht ständig an Bücher zu denken, verliebt sich Vera in den finnischen Dozenten ihres Creative Writing-Kurses. Gleichzeitig entdeckt Hazel ihre Liebe zu Felix, der jedoch plötzlich vom Dach verschwindet und nicht mehr aufzufinden ist. Das Schicksal der Figuren wird miteinander verknüpft und mit Fortschreiten des Romans meldet sich auch der Erzähler immer öfter zu Wort. AUTORENPORTRÄT Tor Åge Bringsværd wurde 1939 im norwegischen Skien geboren. Er studierte Religionswissenschaft und Ethnologie und arbeitete für verschiedene Verlage und Rundfunkanstalten. Seit seinem Debut als Schriftsteller im Jahr 1967 hat er sich ganz dem Schreiben gewidmet und seitdem über 50 werke herausgegeben. Beim Schreiben setzt er sich selbst keine Grenzen und hat daher sowohl Kinder- als auch Erwachsenbücher, Fiktion und Fachbücher veröffentlicht. Zusammen mit Jon Bing begann Bringsværd in den 1960er-Jahren die ersten norwegischen Science-Fiction-Bücher und Hörspiele zu schreiben, die sie als Autorenkollektiv Bing&Bringsværd herausgaben. Bringsværd wurde mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet, darunter der Literaturpreis des Nordischen Rates für den ersten Band seiner Roma
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum1. Feb. 2017
ISBN9788711465943
Das Frühstück der Langschläferin: Ein Unterhaltungsroman auf Leben und Tod!

Mehr von Tor åge Bringsværd lesen

Ähnlich wie Das Frühstück der Langschläferin

Ähnliche E-Books

Allgemeine Belletristik für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Das Frühstück der Langschläferin

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Das Frühstück der Langschläferin - Tor Åge Bringsværd

    Saga

    Erster Teil

    New York, Montag, 24. März 1975

    1

    Jedesmal, wenn ich mich hinsetze, um eine neue Geschichte zu schreiben oder etwas, von dem ich hoffe, es könnte der Beginn eines Buches werden, denke ich: Werde ich diesmal anfangen mit Nebelschwaden, die über die Heide treiben, und einem Reiter mit wehendem Umhang auf dem Weg zu einem blassen, gespenstischen Schloß auf der Spitze von Pappmaché-Felsen, und der Donner rollt, und die Blitze zerreißen den Himmel wie der schreckliche Dreizack des Satans?

    Bisher war die Antwort immer nein.

    Ich verstehe nicht genau, warum. Das wäre ein toller Anfang.

    Doch jedesmal drängt sich etwas dazwischen.

    Diesmal ist es Felix Bartholdy.


    »I can’t believe that!« said Alice.

    »Can’t you?« the Queen said in a pitying tone. »Try again: draw a long breath, and shut your eyes.«

    Alice laughed. »There’s no use trying,« she said: »one can’t believe impossible things.«

    »I daresay you haven’t had much practice,« said the Queen. »When I was your age, I always did it for half-an-hour a day. Why, sometimes I’ve believed as many as six impossible things before breakfast ...«

    Lewis Carroll: Through the Looking Glass

    Jeder, der Felix Bartholdy auch nur ein bißchen gekannt hätte, würde geschworen haben, daß das unmöglich war, aber da stand er – mit einer Plastiktüte voll von eben gekauften Büchern und einem Kassenbon in der Tasche – auf dem Bürgersteig vor Brentano’s Filiale in der 8. Straße, New York, USA, Erde, Sonnensystem, Milchstraße – und spuckte innerlich vor sich aus, wenn er an weitere Druckerzeugnisse dachte. »Schaut her«, rief er Passanten zu und öffnete seine Plastiktüte. »Schaut her. Das ist doch Wahnsinn, oder?«

    Die Tüte enthielt:

    Jean Cocteau: Three Screenplays (Grossman 1972)

    Ray Bradbury: The Halloween Tree (Bantam 1974)

    Roger Shattuck & Simon Watson Taylor (Ed.): Selected Work of Alfred Jarry (Grove 1965)

    John Dickson Carr: The House at Satan’s Elbow (Award 1974)

    Jim Harmon & Donald F. Glut: The Great Movie Serials (Doubleday 1972)

    Richard Brautigan: The Pill versus the Springhill Mine Disaster (Dell 1973)

    Stan Lee: Origins of Marvel Comics (Simon and Schuster 1974)

    Walt Kelly: Ten ever-lovin’ blue-eyed years with Pogo (Simon and Schuster 1959).¹

    »Die habe ich alle heute abend gekauft«, schrie Felix Bartholdy. »Ich habe sie da drin gekauft.« Er deutete über die Schulter. »Aber kann mir jemand sagen, wo zum Teufel ich die Zeit hernehmen soll, das alles zu lesen?« Er fing an, Leute am Arm zu packen, wollte sie festhalten. »Ich besitze schon über zehntausend Bände. Circa viertausend davon habe ich noch gar nicht gelesen. Gewöhnlich lese ich zwei Bücher pro Woche. Zwei Bücher in der Woche, das macht 104 Bücher pro Jahr. Um viertausend Bände durchzuackern, brauche ich ca. 40 Jahre. Ich bin 43 Jahre alt. Wenn ich mit allen Büchern, die ich bereits gekauft habe, fertig bin, werde ich 83 Jahre alt sein. Und nicht genug damit ...« Ihm wurde schwarz vor Augen, und er mußte sich an die Hauswand lehnen. »Und nicht genug damit«, flüsterte Felix Bartholdy dem Mauerputz zu. »Ich kaufe neue Bücher. Ich hamstere. Ich raffe zusammen, was mir unter die Augen kommt. Ich bin krank. Ich kaufe mindestens fünfmal soviele Bücher wie ich lese. Meine Regale stehen voller Bücher, die ich niemals öffnen werde. Sie vermehren sich unaufhörlich. Ich kann an keinem Buchladen vorbeigehen. Im Bett lese ich Kataloge, auf dem Klo Kritiken, und meine Tasche ist stets voll von literarischen Zeitschriften. Und ich kann nicht aufhören. Ich kann nicht aufhören!«

    Er wollte sich übergeben. Der Griff an seiner Plastiktüte riß, und der Inhalt verteilte sich auf dem Bürgersteig.

    Freundliche Menschen hoben ihm die Bücher auf.

    »Laßt sie liegen«, flüsterte Felix. »Liegenlassen, bitte.«

    Doch niemand hörte auf ihn.

    Bald werde ich gezwungen sein, 100 Jahre zu werden, dachte Felix. Und nicht lange, und ich muß 200 werden ... Er fing zu kichern an. Er saß am Rand des Bürgersteigs und lachte, die Nebel um ihn verdichteten sich, ballten sich vor seinen Augen, und er hatte Schwierigkeiten, etwas zu sehen.

    »Sind Sie krank?« sagte eine Stimme vom Himmel. »Brauchen Sie Hilfe?«

    »Zwecklos, was Sie sagen«, antwortete Felix und schüttelte den Kopf. »Das funktioniert nie. Ich werde nie 200 Jahre. Da rauche ich zu viel. Das ist der Fehler. Und nicht genug damit ...«

    »Soll ich einen Arzt holen«, sagte die Stimme ungeduldig.

    »Ihr Vertrauen in die ärztliche Kunst rührt mich zutiefst«, sagte Felix mit einer Stimme, die man am besten als lallend bezeichnen könnte. »Das Problem ist doch, daß jedes Jahr auf der Welt ca. 550000 neue Bücher geschrieben und herausgegeben werden. Fünfhundertfünfzig Tausend! Das heißt, in jeder Minute wird ein neues Buch herausgegeben! In jeder verdammten minute! Mich als gewöhnlichen Leser bringt das natürlich in eine schier aussichtslose Situation. Und nicht genug damit ...«

    »Oder kommen Sie selbst zurecht?«

    »Vor diesem Hintergrund betrachtet«, sagte Felix, blinzelte dabei in den Nebel und versuchte, den Rücken gerade zu halten, »erscheint Ihr Vertrauen in die ärztliche Kunst in einem etwas merkwürdigen Licht. Was hätte denn Ihrer Meinung nach Albert Schweitzer in diesem Fall getan – wenn er nicht schon vor einiger Zeit gestorben wäre?«

    »Sie sind besoffen«, sagte die Stimme. Felix bemerkte, daß sie sich in einen grauen Mantel gehüllt hatte, um nicht zu frieren. Und einen Augenblick später – als der Nebel kurz aufriß – in einem Anfall von Hellsichtigkeit, wie man ihn oft hat, bevor man endgültig im Dunkel versinkt, gelang es den Augen, quer über die Straße zu springen. Sie hüpften über Autos und Fußgänger, trafen wie zwei Tennisbälle auf die gegenüberliegende Hauswand und prallten mit dem Bild eines Plakates auf der Netzhaut zurück. Das Plakat war vergilbt und zerrissen und enthielt die folgende, noch lesbare Botschaft:

    Eat shit!

    487 billion flies

    can’t be wrong

    Und das war der letzte Gedanke, der ihn durchzuckte, bevor das Regenwetter in seinem Kopf ernsthaft losbrach. Felix Bartholdy wurde ohnmächtig.


    Die Welt ist voller verwandter Seelen.

    Das gehört zu den schönen Seiten an ihr.

    Es wird immer Menschen geben, die auf der gleichen Wellenlänge zuhören und ihre Nervenstränge wie Antennen am gleichen himmlischen Baum befestigt haben.

    Manche Bäume sind groß, andere sind klein.

    Doch niemand ist so absonderlich, daß er nicht einen geistigen Vetter oder eine ebensolche Kusine irgendwo im Laubwerk hätte.

    Der Baum, mit dem Felix Bartholdy derzeit verbunden war, gehörte nicht zu den stattlichsten im Wald. Vielleicht sollte man eher von einem Busch sprechen. Ein trockenes und dorniges Gewächs mit frustrierten, windschiefen Blüten. Wahrscheinlich gab es nicht mehr als zweihundert Menschen auf der Welt, die mit diesem Busch verknüpft waren. Es muß deshalb als ein fast unglaublicher Zufall bezeichnet werden, daß sich in dem Augenblick, als Felix Bartholdy in Ohnmacht fiel, eine dieser verwandten Seelen nur vierzig Querstraßen entfernt befand. Zwar ohne jeden Gedanken an Felix Bartholdy und mit ganz anderen Dingen beschäftigt, aber immerhin.

    Er hieß Nigel Harris und war Lyriker.


    Nigel Harris hatte sich vorgenommen, ein Buch über New York zu schreiben, mit Gedichten und prosalyrischen Skizzen. Das Buch sollte einen Umfang von ca. 100 Seiten (vielleicht 80) haben und von ihm selbst illustriert werden. Ein freundlicher Verleger hatte ihm einen bescheidenen Vorschuß gewährt, Nigel hatte sein Erspartes beigesteuert – und hier saß er: im Zimmer 411, Hotel Middletowne, 148 East 48th Street, mit Aussicht auf einen Parkplatz. Nigel war zum erstenmal in New York, war überhaupt zum erstenmal in den USA. Nach Nigels Ansicht war das ein Vorteil. Das Buch, das er im Sinn hatte, mußte frei sein von altem, gestrandetem Gedankengut, es mußte spontan sein und jungfräulich. Die Gedichte mußten ein Ersteindruck sein. Die Illustrationen mußten an Ort und Stelle entstehen.

    Wenn das Buch einschlug (falls er überhaupt schaffte, es zu schreiben), hatte Nigel vor, den Rest der Welt auf dieselbe Weise zu erleben, zwei Monate an jedem Ort.

    Er hielt sich bereits drei Wochen in New York auf. Jeden Morgen nahm er Bus oder Untergrundbahn zu einer beliebigen, unbekannten Haltestelle, stieg aus/ein und versuchte, mit Hilfe von Kugelschreiber, Fotoapparat und Tonbandgerät ein paar erbärmliche Kubikmeter Atmosphäre einzufangen.

    Er hatte den Kopf und das Hotelzimmer voller Eindrücke.

    Was wirklich Zeit beanspruchte, war die Veredelung des Rohmaterials. Nigel Harris fühlte sich oft wie ein erfolgloser Alchimist, wenn er zu fortgeschrittener Stunde am Bettrand saß, schwarzen Kaffee im Pappbecher (das Delikatessgeschäft an der Ecke war die ganze Nacht geöffnet), den Tisch übersät mit Scrabs und Zeitungsausschnitten, Notizen chronologisch gestapelt, mit Gummiringen und Büroklammern, und im Fernsehen alte Gangsterfilme.

    Hier ein Gedicht von Nigel Harris:

    New Yor

    k ist ein f

    limmerndes T

    V-Bild un

    d du kann

    st gegen d

    ie Wand schl

    agen so viel d

    u willst e

    s wird einf

    ach weiter la

    ufen und spri

    ngen

    Mehr aus den Notizbüchern von Nigel Harris später. Zuerst soll erklärt werden, worin die Seelenverwandtschaft von Nigel Harris und Felix Bartholdy besteht.

    Mehrere Aspekte spielen eine Rolle.

    Ein Mensch, der drei Wochen lang täglich den Pulsschlag New Yorks gefühlt und versucht hatte, ihn wie Morsezeichen mit einer geheimen Botschaft zu entschlüsseln, ohne ein vernünftiges Wort mit seinen Mitmenschen zu wechseln (außer das Essen zu bestellen und nach dem Weg zu fragen), wird früher oder später schrullig werden, wird früher oder später deprimiert sein und Zweifel am Sinn seines Daseins empfinden, wird sich früher oder später fragen, ob er nicht an diesem oder jenem Scheideweg seines Lebens übereilt entschieden hatte.

    Das ist die eine Seite.

    Hätte Nigel Harris noch das Gefühl gehabt, etwas zustande zu bringen ... Aber alles, was er zu Papier brachte, waren kleine, quasiphilosophische Fragmente wie (nach einem Besuch des Guggenheimmuseums):

    Alle Kunst ist Orgasmus

    Eine Galerie ist ein Kondom

    straff über eine gewisse Zahl von

    Bildern gezogen

    Für diesen Schutz entrichtet

    das Publikum eine gewisse Abgabe

    Und das kann man ja nicht gerade als »etwas zustande bringen« bezeichnen.


    Außerdem, um die Depression vollkommen zu machen, hatte es das Schicksal für nötig erachtet, Nigel Harris eine Pressemitteilung unter die Nase zu halten, aus der hervorging, welch erschreckender Mangel an Papier auf der Welt herrsche und wie hirnrissig man dieses kostbare Gut vergeude. Der letzte Abschnitt lautete folgendermaßen:

    Allein für eine sonntagsausgabe der New York Times wird eine papiermenge verbraucht, die einem wald von 7700 kubikmetern entspricht.

    Nun ist es weder angemessen noch gerecht, Nigel Harris mit der New York Times zu vergleichen, aber der Same des Bösen war gesät – Nigel Harris fühlte sich mehr und mehr als ökologische Katastrophe.


    Und er hatte einen Traum.

    Ihm träumte, er wäre in einer Landschaft, von Baumstämmen übersät, soweit das Auge reichte.

    Nach einer Weile kam er an einen kleinen See.

    Auf einer in den See reichenden Zunge stand ein Mann und stapelte Bücher.

    Nigel Harris ging (im Traum) zu ihm hin.

    »Glauben Sie, der Wind wirft sie um?« sagte der Mann. Er hatte acht Stapel gemacht, jeweils fünfzig Bücher – und er hatte noch einige volle Kisten.

    Nigel Harris bot ihm eine Zigarette an.

    »Nein danke«, sagte der Mann. »Ich rauche nicht. Wegen dem Papier ... Ich habe mir vorgenommen, bewußter mit Papier umzugehen.«

    Nigel Harris betrachtete die Stapel. Sie bestanden aus ein und demselben Buch. Grün, der Umschlag gelb beschriftet.

    Der Mann ahnte, was Nigel Harris ihn fragen wollte. »Von mir«, sagte er. »Ich habe es geschrieben. Es erschien im letzten Jahr.«

    Ein Windstoß brachte einen Stapel zum Einsturz.

    Nigel Harris half, die Bücher wieder zu stapeln.

    Sie setzten sich ins Gras.

    »Ich werde sie festbinden müssen«, sagte der Mann. »Wenn das Ganze halten soll, muß ich sie wohl festbinden.« Und nach einer Weile: »Dabei würde ich die Stapel gerne höher machen. Eigentlich sollten sie achtmal so hoch sein.«

    »Vielleicht sollten Sie es mit einer Plane versuchen?« schlug Nigel Harris vor. »Dann wären sie windgeschützt.«

    »Dann würden die Vögel keine Nester darauf bauen«, sagte der Mann.

    »Ja«, sagte Nigel Harris, »das stimmt.«

    »Es kann nicht mehr dasselbe werden«, sagte der Mann. »Es kann nie mehr werden wie vorher. Trotzdem ...«

    Sie schwiegen eine Weile.

    »Wissen Sie, wieviele Bäume gefällt werden müssen, damit daraus ein Buch werden kann?« sagte der Mann plötzlich.

    »Nein.«

    »Ich auch nicht. Aber acht müßten eigentlich reichen?«

    »Acht sind sicher mehr als genug.«

    »Ja, das dachte ich auch«, sagte der Mann. »Deshalb habe ich acht Stapel gemacht.« Er betrachtete die Bücher. »Ich muß sie höher stapeln ... Ursprünglich wollte ich eine Trittleiter mitbringen ...«

    Nigel Harris nickte. »Das wäre sicher nicht dumm gewesen«, sagte er.

    »Und ich weiß nicht, wie ich etwas, das aussieht wie Äste, zustande bringen soll«, sagte der Mann.

    In diesem Moment merkte Nigel Harris, daß er wach wurde, und er konzentrierte sich auf den Abschied.

    Hinter sich sah er, wie der Fremde allmählich seine Gesichtszüge bekam.


    »Und ihr habt keine Ahnung, wer es ist?« fragte Fay Hideway und feilte weiter an ihrer linken Hand. »Ihr habt ihn einfach auf der Straße gefunden und mit nach Hause gebracht, und jetzt wohnt er hier schon drei Tage ...«

    »Wir haben dich nicht vor Dienstag erwartet«, sagte Hazel Knocklewood. »Du hättest ja schreiben können – oder wenigstens anrufen.«

    »Und jetzt liegt er in meinem Bett, in meinem Bettzeug, auf meinem Kissen und unter meiner Decke?«

    »Fay«, sagte Hazel. »Vera und ich –«

    »Ich verstehe«, sagte Fay. »Du und Vera ...«

    »Es ist nicht so, wie du denkst«, sagte Hazel mißmutig. »Er ist krank und braucht jemanden, der sich um ihn kümmert.«

    »Und das muß in meinem Bett sein?« sagte Fay. »Es ist doch wohl nicht nötig, daß sich dieser Jemand ausgerechnet in meinem Bett um ihn kümmert?« Und damit hatte sie auch wieder recht.

    »Er liegt nicht den ganzen Tag im Bett«, sagte Hazel.

    Fay verdrehte die Augen nach oben. »Soviel habe ich inzwischen kapiert«, sagte sie. »Und in wessen Bett liegt er, wenn er nicht in meinem liegt?«

    »Er sitzt auf dem Dach«, sagte Hazel ruhig.

    »Auf dem Dach? Da bin ich eine knappe Woche weg, und was finde ich bei meiner Rückkehr? Mein Zimmer ist in ein Lazarett verwandelt, und meine zwei Freundinnen feiern Orgien auf dem Dach!«

    »Fay ...«, sagte Hazel. »Fay ... Mach’ jetzt keine Dummheit. Ich bitte dich.«

    Doch Fay war bereits auf dem Weg zur Speichertreppe. »Er sieht wahrscheinlich aus wie eine Kreuzung aus Robert Redford und Henry Fonda«, knurrte sie. »Das ist verdammt nochmal das Mindeste, was ich akzeptiere!«

    2

    Vera Farrow war 28 Jahre alt und erinnerte an eine ältere Ausgabe von Kersti aus Carl Larssons bekanntem Bild »Das trübselige Frühstück der Langschläferin (1900) – das kleine Mädchen mit den straff nach hinten gekämmten und an den Ohren geflochtenen Haaren, einsam sitzt sie auf einem zu hohen Stuhl am Frühstückstisch. In der Bildunterschrift schreibt Carl Larsson: »Wie zornig und erbost sie aussieht, meine kleine süße Kersti! Liegt es möglicherweise daran, daß Esbjörn mit dem Veloziped über ihren Hut gefahren ist? ...«

    Aber im Grunde sieht Kersti gar nicht zornig und erbost aus, sie hat lediglich gemerkt, wie spät es ist, vielleicht nach halb elf (?), und jetzt fürchtet sie, der Tag könnte verloren sein, doch statt zu verzweifeln, statt aufzugeben, sitzt sie schweigend, verbissen und konzentriert vor abgestandenen, lauwarmen Frühstücksresten. Carl Larsson unterstellt, sie würde schmollen, das Essen nicht mögen usw. Weit gefehlt! Jeder Betrachter mit einigermaßen offenem Sinn (der nicht Larssons Bildunterschrift gelesen hat) wird ohne weiteres begreifen, daß Kersti keineswegs dasitzt und ihre Situation analysiert. Sie weiß, daß sie verschlafen hat, sie weiß, daß der Rest der Welt einen Vorsprung gewonnen hat, doch sie weigert sich, eine Niederlage zuzugeben, ihre Stirn leuchtet vor Einsatzwillen ... ich werde verdammt nochmal nicht aufgeben, kommt nicht in Frage, ruft das schmächtige Persönchen. Sie will etwas haben von diesem Tag ... trotz allem ... Sie will!


    So war es auch mit Vera Farrow. Sie hatte das Gefühl, einfach zu spät aufgestanden zu sein. Sie hatte das Gefühl, Jahre ihres Lebens verschlafen zu haben. Aber genauso wie Kersti hatte sie sich entschlossen, etwas dagegen zu tun. Der Glaube, daß das Leben mehr sein müsse – auch für sie – war von einem Strohhalm zu einem Binsenschiffchen geworden, das nicht sinken konnte. Und die Angst, für immer und ewig wie angenagelt hinter dem Regal sitzen zu müssen, ihrem augenblicklichen Arbeitsplatz, (wenn die Welt nachweislich voller Schränke und Kommoden war), hatte ihr Ruder und Segel verliehen.

    Nach 8 Jahren als graue Verkäuferin in Brentano’s Buchladen hatte sie endlich den Staub von sich und ihren jugendlichen Ambitionen geschüttelt. Für Vera Farrow war jede Morgenstunde der letzten drei Monate ein »trübseliges Frühstück der Langschläferin« gewesen ...

    Sie hatte ihren Job im Buchladen behalten, fuhr aber jeden Dienstag und Freitag Abend mit dem Bus uptown zum City College, am Rande von Harlem und nicht weit entfernt vom Apollo Theater. Sie besuchte einen Kurs für creative writing und literarische Analyse. Vera Farrow hatte sich immer für Literatur interessiert, jetzt beabsichtigte sie, etwas »Richtiges« daraus zu machen. Vielleicht würde sie später einen Job in einem Verlag bekommen, man konnte nie wissen!


    Außerdem hatte sie sich verliebt.

    Er hieß Virolainen und war Gastdozent für literarische Analyse.

    Virolainen sah aus wie ein finnischer Holzfäller und hatte die Mitternachtssonne in den Augen – glaubt man Vera Farrows Tagebuch. Zu Hause in Helsinki hatte er eine Frau und drei Kinder im Alter zwischen 7 und 11 Jahren. Doch wenn sich eine Langschläferin verliebt, kennt sie keine kleinlichen Rücksichten. Und Virolainen ging es offensichtlich ebenso.

    Ihr erster Beischlaf fand nach einer Vorlesung über Evert Taube statt.

    Er hatte über »Fritjof Anderssons Parademarsch« gesprochen, und sie war am Katheder stehengeblieben, bis die anderen Studenten zusammengepackt hatten und gegangen waren. Ihre Fragen waren total sinnlos, aber beide ließen sich nichts anmerken. Virolainen hatte sie gebeten, mit in sein Büro zu kommen – wo er mehr Bücher hätte ... Er hatte ihr seine Hände väterlich auf die Schultern gelegt, und Vera war eine Gänsehaut über den Rücken gelaufen, und Virolainen hatte einen trockenen Mund bekommen. Aber beide hatten krampfhaft versucht, sich nichts anmerken zu lassen.

    Zwei Wochen lang – durch vier elektrisch geladene Doppelstunden – hatten sie sich mit den Augen gekost. Jetzt empfanden beide die Situation als unwirklich, als würde sie anderen widerfahren, und beide fühlten sich linkisch und unbeholfen. Virolainen hatte krampfhaft seine Interpretation von »Fritjof Anderssons Parademarsch« fortgesetzt, und Vera hatte krampfhaft zugehört.

    »Hier kommt Fritjof Andersson, es schneit auf seinen Hut«, sagte Virolainen. Seine Hände lagen immer noch auf ihren Schultern, reglos wie zwei träge Katzen. Vera bewegte ihren Kopf vorsichtig von einer Seite zur anderen, als wollte sie seine Hände massieren, aktivieren, in Gang bringen. »Wenn Evert Taube ganz am Anfang über Fritjof Andersson sagt, es schneie auf seinen Hut – handelt es sich hier nicht um eine eindeutige Aussage«, sagte Virolainen. Vera beendete ihre Kopfbewegungen und spürte, daß seine Hände von selber weitermachten, ihren Nacken kraulten, zufällige Abstecher hinunter zwischen die Schulterblätter machten. Aber beide ließen sich nichts anmerken. »Natürlich nicht«, sagte Vera und spürte, wie er den Reißverschluß am Rücken öffnete. »Die Frage ist«, sagte Virolainen heiser, »... nur ... welche ... Interpretation am wahrscheinlichsten ist.«

    »Und welche Möglichkeiten haben wir Ihrer Meinung nach?« fragte Vera und fingerte an seinem Gürtel, ließ den Daumen an der Innenseite des Hosenbundes wandern.

    »Es schneit auf seinen Hut«, sagte Virolainen und schaute ihr tief in die Augen. »Damit könnte der Autor gemeint haben ... Entweder ...« Sanft und behutsam – und mit ihrer Hilfe – befreit er ihre Arme vom Kleid. »Entweder: Fritjof beeinflußt das Wetter, verursacht mit anderen Worten den Niederschlag ... Oder ...« Vera kickte die Schuhe von sich und trat aus dem Kleid. Darunter hatte sie nur BH und Schlüpfer. Nach wie vor versuchten beide, sich nichts anmerken zu lassen. »Oder ...«, sagte Virolainen und räusperte sich, »Fritjofs Hut verursachte den Niederschlag. Mit anderen Worten: sein Hut hätte magische Kräfte besessen.« Vera nickte eifrig. Sie spürte, daß sie zitterte. Als sie seinen Gürtel öffnete und ihre Hand über die warme, nackte Haut gleiten ließ, merkte sie, daß es ihm nicht anders erging. »Oder«, sagte Virolainen und fummelte an ihrem BH-Verschluß, »Fritjof Andersson folgte dem Winter. Mit anderen Worten: er hielt sich stets dort auf, wo Schnee war.« »Ja, genau«, flüsterte Vera und umfaßte sein Glied. »So kann man es auch sehen.« Es wuchs und pochte in ihrer Hand, und sie mußte sich in die Lippe beißen, um normal zu sprechen. »Oder ...«, sagte Virolainen und schob sie vorsichtig in Richtung auf ein Sofa. »Oder ...«

    »Ja?« sagte Vera. »Ja?« Sie bewegten die Füße langsam, ganz langsam ... so unmerklich, als wollten sie die Bewegung leugnen, als wollten sie sich deren Nicht-Existenz einbilden, als wollten sie sagen: wir haben überhaupt nicht vor, dorthin zu kommen, wir haben überhaupt nicht vor, irgendwohin zu kommen, wir stehen immer noch da, wo wir gestanden waren ... »Oder: der Winter folgte Fritjof Andersson«, sagte Virolainen, während sie hinsanken zwischen alte Zeitungen, Buchstapel, einen Pullover mit Rentiermuster, einen halbvollen Aschenbecher auf der Armlehne. »Oder: der Winter folgte dem Hut des Fritjof Andersson ...« Er war groß und steif, und sie befürchtete einen Augenblick, er würde außerhalb von ihr kommen, vor Erreichen des Ziels, so pochte es an ihrem Schenkel, als wäre sein Herz in den Unterleib gekrochen und kurz davor, sich Bahn zu brechen. »Oder: der Hut des Fritjof Andersson folgte dem Winter«, sagte Virolainen angestrengt – und glitt weich und glatt und sanft wie Seide in sie. Beide kämpften, um still zu liegen. Lagen mit halb geschlossenen Augen da und zitterten ineinander. Vera wollte etwas sagen, brachte aber kein Wort heraus. Sie merkte, daß ihr die Tränen aus den Augen schossen und leise und warm über die Wangen liefen. Sie wußte, daß nur Sekunden fehlten, bevor er kapitulieren mußte, daß das Spiel zu Ende war, daß er genauso wie sie brannte, sie wußte, daß er sich bald bewegen mußte, sie wußte, daß der schöne Rhythmus jetzt wie eine Flut in ihm stieg, unerbittlich. Und sie lachte, plötzlich und triumphierend, und zog ihn fest an sich.

    »Oder: ... es war ... schlicht ... und ergreifend ... Winter«, stammelte Virolainen schwer atmend. »Unabhängig sowohl von Fritjof Andersson wie von seinem verdammten Hut.«

    Und dann küßten sie sich – zum ersten Mal.

    Keiner von ihnen hatte das Gefühl, jemanden zu betrügen. Und sie redeten nie über seine Familie in Helsinki. Das hier ging nur sie beide an. Sie wußten, daß der Lehrauftrag am City College bald zu Ende war und er im Juni nach Finnland zurückmußte. Daß er reisen würde. Beide wußten es. Aber auch das wurde mit keinem Wort zwischen ihnen erwähnt. Das gehörte gewissermaßen zu einer anderen Welt. Sie waren zwei Kinder, die für ein Weilchen versuchten, sich in einem Bild von Henri Rousseau zu verstecken. Vera bildete sich sogar ein zu wissen, welches Bild es war. Es war ein Dschungelbild. Vielleicht das schönste, das Rousseau geglückt war. Er malte es in seinem letzten Lebensjahr (1910), und wir finden darin alle Elemente seiner früheren Dschungelphantasien – die tropischen Blumen und Früchte, wilde Tiere und schöne Vögel, ein weißer Mond auf dem hellen Himmel, zwei seltsame menschliche Gestalten – aber das Bild ist noch mehr: Alles verschmilzt in einer höheren Einheit. Die Jagd ist zu Ende. Die lange Safari durch tausend Nächte. Jahrelang war er den Spuren gefolgt, hatte offene Ohren für die Gerüchte und hat Fragmente gesammelt. Jetzt ist er angekommen. In einer Landschaft, die auf keiner Karte verzeichnet ist. Endlich. Es ist der Dschungel der Phantasie. Der Traum (wie hätte er dieses Bild sonst nennen sollen?) ist endlich zu Öl und Leinwand geworden und wird nie mehr mit dem Morgengrauen über Paris verschwinden. Yadwiga ruht nackt auf einem roten Sofa, die langen Zöpfe sind teilweise gelöst – und so wird sie immerzu ruhen, lauschend ihrem dunkelhäutigen Flötenspieler, der im Dämmerlicht steht und dessen Spiel Löwen in sanfte, verwunderte Katzen verwandelt.

    Heute hängt das Bild im Museum of Modern Art. Und im Katalog steht meist folgendes:

    Painted 1910. Oil, 80 × 118½

    (Gift of Nelson A. Rockefeller)

    So kann es gehen. Aber Vera Farrow sieht nicht die Ironie, für sie ist der Traum immer gleich unversehrt und Yadwiga gleich schön und der Flötenspieler gleich geheimnisvoll und sie spielt, daß eigentlich sie selbst und Virolainen in diesem Bild wohnen. Wenn sie nicht in der Filiale in der 8th Street arbeitet, sondern in der Fifth Avenue (Mittwoch und Donnerstag), dann pflegt sie einen Abstecher ins Museum zu machen, um sich einige Minuten in Rousseaus Dschungel zu entspannen, ehe sie heimfährt. Besonders, wenn ohnehin Feierabendverkehr ist.


    Abgesehen von Dienstag und Freitag – nach der Vorlesung – waren sie gewöhnlich jeden Montag zusammen. Normalerweise in seinem Hotelzimmer. Vera hatte ihn nie mit nach Hause genommen. Und sie hatte nie weder Fay noch Hazel von ihm erzählt. Sie wußte nicht genau, warum. Seit zwei Jahren lebten sie jetzt in einer Wohnung zusammen und erzählten sich ansonsten fast alles. Aber das war gewissermaßen ... etwas anderes. Es war zum Beispiel nicht wie damals, als sie mit Freddy zusammen war. Es wäre sicher toll gewesen, Hazel davon zu erzählen. Hazel würde es verstehen. Und Hazel würde es nicht ins Lächerliche ziehen. Aber sie konnte schließlich keinen Unterschied machen. Und Fay ... Sie meinte Fay hören zu können! Nein, nein ... Fay war ein lieber Kerl, aber so direkt, daß Vera sich oft am liebsten unter dem Tisch verkrochen hätte, besonders, wenn Fremde zugegen waren. Fay konnten die unglaublichsten Dinge einfallen. Sie kannte keine Hemmungen und hatte vor niemandem Geheimnisse ... und sie erzählte Witze wie ein Droschkenkutscher. Und Vera war zutiefst überzeugt, daß sie diesmal – gerade jetzt – nicht wollte, daß jemand ihr Verhältnis mit Virolainen lächerlich machte. In einem halben Jahr vielleicht ... Vielleicht würde sie Fay in einem halben Jahr brauchen. Aber noch nicht – jetzt noch nicht.

    Deshalb erzählte sie keinem der beiden etwas.

    Vera verließ die Subway an der Grand Central Station. Hinter ihr verschwand donnernd die Wagenreihe, deren alltägliche graue Farbe mit Namen und Sätzen (flüsternd und laut rufend) in allen Sprachen der Welt und mit allen Regenbogenfarben verziert war – bekritzelt mit Kugelschreiber, mit Kreide markiert, mit dem Messer eingeritzt, mit dicken Pinseln bemalt ... zwei Meter hohe Buchstaben heimlich und unter Zeitdruck aufgesprayt, Sterne, Kreise, Kreuze und Wellen. Die Graffiti, die man in der Untergrundbahn von New York findet, sind mit nichts auf der Welt zu vergleichen. Das sind keine Klosprüche, es handelt sich eher um eine symbolische »Flaschenpost« von Menschen, die herauswollen aus Einsamkeit und Frustration. – Es gibt mich! rufen diese Waggonwände. – Ich bin vorhanden. Egal was zum Teufel ihr macht oder sagt, aber ich lebe auch. Ich bin vorhanden.

    Vera hatte gehört, daß es Leute gab, denen es unter tollkühnen Bedingungen gelungen war, ihren Namen auf die Außenseite dieser Wagen zu malen, die seitdem all ihre Freizeit auf U-Bahnstationen verbrachten – um sich einen billigen Rausch und eine onanistische Genugtuung zu verschaffen, wenn sie ihren Namen vorbeifahren sehen ...

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1