Die Stadt der Metallvögel
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Buchvorschau
Die Stadt der Metallvögel - Tor Åge Bringsværd
Nietzsche
Erste Rolle
Dämmerung
Noch kann ich mich an alles erinnern. Ich erinnere mich an den Weg, dem wir folgten. An die Spuren, die wir verwischten. An alles, was sich uns entgegenstellen wollte. An das Tor, das wir öffneten. Ich erinnere mich an Ker Shus, die Stadt der Metallvögel, mit ihren Türmen und bizarr geformten Spitzen, mit ihrem Segel aus rußigem Glas. Ich erinnere mich an die Dunkelheit, in die wir starrten. An den Abgrund, vor dem wir flohen.
Und ich schreibe das alles auf. Schreibe, wie es mich die Bücher gelehrt haben. Ohne zu wissen, ob es je gelesen wird. Aber ich habe den Gipfel des Berges erreicht. Von hier führt der Weg nur noch abwärts. Und ich befürchte, daß alles, was hinter mir liegt, verschwinden wird, wenn ich es nicht erzähle. Jori ist fort. Lazar gibt es nicht mehr. Fogart starb vor zwei Monaten. Von denen, die damals dabei waren, bin ich als einziger übrig. Deshalb rückt näher, Kinder – pflege ich zu sagen –, kriecht dichter ans Feuer. Denn dieser Winter ist vielleicht mein letzter bei euch. Und ihr sollt dann weitergeben, was ich erzähle, jeder nach seinem Verstand und Herz. So beginne ich. Jeden Abend. Und nachts schreibe ich auf, was ich erzählt habe. Lege die Wörter auf die Waage wie Steine. Behalte die, von denen ich fühle, daß sie richtig sind. Damit nicht alles vergeblich war. Damit nicht die Hunde recht bekommen. Und damit Ker Shus sich nie mehr wird erheben können.
Aber ich folge auch anderen Spuren. Gedanken, die nur mir gehören. Gefühle, die auf der Suche sind nach Namen und Eltern. Antworten, an die ich nicht glaube und die sich in Fragen verwandeln, wenn ich sie nur anblase. All das vertraue ich den Rollen an, wenn ich sie langsam mit Zeichen und Bildern fülle.
Mein Name ist Rokam. Der Unbehaarte. Rokam, der sein Fell von anderen borgen muß.
Wir wissen nicht sehr viel, wir in der Zone der Dämmerung. Wir sind einfach, wenigstens die meisten von uns. Wir arbeiten mit der Hand. Wir wandern. Wir machen unsere Bilder selbst. Und wir haben Wasser.
Wir sagen Abend.
Wir sagen Nacht.
Wir sagen Tag.
Wir sagen Morgen.
Die alten Wörter. Aber ohne Bedeutung.
Wir leben in der Zone der Dämmerung. Dem grauen Streifen zwischen Licht und Dunkelheit.
Trotzdem gibt es für alles eine Zeit.
Tanith jagt jetzt.
Wäre ich jünger, ich wäre mit ihr gegangen. Hätte im hohen Gras auf der Lauer gelegen. Mit ihr. Wäre mit ihr gegen den Wind gepirscht. Gemeinsam hätten wir uns von niederen Ästen fallen lassen.
Sie ist eine gute Gefährtin.
Ihre Mutter war auch eine gute Gefährtin. Jori. Mit den blauen Augen. Sanft und geschmeidig. Und mit einem Herz, das rastlos war.
Vieles gibt es, wofür ich dankbar bin.
Das Volk der Felin zählt mich zu den Seinen.
Aber sie lassen mich auch so, wie ich bin.
*
Ich merkte frühzeitig, daß ich anders war. Ich konnte nicht so schnell laufen wie die andern Kinder. Ich war nicht so geschickt im Klettern. Und wenn wir miteinander rauften, war immer ich der Unterlegene.
Vater sagte nie etwas dazu. Strich mir nur über den Kopf. Drückte mich an sich.
Ich hatte nur ihn.
Wir wohnten für uns. Immer außerhalb des Lagers. Karp war damals der Anführer. Und Vater und ich gehörten nicht zum Stamm. Wir waren keine Felin. Aber wir gingen mit ihnen. Gingen mit Karps Stamm auf die langen Wanderungen. Am Mes entlang – zu den Tebronbergen und wieder zurück zur Rilebene. Nie zu lange an einem Ort. Nie zweimal am selben Ort. Damit die Metallvögel nie wußten, wo sie uns finden konnten. Ich erinnere mich, daß Vater mich oft tragen mußte.
Ich konnte sehen, daß ich anders war. Ich wuchs auch nicht so schnell wie die andern. Die Kinder, mit denen ich spielte, wurden erwachsen, wurden Männer und Jäger, und ich war nach wie vor ein Junge.
Ich konnte sehen, daß auch Vater anders war. Lange glaubte ich, daß ich eines Tages werden würde wie er.
Er war liebevoll. Er half mir. Er gab mir all die Geborgenheit, die ich brauchte.
Aber nie mit Worten.
Nur zweimal hörte ich ihn reden.
Das erste Mal, als er starb.
Ich lernte, Ratten zu hassen.
Ich lernte, Hunden zu mißtrauen.
Ich lernte, daß wir – die Felin – Menschen waren.
Ich lernte, daß im Westen Nacht und ewige Dunkelheit herrschen. Im Osten ist der Sonnenaufgang. Und jenseits davon ist immer Tag.
Ich lernte, daß die Metallvögel aus dem Tag kommen und daß man immer nach Westen fliehen muß – hin zur nacht – obwohl nirgends der Weg so unbekannt und voller Ratten ist.
Tanith ist wieder da.
Ihr Mund ist blutverschmiert. Sie schleckt sich. Blickt mich befriedigt an. War es eine gute Jagd? Sie nickt. Umarmt mich. Drückt sich an mich. Ich reibe mein Gesicht an ihrem Bauch. Er riecht nach Wald und nassem Gras.
*
Der Wind hat wieder zugenommen. Jetzt kommt er von Süden. Mit gelben Sporen. Kleine Wirbel glänzender Staubteilchen. Wie Insekten. Wie der Glutregen eines fernen Feuers.
Wir leben in einer Welt, in der es immer bläst. In der sich der Wind ohne Vorwarnung dreht und wechselt. Wild und unberechenbar. Als fürchte er, eingefangen zu werden. Als wolle er sich weigern, zu etwas benutzt zu werden.
Der Wind ist das, wovon wir zuerst hören.
In Shiba – dem Land, wo der Mond stirbt – beten sie den Wind an und nennen ihn Er-der-wahrhaft-frei-ist. Ich habe ihren Altar gesehen, mit Windrädern, mit singenden Röhren und mit felsgroßen Skulpturen, an denen farbige Lederwimpel flattern. In Shiba ziehen sie ihre Toten auf hohe Masten hinauf. Damit der Wind die Seelen befreien kann. Sie glauben, ihre Vorfahren singen in den großen Windpfeifen des Altares, und ich habe Leute gesehen, die tagelang lauschend dasaßen, um möglicherweise die Stimme von einem ihrer Angehörigen wiederzuerkennen.
Das Land, wo der Mond stirbt. Der Ort, wo der Mond voll ist. Die Halbmondwälder ... Ich bin weit gewandert. Ich habe den Mond in allen seinen Phasen gesehen.
Hier bei uns ist er jedesmal neu.
Ich hatte eine alte Lehrerin, die Mirja hieß. Der Mond ist sehr nützlich, pflegte sie zu sagen. Wenn er scheint, erzählt er uns, wo wir sind und was uns erwartet.
Ich liege wach und denke an den Mond.
Bald wird er wieder hier sein. In neunzehn Tagen und neunzehn Nächten.
Ein Messer am Horizont.
Der Wind dreht.
Er kommt jetzt von Norden.
Morgen haben wir vielleicht Schnee.
*
Ich hatte einen Freund namens Lazar. Und einen Freund namens Kiri. Sie waren auch noch mit mir zusammen, nachdem sie Jäger geworden waren. Ich bewunderte sie, blickte zu ihnen auf – und beneidete sie. Sie hatten die Erlaubnis, einen ganzen Tagesmarsch rechts oder links von uns herumzustreifen. Sie erzählten von Schlangen so dick wie Baumstämme. Sie kämpften gegen Spinnen. Sie jagten Perafer und Jamiter. Damals wie jetzt war es die Aufgabe der Jäger, nicht nur Essen heranzuschaffen, sondern auch den Weg für uns zu bahnen.
Ich selbst mußte beim Rudel bleiben.
Felin benutzen nur Waffen, wenn sie dazu gezwungen werden. Wenn eine wirkliche Gefahr besteht oder wenn der Stamm angegriffen wird. Am liebsten jagen sie nur mit einem kleinen Messer. Und benutzen Krallen und Zähne. Vater brachte mir bei, den Speer und den Bogen zu gebrauchen. Er lehrte mich, der Speer zu sein, der Pfeil zu sein. Denn nur so bist du sicher, das zu treffen, was du willst. Er war der Beste von allen. Was er sehen konnte, das konnte er auch treffen. Und er sah besser als jeder andere. Er hörte auch besser. Aber er entfernte sich nie weit vom Rudel. Er hielt sich stets in der Nähe auf. Ich wußte, daß ich nur zu rufen brauchte. Ich wußte, daß er stets da war. Denn obwohl ich übte, sooft ich konnte ... ich wurde nie geschickt im Gebrauch der Waffen. Als Erwachsener lernte ich die Jagd zu schätzen, um ihrer selbst willen. Aber das brauchte Zeit. Ich war allerdings in allem, wozu man die Hände braucht, nie besonders geschickt. Viele Jahre lang war ich abhängig von Vater. Und von den andern. Vor allem von ihm. Ich war der nutzlose, unbeholfene Junge, der nie erwachsen wurde. Über den alle lachten. Und der zurücklachte, damit niemand merken sollte, wie weh es tat. Der jedesmal, wenn ihm etwas mißlang, Grimassen schnitt und Purzelbäume schlug. Aber ich hatte zwei Freunde: Lazar und Kiri. Und einen Vater, bei dem ich weinen durfte. Ich wünschte mir so sehr, er könnte stolz auf mich sein. Merkwürdigerweise glaube ich, er war es. Auf seine Weise. Er selbst wurde von allen respektiert. Aber er hielt stets Abstand. Da waren nur wir zwei, sonst niemand. Er wollte, daß wir außerhalb des Lagers wohnten. Er nahm sich nie eine Gefährtin. Und ich habe nie gesehen, daß er seine Mahlzeiten mit jemandem geteilt hätte. Er war stumm und gab keinen Laut von sich. Wenn er schlief, war es unmöglich, ihn atmen zu hören. Und beim kleinsten Geräusch war er wach. Er war stets auf der Hut. Jedesmal, wenn sich eine Gefahr ankündigte, spürte ich, daß seine Augen mich suchten. Karp war der Anführer. Auch er tröstete mich. Auf seine Weise. »Rokam«, sagte er einmal. »Sei ein guter Sohn. Dein Vater liebt dich. Er ist ein merkwürdiger Mann. Anders als alle andern. Deine Mutter muß auch eine merkwürdige Frau gewesen sein. Jetzt hat er nur dich. Die Wälder und die Berge kennen niemanden, der so ist wie ihr. Sei ihm ein guter Sohn.« Karp stand über allen andern. Aber er behandelte stets Vater wie einen Ebenbürtigen. Lazar und Kiri erzählten, daß Vater einmal Karp vor dem gelben Tod gerettet habe. Der Boden hatte plötzlich nachgegeben, und Karp war in ein Schlangengrab gefallen. Aus Ritzen und Klüften wanden sich sofort kleine Knäuel von verwickelten Schlangen. Die andern Jäger waren dagestanden wie gelähmt. Aber Vater war hinuntergesprungen. Ohne zu zögern. Hat Karp hoch über sich gehoben. Hat ihn wie einen Sack auf die Schulter geworfen, hat die Schlangen niedergetreten und war hochgeklettert. Wie er das geschafft habe, sei unglaublich gewesen, erzählten Lazar und Kiri übereinstimmend. Beide waren sie dabeigewesen. Die gelben Schlangen züngelten und zischten, und ein einziger Biß wäre tödlich gewesen. Aber sogar nach diesem Ereignis weigerte sich Vater, einen Namen anzunehmen. Er blieb sein Leben lang ohne Namen. Karp erzählte mir, wie Vater zum Stamm gekommen war. Er war in der Regenzeit gekommen. Wandernd über die Rilebene. Allein und ohne Waffen. Mit einem kleinen Bündel auf den Armen. Die Jäger trafen ihn vor dem Lager. Er blieb stehen. Zeigte aber keinerlei Angst. Hielt ihnen das Bündel entgegen. Unter den Jägern war eine Frau, die gerade zwei ihrer eigenen Jungen verloren hatte. Vater muß es ihr angesehen haben. Er ging zu ihr und legte mich an ihre Brust. Und ich begann sofort zu saugen.
Ich selber habe keine Kinder.
Tanith sagt oft im Spaß, sie sei meine Tochter. Mit Jori. Aber damit will sie mir wohl eher eine Freude machen. Keiner von uns glaubt es. Und Jori hatte mit so vielen Kinder.
Auch Tanith hat andere Freier. Ich höre sie, ob ich will oder nicht. Ich weiß, daß sie da draußen warten.
Sie weiß auch, daß ich sie nicht halte. Sie geht, wohin sie will. Es ist nicht meine Angelegenheit, neue und fremde Wege für das Volk der Felin zu bereiten.
Und wir wissen nie ganz sicher, ob etwas wirklich ist.
Wir wissen nie ganz sicher, ob das, was uns begegnet, Wirklichkeit ist oder ein Drino. Selbst aus nächster Nähe ist es unmöglich, den Unterschied festzustellen. Der erste Drino, an den ich mich erinnere, war ein Drache. Mit weit aufgerissenem Maul und dampfenden Nasenlöchern. Ich glaube sogar, er hatte Flügel. Wie alt kann ich gewesen sein? Drei? Vier? Ich erinnere mich, daß ich wie ein verletzter Vogel schrie. Und ich sehe noch vor mir, wie Vater ihn mit einem langen Stock durchbohrte, ihn wie eine Blase anstach, so daß er verschwand.
Tanith liegt auf der Seite und blinzelt mich mit schmalen Augen an.
Ich strecke eine Hand aus. Lege sie unter ihr Gesicht. Spüre, wie sie den Kopf gegen meine Handfläche drückt.
*
Vieles hat sich geändert. Vieles ist, wie es war. Wir wandern nach wie vor. Aber wir bleiben jetzt länger an einem Ort. Und wir kehren gerne zu alten Lagerplätzen zurück. Denn die Metallvögel sind tot. Ich habe gesehen, wie sie in Ker Shus verrottet sind. Sie werden nie mehr mit blitzenden Augen über unseren Wäldern rauschen und wie rollender Donner dröhnen. Nie mehr werden die Felin wie die aufgescheuchten Hasen davonlaufen, jeder um sein Leben rennend, gejagt von Klauen und kalten Fangarmen. Wir haben jetzt mehr Zeit. Wir tanzen mehr.
Ich war zehn, als die Metallvögel kamen.
Die Erwachsenen haben uns immer erschreckt damit. Wenn sie etwas erreichen wollten. Oder wenn etwas verboten war. Sie haben uns lange Geschichten erzählt mit Feuer und Schatten. Haben berichtet von Stämmen, die innerhalb einer Stunde ausgerottet worden waren. Wir hatten es so oft gehört, daß es für uns beinahe zum Märchen wurde. So wie die Geschichten von Er-der-Stiefeltrug.
Abgesehen von Lazar und Kiri spielte ich noch mit den Vier- und Fünfjährigen. Wir waren Kinder. Wir dachten in kurzen Sprüngen. Wir verstanden nicht, wie die Angst mehrere Jahre lebendig sein konnte, ohne daß etwas passierte.
Auch die jungen Jäger verstanden das nicht. Sie lauschten. Sie taten das, was man von ihnen erwartete. Aber ohne es zu verstehen. Sie dünkten sich besser, stärker und mutiger als die Alten. Karp hatte die Metallvögel zweimal gesehen. Ich weiß, daß die Jungen lächelten, wenn er davon erzählte.
»Jeder einzelne von ihnen ist wie hundert Krokodile«, pflegte Karp zu sagen. »Und obwohl ihre Flügel unsichtbar sind, bewegen sie sich schneller als ein Pfeil.«
Niemand, der die Metallvögel nicht erlebt hat, kann das begreifen.
Und eines Tages kamen sie ...
Das Felinvolk jagt nie in derselben Spur wie die Hunde. Wenn wir sie wittern, biegen wir ab. Wir gehen ihnen aus dem Weg. Und sie uns. Denn es besteht eine alte Feindschaft zwischen uns und den Hunden. Aber auf diese Weise erreichen wir eine Art Frieden. Mit dem beiden gedient ist.
Wir hätten wissen müssen, daß es ein schlechtes Zeichen war, als wir ein ganzes Rudel von ihnen zu Gesicht bekamen.
Sie standen oben auf einer kleinen Anhöhe. Warteten. Versperrten den Weg.
Deshalb bogen wir ab.
Am nächsten Tag witterten