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Die Geierkrieger
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Die Geierkrieger
eBook820 Seiten11 Stunden

Die Geierkrieger

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Über dieses E-Book

Afrika, die Kalahari: Es ist ein Morgen im Winter, als der Junge erwacht und hinter den Büschen verschwindet, um pinkeln zu gehen. Kaum kann er die Hand vor Augen erkennen, als sich die Dunstschleier plötzlich lichten. Eine Horde Männer taucht auf wie von Geisterhand gerufen. Die Fremdlinge nähern sich lautlos den Hütten und beginnen ihr grausames Werk. Sie stürmen das Dorf, töten alle Einwohner des Dorfes außer dem Jungen. Keiner bemerkt ihn, der sich hinter den Büschen versteckt, und als sich der erste Schock gelegt hat, macht er sich auf die Wanderschaft, hinaus in die weite Landschaft. Er kommt zu anderen Dörfern und lauscht anderen Geschichten, und eine Myriade von komischen und tragischen, poetischen und grausamen, traurigen und beglückenden Ereignissen setzt ein, die sich zu einer eindrucksvollen Saga über das Schicksal der Buschmenschen seit frühester Zeit verbinden. AUTORENPORTRÄT Der vielfach preisgekrönte dänische Autor, Arthur Krasilnikoff, geboren 1941, beschäftigte sich schon früh mit dem Schicksal der Buschmenschen. An seinem Roman über das "Rote Volk" arbeitete er zehn Jahre. REZENSION "Was für eine lebendige, atmende, bewegende Geschichte! Öffnen Sie Ihr Herz, verbringen Sie ein einsames Wochenende mit Lesen und entdecken Sie eine Kultur, bevor es zu spät ist!" - Information "Eine Große Saga, die Zeugnis darüber ablegt, wie das Rote Volk sein Land an die Schwarzen und Weißen verloren hat. Ein bemerkenswertes, ein einzigartiges Buch!" - Politiken
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum29. Jan. 2015
ISBN9788711329122
Die Geierkrieger

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    Buchvorschau

    Die Geierkrieger - Arthur Krasilnikoff

    Kanta

    Die Geierkrieger und der Junge, der pinkeln musste

    Kanta erzählt

    Sie kamen mit dem ersten Lichtschimmer.

    An diesem Morgen war der Junge zeitig aufgewacht. Er wunderte sich über das verschwommene Licht und den Dunst, der mit dem Licht untrennbar verbunden schien. Nur Büsche und Bäume stachen dunkel aus dem weißen Nebeldunst hervor. Alles war von dem dichten Nebel umgeben, der nur langsam enthüllte, was er verbarg.

    Zuerst glaubte er, sie seien Steine, die er vorher nicht bemerkt hatte. Er konnte die Gesichter der Männer nicht ein einziges Mal richtig sehen. Aber er sah, dass sie sich Geierfedern um die Oberarme gebunden hatten und dass zwischen den Federn kleine Pfeifen aus Knochen hingen.

    Sie töteten jeden Einzelnen.

    Jeden Einzelnen, der schlafend in der Siedlung lag. Er entkam als Einziger. Er wusste nicht, ob die Getöteten noch etwas gemerkt hatten, so schnell ging alles. Er hatte sich ein Stück von der Siedlung entfernt, um zu pinkeln. Er konnte sich gerade noch ins Gebüsch werfen, als sie mit ihrem Gemetzel begannen. Die Männer sprachen nicht miteinander. Sie töteten seine Leute, als ob sie als ein Wesen mit einer Absicht handelten.

    Zuerst war weißer Dampf da, als sei die Welt in ein Spinnengewebe aus Nebel eingesponnen. Und vereinzelte Vogelpfiffe. Doch die Stille begann zu grollen und zu schreien, als würde die Welt kentern. Langsam geriet sie aus den Fugen, da sie dem Ersten den Hals durchschnitten. Er war nicht in dieser Welt, als sie seinen Vater umbrachten. Ein Schnitt – das war alles.

    Als er zurückkehrte, war es ganz still. Der Morgen breitete sich in seinem seltsamen weißen Dunst und seinem zitternden Licht vor ihm aus. Zögernd kam die Welt zurück. Scharfer Akaziengeruch stieg ihm in die Nase. Es würde nicht lange dauern, bis die Wärme diesen seltsamen Traummorgen vertreiben und er sehen würde, was passiert war.

    Trotzdem blieb er liegen, als die Wärme kam und die Insekten zum Leben erwachten. Das Nebelspinnengewebe löste sich auf. Ein Käfer summte vorbei. So einen Nebel hatte er noch nie gesehen.

    Jetzt war es ganz still. Die Feuer rauchten nicht mehr. Und niemand war da, der sich erhoben hatte, um neues Brennholz aufzulegen. Obwohl er die Augen geschlossen hielt, spürte er das Kribbeln der Wärme auf der Haut.

    Niemand hatte sich bewegt.

    Er war nicht da gewesen, als die Geiermänner kamen.

    Niemand erhob sich, um nach ihm zu rufen. Kein Laut war zu hören. Erst da bemerkte er den schwarzen Skarabäus, die blaue Akazienbiene und die kupferrote Ameise, die durch den Sand krabbelten, der die gleiche Farbe wie der Nebel hatte. Er lag da, als sei er gefallen.

    Endlich kam er auf die Beine. Er tat, als sei nichts gewesen, guckte starr auf den Boden und ging weg. Er konnte sich nicht überwinden zurückzugehen. Als er so weit gegangen war, dass er die Siedlung nicht mehr sehen konnte, fand er die Federn und die Knochenpfeifen. Sein Überleben war nicht beabsichtigt gewesen.

    Lange Zeit war er allein und sehnte sich nach Menschen. Der Himmel erhob sich blau und mächtig über ihm und beobachtete ihn unaufhörlich. Überall, wo er ging und stand, breiteten sich Bäume und Büsche über der gewaltigen Ebene aus. Gras und Sand schienen zwischen ihnen hindurch.

    Von dem Moment an, als er gesehen hatte, wie seinem Vater die Kehle durchschnitten worden war, bestand für ihn alles Lebende nur mehr aus Stöcken, Haut und Knochen.

    Es gab nichts Lebendiges mehr. Alles schien von toten Dingen ausgeführt zu werden.

    Er ging lange.

    Es war ihm gleichgültig, ob er im Kreis, vorwärts oder rückwärts ging. Wenn er nur etwas zu essen und zu trinken bekam.

    Ab und zu fiel sein Blick auf die in weiter Ferne grasenden blauen Gnus. Sie ähnelten Hautstücken, die fest auf einen Rahmen aus Knochen gespannt waren, und wirkten seltsam flach. Es fiel ihm schwer zu glauben, dass sie wirklich da waren. Und wenn er ihre wunderlichen lang gestreckten Köpfe mit der tief liegenden Augenpartie, die schwarzen gebogenen Hörner genauer betrachtete, wurden sie noch unwirklicher. Das ununterbrochene Gebrüll einer Vielzahl von Tieren, das um sie herum in der Luft über der Ebene schwirrte, anschwellend und abebbend zugleich. Diese Laute und Gerüche bewirkten etwas in ihm. Er konnte sie nicht ertragen. Sie machten ihn unsicher, so als würde ihn jemand verfolgen.

    Die Gnus ließen ihn sehen, wie sie gebaut waren; Zebras und Springböcke dagegen waren zu rund, um durch sie hindurchzusehen. Die Haut saß so eng um ihren runden fleischigen Körper, dass das Skelett darunter verschwand.

    Tagelang irrte er umher. Er hatte vergessen, dass er eine Stimme besaß. Kein Laut entwich ihm. Irgendwer hatte geschrien an jenem Morgen, ein Schrei wie von einem Vogel. Seitdem hatte er keine Stimme mehr.

    Manchmal blieb er stehen und spähte in die Landschaft. Sie breitete sich in Wellen vor ihm aus. Überall Büsche und Bäume. Dazwischen Gras. Zu dieser Zeit war es grün und frisch. Es war ein Platz für Kuhantilopen, den er in einem Traum hätte erfinden können. Ihre langen schmalen Gesichter starrten ihn unablässig an. Die Augen schienen zu glühen. Die Schädel mit den schwarzen nach hinten gebogenen Hörnern waren unter der dünnen Haut deutlich sichtbar. Er dachte, dass sie auch nicht anders gemacht waren wie eine Tanzpuppe, selbst wenn es im Traum geschehen war.

    Er sagte kein Wort, was immer er erlebte. Er bestand nur noch aus seinen Sinnen und seinem Körper, der unaufhörlich Hunger und Durst spürte, Durst. Das Einzige, was er tat, war, Essen für diesen Körper zu beschaffen.

    Als er erwachte, sah er Geier an Stelle der Männer. Natürlich war das beabsichtigt. Davon ließ er sich nicht täuschen. Auch wenn er danach keine Geier mochte, aber wer tat das schon? In Wirklichkeit waren sie ja auch nur als Männer verkleidete Apparate. Dann kamen die Hyänen, und er verließ den Ort. Jetzt hatte er kein Zuhause mehr.

    Er war ein lebender Toter. Er hätte tot sein sollen und trotzdem war er es nicht. Hätte er nicht pinkeln müssen, wäre er jetzt tot. Er kroch weg, und erst als er weit weg war und die Geier nicht mehr sehen konnte, wagte er aufrecht zu gehen.

    Vielleicht ging er den ganzen Tag. Manchmal kroch er. Dann wieder bekam er Angst und lief. Besonders auf den weiten Ebenen hatte er Angst, dass sich im Gras und den niedrigen Büschen Löwen oder Leoparden verstecken könnten, und er lief, dass das Gras gegen seine Beine schlug und er vor Atemnot keuchte, die übrige Zeit ging er wieder. Er konnte sich nicht erinnern, früher Angst gehabt zu haben. Er hatte das Gefühl, die ganze Zeit verfolgt zu werden. Er sank. Sein Magen zog sich zusammen. Er meinte sich übergeben zu müssen. Das Herz schlug ihm bis zum Hals.

    In der ersten Nacht ging es ihm schlecht. Er weinte, weil er ganz allein war. Jetzt, wo er versuchen musste, allein zu schlafen, kam alles zurück. Die Leute. Der Nebel. Sein eigener Atem. Die Geierfedern. Die sich anschleichenden Männer. Kein Atemlaut war von ihnen zu hören gewesen. Verzweifelt sehnte er sich, jemanden berühren zu können. Von jemandem gehalten zu werden. Oder einfach jemandem nahe zu sein, um dessen Wärme zu spüren. Schließlich versuchte er, sich selbst zu halten. Das tröstete ihn ein wenig.

    Alles war so schnell gegangen, dass er keinen Alarm schlagen konnte. Er hatte einfach dagestanden und gepinkelt. Noch halb schlafend, hatte er nur die Männer in dem weißen Nebel ausmachen können. Was hätte er tun sollen? Was wäre das Richtige gewesen? Und dann das erste Messer, und das nächste, und das nächste … das Blut, das so schnell aus den Kehlen schoss, dass niemand schreien konnte.

    Ganz langsam hatte er sich hingelegt. Plötzlich war er wie auseinander gebrochen, als sei er nicht länger ein Ganzes. Nur noch Sinne, die nicht mehr zusammenspielten.

    Mit den Augen sah er die Männer und das Blut. Mit den Ohren hörte er die Messer, wie sie in Haut und Fleisch schnitten. Mit der Haut fühlte er plötzlich die morgendliche Kälte und musste zittern.

    Das eine war nicht die Folge des anderen.

    Als der Nebel sich hob und verschwand. Als der Dunst wegtrieb wie dünne, zerfetzte Kleidungsstücke. Als die weißen Dampfwesen sich auflösten. Als die Geier kamen und später die Hyänen mit ihrem Gelächter, entdeckte er, dass er nicht tot war, wie er hätte sein sollen. Er wusste nicht, was er machen sollte. Die ganze Zeit war er den Tränen nahe.

    Jetzt vermisste er seine Mutter, obwohl er das nicht sollte. Er war ein großer Junge, aber noch immer liebte er es, von ihr gestreichelt zu werden, als sei er ein kleines Kind. Und den Vater, der ihn hochhob, dass er sehen konnte, wenn die blauen Gnus dem Wasser in der Luft hinterher donnerten. Und die kleine Tcisa, die ihn immer weckte, indem sie auf ihn krabbelte.

    Nein, sie alle gab es nicht mehr. Und ihn hätte es auch nicht mehr geben sollen. Es war verkehrt, dass er lebte, wenn sie alle nicht mehr da waren.

    Auch Großmutter und Großvater nicht, die ihn gelehrt hatten, was er wissen musste.

    Die Spuren, die allerkleinsten, den geknickten Zweig und den Abdruck, den das Tier hinterlassen hatte, der Aufschluss über Alter und Geschlecht gab. Wie alt die Spur war. Welchen Kot die einzelnen Tiere ausschieden. Was sie gefressen hatten. Welche Wurzeln essbar waren. Welche Früchte man nicht essen durfte. Auch wenn sie lecker aussahen.

    Die Jungen Dabe und Qaa, die immer gemeinsam auf die Jagd gingen und ihn manchmal mitnahmen, damit er sehen konnte, wie sie es machten, und die ihn lehrten, Fallen zu bauen. Und wie man kleine Zweige von bestimmten Büschen in die Erde steckte. Wie man sie anordnen musste, damit die Tiere den Weg zu der Falle einschlugen. So wie sie es von den Jungen gelernt hatten, die älter als sie waren.

    Der erste Kronendukker, den er fing, entkam, weil er ihn nicht sofort erschlug. Die kleinen Hörner an der Stirn, die wie zwei magische Gewächse hochstanden. Er konnte sich noch immer an den schwachen Duft der Wärme erinnern, der von dem Tier ausging, und an das wilde Schlagen des Herzens. Das Tier hatte nicht einmal geschrien. Zuletzt streifte der Pelz seine Brust, während er vorsichtig die Beine des Tiers aus der Falle befreite. An das Gefühl, als der Dukker aus seinen Armen sprang, aus einer Art Gemeinschaft, die sich in Rauch auflöste. Die jagenden Jungen lachten so, dass sie beinahe umfielen. Als er das nächste Mal ein Tier einfing, diesmal ein Springhase, machte er es wie die anderen und versetzte ihm einen ordentlichen Schlag mit der Keule. Bang. Tot und still.

    Nein, nichts würde er mehr von ihnen lernen.

    Und nichts hatte er bei sich, als er aus der Siedlung weglief. Nicht einmal etwas, um Feuer zu machen. Ein kleines Feuer, an dem er sich wärmen konnte. Deshalb dachte er an den Strauß. Wenn er nur ein Feuerzeug gehabt hätte wie er. Ja, bevor es dunkel wurde, hatte er nicht darüber nachgedacht. Es war einmal ein Strauß, der hatte ein Feuerzeug, mit dem er Feuer machen konnte.

    Niemand sonst besaß etwas so Prächtiges.

    Gxwma war schon lange aufgefallen, dass das Essen, das der Strauß zubereitete, immer sehr gut roch. Eines Abends, als Gxwma sich nahe genug herangeschlichen hatte, um etwas erkennen zu können, sah er, wie der Strauß Feuer machte und mit Töpfen und Töpfchen zu hantieren begann. Wenig später breitete sich ein herrlicher Duft in der Dunkelheit aus, und das Feuer leuchtete, dass man es auf eine lange Entfernung sehen konnte.

    So unglaublich hatte Gxwmas Essen nie geduftet.

    Gxwma dachte, dass er dieses Feuerzeug haben musste.

    Nach einer Weile entdeckte Gxwma, dass der Strauß das Feuerzeug unter einem seiner Flügel versteckte. Oho, dachte er. Oho, jetzt weiß ich, was ich tun muss.

    Ein paar Tage später kam Gxwma vorbei.

    »Du, Strauß, ich habe einen Busch mit reifen Beeren gefunden. Möchtest du welche haben?«

    Froh folgte der Strauß Gxwma und dachte sich nichts dabei.

    »Sieh. Da ist der Busch.«

    Unverzüglich entdeckte der Strauß die Beeren und begann sich voll zu stopfen. Oh. War das köstlich. Er konnte an nichts anderes denken, als all die guten Beeren zu fressen.

    Da sagte Gxwma: »Die größten hängen ganz oben. Sieh mal, da. Das sind die besten. Meinst du, du kannst an sie herankommen? Du bist viel größer als ich.«

    »Ja, das kann ich«, sagte der Strauß und dachte sich nichts dabei. Worauf er sich so hoch reckte, wie er konnte, um an die Beeren zu kommen, und die Flügel ausbreitete, um an die Beeren zu kommen, die noch weiter oben waren. Denn jetzt glaubte er, dass die höchsten die besten seien.

    Sofort raubte Gxwma das Feuerzeug und lief wie ein Steinbock, um fortzukommen.

    Endlich begriff der Strauß, worauf Gxwma die ganze Zeit aus gewesen war.

    In der Zwischenzeit hatte Gxwma mit spitzen Steinen aus dem Dornbusch eine Falle für den Strauß gebaut, da er genau wusste, dass der Strauß schneller laufen konnte als er. Gxwma hatte Dornbuschzweige in den Boden gesteckt, sodass der Strauß gezwungen war, bei seiner Verfolgung zwischen ihnen hindurch und über die spitzen Steine zu laufen.

    Wie ein Wirbelwind kam der Strauß angerannt und lief direkt in die Falle. Gxwma hatte die Steine so geschickt angebracht, dass sich der Strauß alle Zehen bis auf den großen Zeh und den Zeh daneben, die beide am Fuß hängen blieben, abschnitt. Dadurch wurde der Strauß so aufgehalten, dass Gxwma mit dem Feuer entkommen konnte.

    Seit dieser Zeit hat der Strauß nur zwei Zehen.

    Und kein Feuer.

    Ehéh.

    Sie sitzen im Schatten unter dem Apfelblattbaum

    Der Baum steht westlich von der Mitte der Siedlung, die oben auf einem nach Süden gehenden Hang liegt. In alle Richtungen breitet sich die Hochebene weit unter dem sengenden Blick des Himmels aus.

    Es sind bestimmt ein Dutzend Hütten oder mehr, die den Menschen als Wohnungen dienen. Den Menschen der Dornenbüsche. Sie gehören zum roten Volk. Ncoakwe. Oder sie nennen sich einfach kwe.

    Sie sitzen viele Tage dort, während sie Werkzeuge und Ledersachen fertig stellen, die als Kunsthandwerk an die Aufkäufer verkauft werden sollen. Während der sich unablässig jagenden Jahreszeiten haben sie im Schatten ihre Beute mit Messer und Nadeln und ihr Leben mit dem Mund verarbeitet. Sie erzählen diese Geschichten, weil sie mit ihnen weiterleben.

    Da sind unter anderem NxauNxau, Kanta, Abel, Duitwé. Qose und Willie, der eigentlich ein Farmersohn aus Ghanzi ist. Khuuo, der aus dem Norden gekommen ist, aus Chobe. Er ist zufällig da, während die Geschichte erzählt wird.

    Zwischendurch sind sie mit anderen Dingen beschäftigt, doch dann kommen sie zurück und erzählen weiter.

    Duitwé und Qose haben Zickzackstreifentätowierungen über den Augenbrauen, auf den Wangen, doch nicht aus Schönheitsgründen. Die Tätowierungen sind mit Asche gefüllte Narben von Kopfschmerzen der Seele und des Körpers.

    Duitwé ist die Älteste. Sie ist so alt, dass niemand ihr Alter kennt, denn sie ist älter als alle anderen. Ihre Haut ist von Runzeln durchzogen, und ihr Gesicht zeigt tiefe Furchen. Es zerspringt vor Lachen und schnalzenden Lippen, ob sie nun von Lachen oder Schmerzen erzählt. Und hinter ihren Worten zittert unaufhörlich ein Husten, der ab und zu so gewaltsam aus ihr herausbricht, dass sie aufstehen und sich aushusten muss, um wieder Luft zu bekommen.

    Qose ist inzwischen auch in die Jahre gekommen, auch wenn sie noch immer einen ausgelassenen Melonentanz tanzen kann. Man bemerkt sie nicht, trotzdem ist sie die, die immer da ist. Doch hat man ihr einmal in die Augen gesehen, vergisst man ihren Blick nie mehr. Sie ist Kantas Mutter. Jung ist sie nicht mehr.

    Khuuo ist auch alt. Dennoch hat er die lange Reise von Nordosten hier herauf unternommen, weil die Familie seines Vaters aus diesem Teil des Sandgesichts stammt. Er hat eine Nase, von der man ebenso gut heruntergleiten könnte wie von dem Hügel nördlich der Siedlung. Er hat sich immer gewünscht, diese Gegend kennen zu lernen. Jetzt hat er Zeit dazu und ist hergekommen.

    Willie ist der Jüngste, auch wenn die meisten ihn nicht mehr als jungen Mann bezeichnen würden. Er hat pechschwarzes Haar, das jetzt voll grauer Funken ist. Aber seine Augen sind sanft und glühend zugleich.

    Abel ist ungefähr so alt wie Duitwé. Beide dürften sich einem Jahrhundert an Lebenszeit nähern. Sein Gesicht ist davon geprägt, dass er ein Leben lang neugierig war. Er ist der Christ unter ihnen. Der Pfarrer. Der Missionar. Den größten Teil seines Lebens hat er auf den Farmen der Weißen zugebracht. An seiner linken Hand fehlt der kleine Finger.

    NxauNxau ist ein guter Jäger, aber er ist nicht mehr jung. Deutlich sieht man die schwarze Narbe zwischen den Augen. Asche, die in Hautkratzer gerieben worden ist, das soll ihm bei der Jagd Glück bringen. Auch Abel und Kanta haben solche Kratzer zwischen den Augen, aber sie sind nicht so deutlich sichtbar. NxauNxaus Kinder sind schon erfahrene Jäger. Er erzählt seine Geschichten ohne Umschweife und erregt nicht viel Aufsehen.

    Kanta ist der Erzähler unter ihnen. Man sieht ihm an, dass er das, was er erzählt, ganz tief aus sich herausholt, als würde es gerade passieren. Seine Stimme ist weich und tief. Seht ihn euch an.

    Zusammen mit Willie ist er der, der die Welt außerhalb der Kalahari bereist hat. Bis Europa und Amerika sind sie gekommen. Nur im Traum haben sie gewusst, dass die Welt sich so weit ausdehnen kann.

    Mathilda sollte man nicht übergehen. Sie ist Kantas Tochter und nach Hause gekommen, nachdem sie als junges Mädchen einige Jahre bei einer schwarzen Familie in der Hauptstadt gelebt hat. Sie hat ihr Tonbandgerät mitgebracht und wir fangen an. Sie ist kein Kind mehr, das steht fest.

    Schließlich vergessen wir das Tonbandgerät. Mathilda kommt geschmeidig wie der Schatten einer Schlange und wechselt die Bänder, wenn es nötig ist.

    Kinder und Jungen lauschen, kommen und gehen. Erwachsene sitzen etwas im Hintergrund und hören zu. Rufen hin und wieder dazwischen. Die Geschichten sind so zufällig wie ihre Zuhörer. Doch hört man zu, sind sie wichtig, und sie passieren, auch wenn man sie nicht hört.

    Es ist die Zeit des Jahres, in der die Früchte reifen und die Jagd nicht schlecht ist. Dai, Kantas Frau, ist mit ein paar anderen Frauen draußen, um Melonen zu sammeln. Der Regen kann noch immer fallen, und die Nächte werden langsam kühler.

    Eine Zeit, in der das Leben leicht sein müsste.

    Fremde kommen hinzu, lauschen und gehen wieder. Ihre Geschichten sickern in die der anderen.

    Kanta erzählt noch immer.

    Die Geierkrieger

    Der Elenstier

    Damals hieß er Duube. Er war zehn Jahre alt und verstand das Ganze eigentlich nicht. Alles zerfiel, wie Vögel vom Himmel fallen.

    Als er am nächsten Morgen erwachte, lange bevor die Sonne genug Kraft hatte, etwas Lebendem zu schaden, machte er sich gleich auf den Weg. Er hatte keinen Grund zu bleiben. Es gab nichts zu essen. Ja, es gab keinen Tee, keinen Maisbrei oder etwas anderes.

    Er betrachtete es als Notwendigkeit, Richtung Westen zu gehen. So war er sicher, niemanden zu treffen, der ihn kannte. Es war seine größte Angst, so lange zu leben, dass jemand, nachdem er seinen Namen gehört hatte, zu ihm sagen würde: »Duube? Du bist doch bestimmt der Sohn von Nqaba und Kito. Nein, das kannst du nicht sein! Wessen Kind magst du sein?«

    Vielleicht würde er erwachsen und sein Gegenüber alt sein, wenn das geschähe. Vielleicht hätte der andere seine Eltern gut gekannt und würde sagen: »Es ist unglaublich, wie du Bo ähnelst. Bist du mit ihm verwandt? Wie hast du gesagt, dass du heißt?«

    »Ich heiße Ciko.«

    »Ciko. Ich kenne niemanden, der so heißt. Wie heißen dein Vater und deine Mutter?«

    Bei diesen Gesprächen glaubte er immer, dass das Wiedererkennen erst passieren würde, wenn er erwachsen geworden wäre und seine Pflegeeltern, die zu treffen er sich sicher war, tot wären, sodass er ihre Namen nennen könnte, ohne zu lügen.

    »Ja. Ich kenne sie nicht, und du hast gesagt, dass deine Mutter an einer Krankheit gestorben ist, von der man Narben bekommt? Die erst rote Wunden sind.«

    So ging er umher und redete mit fiktiven Menschen.

    Die Mistkäfer. Lange starrte er auf die Mistkäfer, die sich in einem Scheißehaufen versammelten wie eine Gemeinde mit schwarzen Regenschirmen bei Regenwetter. Es war ein Scheißehaufen von einem Elenstier. Er wusste genau, dass so die Tiere auf die Welt gekommen waren.

    Ja, so war das, dachte er, während er auf die Mistkäferversammlung starrte. Er begann sich selbst Geschichten zu erzählen, aber nicht zu laut. Vielleicht erzählte er sie auch den Mistkäfern. Sie mussten sie ja allmählich auswendig können.

    Eines Tages hatte Gxwma einen Teig gemacht. Einen kleinen Klumpen des Teigs verwahrte er in einem Topf mit Deckel. Einmal täglich hob er den Deckel, um nach dem Teig zu sehen. Ja, ich weiß wirklich nicht, woraus der Teig gemacht war, aber jeden Tag war er ein Stück weiter aufgegangen.

    Donnerwetter, wenn nicht allmählich aus dem Teig ein kleines Tier wurde.

    Damals gab es nichts als Gras und Honig. Mit jedem vergangenen Tag wurde das Wesen im Teig größer, und nach und nach konnte man sehen, was es werden würde. Zuerst war es ein kleiner Ball, dann wuchs es und wurde zu einem Tier mit Haut. Zuerst glatt wie die Oberfläche des Teigs, dann behaart wie eine Antilope.

    Wenn man jetzt den Deckel hob und in den Topf guckte, sah man deutlich, dass es ein Elenstier war. Unbegreiflich, denn damals gab es nur Dunkelheit und kein Licht. Ja, Gxwma hatte kein Feuer. Den Strauß gab es noch nicht. Es gab überhaupt kein Tier mit Ausnahme des kleinen Kerls da unten im Topf. Und der wusste wohl kaum, was er war. Denn er war durch und durch aus Teig geboren und in einem Topf erschaffen. Gxwma sah jeden Tag nach ihm. Als er groß genug war, setzte er ihn an einem geheimen Ort aus.

    Das war Gxwma. Und dann seine Frau. Somit waren sie jetzt zu zweit.

    Überall herrschte Dunkelheit, und es gab weder Sonne noch Mond, weder Sterne noch Feuer. Es war dunkel wie im Magen eines Tiers.

    In diesem Dunkel gab es einen besonderen Ort, unbekannt und geheim. Nur Gxwma wusste, wo der Ort war, denn er versorgte den Elenstier mit Futter. Noch heute frisst der Elenstier nur Gras, das frisch sprießt, wo das alte abgebrannt worden ist, denn dieses Gras ist süß.

    Jedes Mal, wenn Gxwma mit seiner Frau draußen war, um Honig zu suchen, gab er dem Elenstier heimlich seinen Teil ab, damit er wuchs und dick und groß wurde. Die Kinder mussten zu Hause bleiben, obwohl zwei so groß waren, dass sie wie erwachsene Jäger hätten jagen können, wäre es nicht so dunkel gewesen. Und hätte es Tiere gegeben, die man hätte jagen können, aber die gab es nicht.

    Dafür gab es einen Jungen, einen richtigen Jungen. Den kleinen Bruder der Großen. An ihn sollt ihr euch erinnern.

    Gxwma war mehr und mehr davon in Anspruch genommen, den Elenstier mit Honig zu füttern. Und er wurde größer und größer. Ja, er wurde fett und schwer von dem ganzen Honig. Nur Gwxma konnte ihn aus seinem Versteck hervorrufen.

    »Kga-na-na-kga«, rief er.

    Und dann kam der Elenstier, fett und groß. Er war so schwer geworden, dass er nur langsam zu ihm kommen und den Honig fressen konnte. Gxwma trug ihn in großen Grasbüscheln.

    Wenn er mit seiner Frau Honig in Grasbüscheln gesammelt hatte, weil sie nicht genug Töpfe und Gefäße für den ganzen Honig hatten, sagte er zu seiner Frau: »Ich verschwinde noch einmal. Geh du nur schon heim und bereite den Jungen ihr Essen, ich komme auch bald.«

    Ja, nicht einmal seiner Frau hatte er von dem geheimen Tier erzählt. Und sie hatte wohl jeden Tag, wenn er zu dem Ort kam, nur gedacht: Der eine Busch ist doch so gut wie der andere. Oder: Natürlich kann er noch pinkeln gehen, bevor wir nach Hause gehen.

    Jedenfalls liebte Gxwma den Elenstier über alles in der Welt. Nichts anderes schien etwas zu bedeuten, doch niemand kannte Gxwmas Gedanken.

    Allmählich gab es zu Hause immer weniger zu essen, da Gxwma fast alles dem Elenstier gab. Der wurde fetter und fetter und fraß mehr und mehr. Die ältesten Jungen beklagten sich, wenn ihre Mutter mit dem, was sie tragen konnte, nach Hause kam. Denn das, was sie nach Hause brachte, reichte ja nicht, wenn alle drei davon satt werden sollten. Die Söhne wurden immer hungriger, je größer sie wurden. Auch Gxwma und seine Frau bedienten sich, bilde ich mir ein, auch wenn die Jungen das Beste bekamen. Die Kinder konnten ja nicht aufhören zu wachsen.

    Was machte die Mutter der Jungen? Sie hätte Gxwma doch auffordern sollen, seinen Honig stehen zu lassen, wenn er austreten ging. Vielleicht aß er ihn selbst. Und außerdem hatte sie ihm ja versprochen, den Jungen nichts zu sagen. Trotzdem dürfte sie sich allmählich gewundert haben. Wer weiß das schon? Vielleicht wusste sie es, sagte aber nichts. Es kann doch sein, dass sie es ihm anfangs gönnte. Und erst als die Jungen über den Hunger klagten, der kniff und ihre Mägen plagte, dass sie ohne Unterlass knurrten, dachte sie darüber nach.

    Es war ja noch immer stockfinster, selbst mitten am Tag. Noch immer gab es weder Sonne noch Mond, weder Sterne noch Feuer. Es ist doch klar, dass die Jungen sich zufrieden geben mussten. Aber sie waren nicht dumm, die beiden Jungen. Obgleich der Kleine es noch nicht verstand. Er hat noch mehr Essen als die anderen bekommen, da er der Jüngste war. Die Großen dachten, wir müssen einen Plan schmieden. Und das taten sie.

    Der eine sagte: »Kleiner Bruder, wir müssen miteinander reden. Wir glauben, dass Vater das meiste isst, bevor Mutter und er nach Hause kommen. Allerdings ist Vater nicht dicker geworden. Aber wir glauben trotzdem, dass er es isst. Mutter wird nichts sagen.«

    Und der andere: »Ja, sie sagt, dass sie nicht mehr gefunden haben, aber das glauben wir nicht. Wir wollen, dass du morgen mitgehst. Wir müssen wissen, was passiert. Ob es wirklich weniger zu essen gibt als früher. Du musst Vater nur genug zusetzen, dann kann er nicht nein sagen.«

    Der kleine Bruder blieb dabei, dass er das nicht wollte. Wozu sollte er auch?

    Die beiden Jungen antworteten im Chor: »Aber du musst mitgehen, dann hören wir auch auf, dich zu necken!«

    Der andere fügte noch hinzu: »Dann darfst du auch mit uns spielen.«

    Vielleicht haben sie ihm das gesagt, wer weiß, jedenfalls stimmte er zu.

    Am nächsten Morgen, es war noch immer dunkel, rief Gxwma seiner Frau zu, dass sie auf Honigjagd gehen konnten.

    Sofort begann der jüngste Sohn herzzerreißend zu weinen.

    »Was ist denn mit dir los?«

    »Ich will mit«, heulte der Junge.

    Und die Mutter sagte: »Das geht nicht, es ist doch viel zu dunkel für so einen kleinen Jungen.«

    Daraufhin weinte er noch mehr.

    Die großen Jungen antworteten: »Nehmt ihn mit, sonst heult er den ganzen Tag. Dieser Lärm ist nicht auszuhalten.«

    Die Mutter sagte: »Hör auf zu weinen. Damit erreichst du nichts.«

    Als es eine ganze Zeit so weitergegangen war, war Gxwma der Sache müde und fasste einen Beschluss: »Lass ihn mitkommen. Er kann mit mir gehen. Ich kann ihn ja tragen, wenn er müde wird.«

    »Ja«, jubelten die beiden großen Jungen. »Endlich haben wir Ruhe.«

    »Wenn es denn so sein soll, lass uns gehen«, meinte die Mutter schließlich. »Aber du nimmst ihn.«

    »Ja, ja«, sagte Gxwma und dabei blieb es.

    So gingen sie los: Der kleine Bruder hicksend und schniefend. An Gxwmas Hand und mit der Mutter im Schlepptau. Der Tag verging mit Gras und Honig sammeln. Es war ein köstlicher Honig, dick und süß und herrlich duftend. Und sie sammelten sehr viel davon. Als es endlich Zeit wurde, nach Hause zu gehen, trug Gxwma das größte Fuder.

    Es war ja noch immer dunkel. Es gab weder Sonne noch Mond, weder Sterne noch Feuer, doch trotzdem wusste Gxwma genau, wie spät es war. Also machten sie sich auf den Heimweg. Nicht weit von zu Hause wurde Gxwma langsamer und sagte: »Ich gehe noch austreten, geht ihr nur schon heim.«

    Doch der schlaue kleine Bruder antwortete: »Ich muss auch pinkeln.« Also begleitete er den Vater. Währenddessen ging die Mutter nach Hause, um das Abendessen zu bereiten.

    Jetzt konnte Gxwma sein Geheimnis nicht länger für sich behalten und sagte: »Jetzt bist du mein Mitwisser, aber untersteh dich, irgendjemandem etwas zu sagen, verstanden?«

    Der Junge nickte und versprach es.

    »Kga-na-na-kga«, rief Gxwma.

    Zuerst war es ganz still, doch dann polterte und stampfte es im Gras. Der Elenstier kam. Er war so schwer. So schwer. So schwer. So fett war er von dem ganzen Honig geworden.

    Langsam, langsam, Schritt für Schritt kam er hervor. Er war so groß wie ein Haus. Er war das größte Tier. Er war das einzige Tier auf der Welt.

    Lange bevor das Tier in Sichtweite kam, konnte man die Geräusche seiner Schritte hören, so dröhnten sie. Ja, er trat so hart auf, dass die Körper des Großen und des Kleinen bei jedem seiner Schritte erbebten. Der kleine Bruder keuchte vor Verblüffung. Noch nie hatte er etwas Ähnliches erlebt. Er hatte zwar noch nicht so lange gelebt, aber dass es so etwas auf der Welt gab, hatte er nicht erwartet. Ein so riesiges Tier.

    Man hätte nicht glauben sollen, dass es aus einem kleinen Teigklumpen in einem Topf entstanden war. Plötzlich merkte der kleine Junge, dass der Elenstier von dem, was sie heute gesammelt hatten, zu fressen begann.

    »Er frisst ja alles auf«, rief der Junge.

    »Ssst, nicht so laut. Das ist mein Tier und es lebt von dem, was wir sammeln. Das Tier ist meine Freude und es hält die Welt in Gang. Du darfst kein Wort davon erzählen. Versprich es mir. Dann darfst du auch morgen wieder mitgehen.«

    Und Gxwmas kleiner Sohn versprach es, die Hand fest auf das Herz gepresst.

    Wenig später kamen sie nach Hause und aßen das Abendessen, das die Mutter aus dem, was sie tragen konnte, bereitet hatte. Am nächsten Morgen standen Gxwma und seine Frau bereit. Das Kind lag wie seine beiden großen Brüder noch in seinem Bett und schlief. Sie weckten ihn, und der Junge weigerte sich aufzustehen.

    »Ich bin so müde und der Weg ist viel zu weit.«

    Gxwma bot ihm an: »Aber du kannst meinen Bogen und meine Pfeile tragen.«

    Man mag vielleicht denken, dass er damit schießen wollte.

    Der Junge wiederholte: »Ich bin so müde und ich schaffe es nicht, so lange zu gehen.«

    Schnell sagte die Mutter: »Lassen wir das Kind liegen. Komm.«

    Sobald sie verschwunden waren, standen die älteren Brüder auf und plagten ihren kleinen Bruder.

    »Erzähl. Was hast du herausgefunden?«

    Sie bedrängten ihn weiter, bis er nachgab und ihnen von dem Elenstier erzählte.

    »Ihr habt noch nie ein so großes Tier oder Wesen gesehen. Es ist so fett und schwarz wie die Dunkelheit. Vater gibt ihm den größten Teil des Honigs, und es frisst ihn mehr als gerne. Zuerst sagt er Kga-na-na-kga, damit es herauskommt. Aber ich weiß nicht mehr, was er sagt, damit es wieder geht.«

    Die beiden großen Jungen wollten unbedingt sofort losgehen. Zuerst wollte der kleine Bruder nicht mit.

    »Er schlägt mich tot, wenn ich euch den Ort zeige.«

    »Natürlich tut er das nicht«, sagten die beiden Brüder. »Und außerdem wird Mutter es ihm verbieten.«

    Also machten sie sich auf den Weg. Sie mussten ja nicht weit gehen. Trotzdem nahmen sie ihre Speere mit.

    »Hier ist es«, flüsterte der kleine Bruder, obwohl Gxwma nicht in der Nähe war.

    »Kga-na-na-kga«, rief der eine der großen Jungen.

    Kurz darauf kam der Elenstier hervor. Mächtig und riesig und fett. Fett, das man es nicht glauben konnte. Schwer, dass der Boden bebte. Ja, größer als groß. Dunkler als das Dunkel selbst. Und das obwohl es weder Sonne noch Mond noch Sterne gab. Einen kurzen Augenblick keuchten die Jungen vor Verblüffung, aber nur einen Augenblick.

    Unverzüglich stießen beide ihre Speere in das Tier.

    Atemlos stürzte der Stier davon, aber es wurde nur ein kurzer keuchender Lauf.

    Er fiel um und starb, fiel um und starb, und starb. So groß war er.

    Sofort spürte Gxwma durch die Dunkelheit, dass die Welt sich veränderte.

    Er konnte keinen Honig mehr finden. Wie sehr er auch suchte.

    Im Gras.

    Auf der Erde.

    In den Tälern.

    Auf den Höhen.

    Er konnte keinen Honig finden. Und seine Frau auch nicht. Trotzdem gaben sie nicht auf. Sie suchten weiter.

    Was Gxwma dachte, wusste niemand.

    Und im Gras lag tot der fette Elenstier mit den Speeren der Jungen in seinem Körper. Schnell begannen sie das große Tier zu häuten und aufzuschlitzen. Das Fett floss. Der Stier war so groß, dass sie mit ihren Messern schnitten und schnitten.

    Der kleine Bruder sagte: »Ja, jetzt werde ich totgeschlagen.«

    Ermüdet von dem Häuten und Aufschlitzen, stöhnten die beiden Großen: »Quatsch. Natürlich wirst du das nicht. Wenn Vater das ganze fette Fleisch sieht, wird er wild vor Begeisterung sein. Er wird sich zu uns setzen und essen. Und auch wenn wir gegessen haben, wird noch immer massenhaft Fleisch da sein.«

    So setzten sie sich hin und aßen und aßen, dass ihre Bäuche dick wurden.

    Danach mussten sie sich hinlegen und schlafen, so müde waren sie geworden. Und der kleine Bruder lief sofort nach Hause.

    Gxwma und seine Frau hatten nur ein paar Waben gefunden. Mit ihnen gingen sie heimwärts. Jetzt erhärtete sich Gxwmas Verdacht, dass etwas Entscheidendes passiert war. Noch immer war das Dunkel überall, doch Gwxma wusste, ob es Morgen oder Abend war. Als er zu der Stelle kam, ging er wieder austreten, wie er es gewöhnlich tat, und rief nach dem Elenstier: »Kga-na-na-kga«, rief er.

    Nichts geschah.

    Er rief noch einmal. Der Elenstier kam nicht. Jetzt wusste er, warum es keinen Honig mehr gab. Er wurde sehr wütend und traurig. Er ging mit seinen Waben nach Hause. Und traf den kleinsten Jungen.

    Sofort sagte Gxwma: »Du hast das Geheimnis verraten. Es gibt keinen Honig mehr. Wo sind die Jungen?«

    Der kleine Bruder antwortete: »Sie waren so wütend, dass es nicht mehr zu essen gab. Deshalb haben sie mich geschlagen, bis ich ihnen erzählt habe, was du mir gestern gezeigt hast. Sie haben ihre Speere mitgenommen. Sie haben den Elenstier getötet. Und jetzt werden sie mich töten, weil ich es dir erzählt habe.«

    »Nein«, sagte Gxwma. »Nicht während ich hier bin.«

    Die Mutter bereitete die Waben zu, und sie aßen sie und legten sich schlafen. Die beiden Jungen waren noch immer draußen an dem Ort, an dem sie den Stier getötet hatten.

    Am nächsten Morgen stand Gxwma ohne ein Wort zu sagen auf und ging hinaus. Es war noch immer dunkel. Noch immer gab es weder Sonne noch Mond, weder Sterne noch Feuer.

    Er ging direkt zu dem toten Tier und setzte sich in den Matsch aus Fleisch und Blut, Eingeweiden und Darminhalt. Die Jungen schliefen noch immer. Er griff in die Eingeweide. Was er dachte, weiß niemand. Aber er nahm eine Hand voll Kot und warf ihn weit von sich, so weit er konnte, und während er das tat, sagte er: »Jetzt kann der Springbock kommen.«

    Sofort war da ein Gewimmel von Springböcken.

    Natürlich konnte man sie nur hören und nicht sehen, denn es war dunkel, und es gab weder Sonne noch Mond. Ja, woher er ihren Namen wusste und ob es die richtigen waren, die hervorkamen, das kann niemand wissen. Aber jetzt heißen sie jedenfalls Springböcke, und sie sehen genauso aus.

    So saß er mitten in den Überresten des Tiers und warf den Darminhalt in alle Richtungen und rief: »Jetzt kann das Gnu kommen.«

    Sofort sprangen und liefen Gnus in wirrem Getümmel umher. So fuhr er fort.

    Alle Tiere entstanden, indem er sie bei ihrem Namen rief, während er den Kot in alle Richtungen warf. Sie kannten ihre Namen, deshalb kamen sie herbei, als hätten sie nur darauf gewartet, von ihm gerufen zu werden.

    Weiter warf er mit Darminhalt und Matsch und Kot um sich. Giraffen und Elefanten und Strauße entstanden.

    »Jetzt kann der Strauß kommen.«

    So fuhr er fort, bis die Tiere da waren, alle Tiere.

    Und sie machten einen Lärm, dass man sich die Ohren zuhalten musste. Aber die Jungen schliefen so tief, dass sie nichts hörten. Man konnte es kaum glauben. Bei all dem Lärm.

    »KauKai! Kaukhoi Ai Ai! Khoi! Kai«, riefen die Tiere im Chor.

    »So hört doch«, sagte Gxwma zu seinen Söhnen. »Hört ihr wirklich nicht den Lärm, den die Tiere machen? Kommt, wacht auf!«

    Erst da wurden sie endlich wach und hörten das Iahen und Blöken und Muhen der Tiere. Sie liefen sofort nach Hause und schnappten sich ihre Jagdausrüstung. Sie wussten sofort, was sie tun sollten. Natürlich liefen sie erst gegen den Wind. Dann krochen sie langsam in Schussnähe heran. Aber es war noch immer dunkel, und es gab weder Sonne noch Mond, weder Sterne noch Feuer.

    In der Zwischenzeit war Gxwma nach Hause gegangen. Nachdem er den Jüngsten geweckt hatte, fragte er: »Sag mir, wo ist das Federdings, mit dem die Jungen immer spielen?«

    Der Jüngste holte das Teil. Ein Stock und eine Feder, die mit einer Schnur zusammengebunden waren. Woher es kam, wusste niemand. Es war einfach da. Gxwma warf es in die Luft, und es fiel sofort wieder herunter. Das wiederholte er viele Male, ohne dass irgendetwas passierte.

    »Du musst die Feder an beiden Enden nass machen. Das tun sie immer, damit es lange in der Luft bleibt«, sagte der jüngste Sohn.

    Das half. Diesmal flog es hoch in die Luft und blieb lange Zeit oben, bevor es dicht bei Gxwma wieder herunterfiel, denn es war ein gutes Spielzeug. Und er machte es noch einmal. Warf es hoch, hoch in die Luft. Diesmal stieg es immer höher hinauf, als wollte es nicht mehr herunterkommen. Plötzlich traf es die Mitte der Dunkelheit. Und die Sonne kam hervor und begann über allem zu scheinen. Je höher es stieg, desto stärker schien über alles die Sonne.

    Alles war mit Gras bedeckt, aber es gab keine Bäume. Nicht einen Ort, an dem man draußen in der Ebene Schatten finden konnte. Und allmählich wurde es sehr warm.

    Als nun die beiden jagenden Jungen alle Tiere sehen konnten, schlichen sie sich vorsichtig und listig an sie heran. Doch nach und nach begann die Erde an Knien und Ellenbogen zu brennen, dass sie sich aufrichten und auf den Füßen gehen mussten. Ungeachtet ob sie auf Zehen oder auf Fersen gingen, die Erde war sengend heiß, wenn man auf sie trat. Es brannte und tat furchtbar weh, ob sie nun auf den Fußaußen- oder Fußinnenseiten hüpften. Es half weder, mit krummen Beinen zu hinken, noch mit geraden einherzustolpern. Sie mussten sich auf den Bauch legen und kriechen. Trotzdem brannte die Erde noch immer so, dass es nicht auszuhalten war.

    Plötzlich rief eine Stimme: »Redet nicht so viel darüber. Bittet die Bäume hervorzukommen.«

    Und wirklich, da war plötzlich ein Baum.

    Wenig später kam ein zweiter hinzu. Jetzt konnten sie darunter kriechen und hatten Schatten. So ging es weiter mit den Bäumen. Es wurden immer mehr. Die Jungen blieben im Schatten der Bäume, bis die Sonne zum Abend hin kleiner wurde.

    Ja, das ist die Geschichte, wie die Sonne hervorkam.

    Duube lächelte vor sich hin, denn diese Geschichte hatte er schon oft gehört. Sie hatten sich dabei vor Lachen gewälzt. Sie war so unmöglich und so unglaublich, wenn sein Vater sie erzählte. Und obwohl es ihn nicht mehr gab, hörte Duube doch seine lebendige Stimme, wenn er die Geschichte für sich selbst wiedererlebte.

    Er saß in der frühen Morgensonne und zeichnete Vogelspuren in den Sand. Als die Holzmaus nur wenige Meter von ihm entfernt mit Zweigen und Wollflocken im Maul geschäftig von Ast zu Ast eilte, wurde ihm klar, dass er von jetzt an immer allein sein würde, ungeachtet wie viele Freunde oder gute Menschen er auch traf. Diesmal begann er nicht zu weinen. Wie er so in dem klebrigen Sand saß, der sich gelblich gegen die Haut des Schienbeins abhob, ähnelte er am ehesten einem Jungen, der von zu Hause abgehauen war. Gleich würde er aufstehen und weitergehen, zurück in die Siedlung. Wenig später würde er johlend die Hütten erreichen. Hallo.

    Wenn es nur so wäre. Nie wieder würde er johlend in die Siedlung kommen.

    Von jetzt an musste er ein Mensch sein, der alles vergessen hatte und alles neu lernen musste. Langsam, wie sich der Elenstier im Dunkeln vorwärts bewegte, lernte er einzusehen, dass er niemals mehr diese Verbundenheit erfahren würde, diese Ganzheit, die zwischen ihm und seinen Eltern, zwischen ihm und seinen Großeltern, zwischen ihm und seiner kleinen Schwester bestanden hatte. Er hatte sie tot zurückgelassen und musste ein Leben ohne sie beginnen. Er sah nach der Holzmaus, deren Backen sich kräftig bewegten. Die blanken Augen glänzten, als hätte sie jemand geputzt. Doch obwohl sie ihn sah, sah sie ihn nicht. Als wäre er ein Stück abgeschälte Rinde oder ein Haufen verkrüppelter, kranker Grashalme, die sich bewegen konnten. Sie war teilnahmslos, außer Stande, die Existenz eines anderen lebenden Wesens anzuerkennen, wenn dieses Wesen keine Holzmaus war. Dieses Gefühl hatte er.

    Aber dieser Morgen war anders als alle anderen. Es war der erste Tag seines Lebens ohne Mutter und Vater. Sie gab es nicht mehr und seine kleine Schwester auch nicht. Sie waren getötet worden wie Tiere in einer Falle.

    Etwas fiel ihm auf. Es war nicht mehr neblig wie an jenem Morgen. Aber der Nebel kam mit dem dunstigen Tod in seinem Schoß auf die Erde, ungeachtet wie er die Landschaft sichtbar werden ließ, als sei sie gerade erschaffen worden.

    Hinterlistig und unbemerkt lauerte der Tod im Nebel, bevor er lautlos und ohne zu wanken zuschlug.

    Jetzt muss Kanta sich kurz selbst in die Geschichte einbringen

    Den ersten Menschen, die ich sah, nachdem ich ganz geworden war, wagte ich mich nicht zu nähern. Ich musste so weit von der Siedlung wegkommen, dass niemand, den ich eventuell um Hilfe bitten würde, auf die Idee kommen konnte, ich sei einer, der nicht überlebt haben dürfte. So weit musste ich wegkommen, dass niemand, den ich traf, von demselben Stamm sein konnte.

    Ich konnte nicht wissen, ob sie Geierkrieger waren. Überhaupt weiß ein Kind nichts von dem, was es erst als Erwachsener wissen soll. Es gab niemanden, der mir davon erzählen konnte. Die, die mir davon hätten erzählen können, waren alle tot.

    Doch wusste ich immerhin so viel, dass jemand gegen ein Gesetz verstoßen hatte und dass sie sterben mussten, um das Gleichgewicht wiederherzustellen. Und alle in ihrer Nähe müssen sterben, ungeachtet was sie getan haben oder nicht. Ob das so ist, damit niemand mehr übrig ist, der von den Morden erzählen kann. Oder ob die Menschen auch Verbrecher sind, ohne es zu wissen, Mitschuldige, das weiß ich nicht. Und ich war noch nicht alt genug, um mir darüber im Klaren zu sein, dass wir alle im Lager gegen ein Gesetz verstoßen hatten. Dass wir ein schlechter Stamm waren, der keine Daseinsberechtigung mehr hatte. Das weiß keiner.

    Wie das passiert? Wie man versteht, dass der, der gegen ein Gesetz verstößt, das Kommen der Geierkrieger heraufbeschwört, das weiß ich nicht. Aber ich bin einer der wenigen, der überlebt und die Geierkrieger bei der Arbeit gesehen hat. Danach verschwinden sie, werden zu Dampf, zu Gras, zu Bäumen, als hätten sie nie existiert. Vielleicht sind es Geier, die einen kurzen Augenblick Menschengestalt annehmen und im nächsten Augenblick weg sind. Vielleicht sind sie im Nebel, entstehen wie Wassertropfen und verschwinden mit dem Nebel. Der einzige sichtbare Beweis für ihre Existenz sind die Menschen, die sie ermordet haben.

    Lange Zeit ging ich umher und sah in ihre Gesichter. In die Gesichter der Alten, ob sie Geierfedern und Knochenpfeifen getragen haben könnten, aber ich konnte nichts sehen. Sie konnten sich verwandeln, die lächelnden Menschen und lieben Gesichter, die mich und euch ansahen und mochten, sie waren plötzlich Mörder, die so selten wie der Nebel waren.

    Vielleicht hatten es die Schwarzen getan oder welche von uns, die sich so mit ihnen gemischt hatten, dass sie solche Gepflogenheiten zu uns brachten.

    Vielleicht hatte es diese Gepflogenheit immer gegeben, und niemand hatte lange genug gelebt, um davon zu erzählen. Und wenn man überlebte wie ich, tat man, als sei nichts gewesen. Nie auch nur ein einziges Wort. Aber irgendwo lauerte eine Tat, die jeder von uns begehen konnte und die diese mordenden Krieger herbeirief. Allein das Zusammensein mit so einem Gesetzesbrecher, sein Kind oder mit ihm verwandt zu sein, konnte eines Tages, eines frühen Morgens, die Geierkrieger mit einer tödlichen Unerbittlichkeit in unsere Welt bringen.

    Vom Feuer machen

    Gnus, das wusste er, konnten so verwirrt werden, dass sie dumm davon wurden. Aber er hatte keine Waffe. Er hatte nicht genug Kraft, einen Holzspeer so zu werfen, dass er in die Haut eines blauen Gnus eindrang. Obwohl er ohne weiteres einen Ast zuschneiden konnte. Mit dem richtigen Gewicht, schwer, läge er ordentlich in der Hand, dass er sausend durch die Luft flöge, das hatte er so viele Male getan …

    Zwei Dinge schlugen diese Gedanken aus seinem Kopf wie Steine, die in der Luft zusammenstießen:

    Er hatte kein Messer und er hatte nichts, womit er spielen konnte.

    Er wusste genau, wie die Erwachsenen das Gift bereitet hatten, um die Pfeile damit einzuschmieren, aber es war nicht leicht, die richtigen Larven zu finden. Er hatte auch Angst, sich zu schneiden, während er mit dem Gift arbeitete. Die Pfeile hätte er machen können, hätte er nur Sehnen und Pfeilspitzen gehabt. Alles, bei dessen Herstellung er zugesehen hatte, war zu Pfeilen geworden, weil die Leute auf die Jagd gingen.

    Wäre er schlau und vorausschauend gewesen, hätte er sich zurück in die Siedlung geschlichen und eine Jagdausrüstung mit Speeren, Bogen und Pfeilen geholt. Alles wäre in dieser Ausrüstung gewesen, ein Grabstock, Feuer. Dass er aber auch nicht daran gedacht hatte. Doch gleich darauf wurde ihm klar, dass er es nie über sich gebracht hätte, dorthin zu gehen, wo es so still war. Und es war lange her, dass die Feuer aufgehört hatten zu brennen.

    Nein, für ihn hatte es nur die eine Möglichkeit gegeben: wegzugehen. Auch wenn die Decken noch so verlockend im Wind geweht hatten, und die vollen Wasserbehälter, die in einem Baum hingen, schwer gegeneinander schlugen, wenn der Wind ihnen hin und wieder einen kräftigen Stoß versetzte. Er hätte nie zurückgehen können, um sich zu bedienen. Das konnte er nicht, wenn all die Toten dort lagen. Und wer weiß, vielleicht hätte ihn einer mit seinen Totenhänden festgehalten. Und seine Mutter … er ertrug es einfach nicht, daran zu denken. Er wusste mit großer Sicherheit, dass er jetzt nicht sterben konnte, und er wusste, dass das stimmte. Wie ein Mistkäfer, der sich mit seinem Scheißeklumpen über Knollen und Steine rollte und niemals aufgab, wollte auch er nicht aufgeben. Vielleicht dachte er das nicht so klar und deutlich. Er wollte nur nicht sterben. Deshalb verließ er den Ort unter dem Baum, wo er geschlafen hatte. Die Holzmaus war nicht zu sehen. Die Sonne war aufgegangen, aber noch nicht alt genug, um alles zu versengen.

    Während er umherging und sich einsam fühlte, schreckte er zweimal ein paar Springböcke auf. Sie flüchteten, polternd und taumelnd, lange bevor er nahe genug herangekommen war. Er hörte sie durch das Gebüsch brechen, sah die verwirrt hin und her laufenden Körper im Sonnenlicht zwischen den Bäumen. Sie torkelten schwerfällig davon, wie es sich für diese so gewandten Tiere eigentlich nicht ziemt. Erst draußen in der freien Wildbahn wurden sie zu Springböcken, die wie umherschweifende Lichter über die Grassteppe flogen.

    Gegen Mittag stand die Sonne so heiß und tief über ihm, dass er unter den nächsten Bäumen Schutz suchen musste. Die Strahlen waren so heftig, dass er das Gefühl hatte, unter einem Regenbogen aus Wärme zu stehen. Alles Lebende schien von dem Sonnenschauer weggespült worden zu sein. Er selbst lag unter einem Apfelblattbaum und keuchte, als würde er ertrinken. Die Insekten hatten als einzige Kraft, deshalb hörte man sie. Selbst die Mistkäfer bekamen genug Wärme, um brummend durch die Luft zu fliegen.

    Die Käfer kribbelten und knirschten, wenn man sie aß, besonders die, die zusammen mit Blättern in einem Mörser zerstampft wurden. Sie zu fangen sollte ihm gelingen, und wie er die Blätter von den Pflanzen bekam, wusste er auch. Sie konnten nicht wegfliegen wie die Käfer. Fast bekam er Lust, sofort loszulaufen, aber er besann sich und blieb im Schatten, bis die Hitze erträglicher wurde. Jetzt wusste er, wie er an Essen kommen konnte.

    Am Nachmittag stieß er auf einen Fleck Erde, wo massenhaft Tsamamelonen wuchsen. Es waren so viele, dass er beschloss, in der Nähe zu bleiben und zu schlafen und zu essen und zu schlafen und sich satt zu essen. Die Käfer interessierten ihn nicht mehr. Er hatte ihren Lieblingsbusch nicht wieder gefunden. Er hatte ja auch kein Salz, man brauchte Salz dazu. Er konnte sich erinnern, dass sie Blätter und Käfer zusammen mit Salz im Mörser zerstoßen hatten.

    Nein, jetzt grub er die Zähne in das feste, zarte Fleisch. Das Wasser des saftigen Fruchtfleischs spritzte in seine Mundhöhle. Ah, das löschte seinen Durst. Er hatte nicht gewusst, dass er so durstig war. Es kitzelte förmlich vor Freude in ihm über den Durst, den er jetzt stillen konnte. Seine Zähne, sein Gaumen, die Innenseiten seiner Wangen wurden feucht von dem frohen Naschen des herrlichen nassen Fruchtfleisches. Er aß sich mit größter Aufgeregtheit durch eine Reihe grüner, bunt schillernder Melonen. Ja, er hüpfte geradezu, so froh war er, seinen Durst stillen zu können. Nur langsam schwand die berauschende Freude, diese erfrischenden Früchte zu essen. Jetzt ruhten die Kerne zusammen mit dem Fruchtfleisch in seinem Magen und dehnten seinen Bauch, dass er nur mit Mühe weiterstolpern konnte. So selig und unberechenbar wild war sein Kauen und Schlucken gewesen. Doch mit der Sattheit nahm diese flatternde Freude ab.

    Aus irgendeinem Grund wusste er, dass er sich nicht in der Nähe des Feldes aufhalten sollte. Vielleicht hatte sein Vater oder sein Großvater oder sein Onkel, der ein großer Jäger war, ihm erzählt, dass man sich nicht zu nahe bei einem solchen Feld aufhalten sollte. Er fand einen Akazienbaum, einen Kameldornbaum, unter dem er die Nacht verbringen konnte.

    Die Sonne war noch nicht geschrumpft und zum Abend hin rot geworden. Deshalb begann er, nach Baumstücken zu suchen, mit denen er versuchen wollte, Feuer zu machen, denn er wusste, wie man das macht. Er begann nach zwei Sorten Holz zu suchen. Eine hart, eine weich. Nachdem er lange Zeit gesucht hatte, fand er endlich zwei Holzstücke. Eine Wurzel und einen Ast. Mit den Zähnen entfernte er die Rinde. Mit Hilfe eines scharfen Steins schnitt er eine kleine Kerbe in das Holzstück, dass die Funken in das feine Knäuel fallen konnten, das er aus Heu und vertrockneten Blättern geformt hatte.

    Der erste Versuch endete kläglich. Er saß verkehrt, bekam einen Krampf in einem Bein. Seine Nase juckte. Fast schaffte er es nicht. Er wand und drehte sich, um richtig zu sitzen. Einmal gelang es ihm, doch da hatte er vergessen, genügend Reisig zu holen, das Feuer fangen konnte, sodass er wieder aufstehen und welches holen musste. Endlich war alles bereit.

    Jetzt musste es gelingen.

    Er schwitzte, Schweiß rann ihm von der Stirn. Alles machte ihn nervös. Es knackte im Holz, es begann zu rauchen. Der Rauch stieg ihm süß in die Nase, der feine schwache Geruch der Funken, wie aus Stein. Die Glut in den Holzspänen, die das Grasknäuel Feuer fangen ließ. Kleine tanzende Flammen, die verschwanden, um mit kleinen Puffen wiederzukommen, bis endlich das Gras brannte. Die in das Reisig übersprangen. Der Brandgeruch schwärte in der Nase. Jetzt griff er nach den kleinen Ästen. Sie glühten, loderten, Flammen schlugen aus. Er hatte Feuer gemacht.

    Er konnte Feuer machen wie Gxwma. Wie der Strauß wusste er, dass er Feuer machen konnte. Er konnte die Nacht erwärmen, obwohl er keine Decke hatte, um sich zuzudecken.

    An jenem Abend, an dem er ein Feuer entfacht hatte, das nicht zu hoch in den Himmel leuchtete, saß er so nahe an den Flammen, wie er konnte. Trotzdem zitterte er, als würde er frieren.

    Was, wenn sie entdeckt hatten, dass er nicht da war?

    Er war der Tote geworden, der fehlte.

    Wenn sie, wer immer sie waren, zurück in die Siedlung gekommen waren, um zu sehen, ob alle da waren, würden sie ihn nicht finden.

    Vielleicht waren sie so beharrlich, dass sie nach ihm suchten, langsam, als folgten sie einer Antilope, die von ihren Giftpfeilen getroffen war und von der sie wussten, dass sie immer langsamer werden würde. Stehen bleiben würde. Wenn das Gift ihren Sprung verlangsamte, ihren Lauf steifer werden ließ, sodass sie sich zeigen musste. Sich dem Tod hingeben musste, so unbekannt er auch war für Menschen und Tiere.

    Man lernt ihn nur kennen, wenn er den eigenen Stamm trifft, nie vorher. Ihm wurde klar, dass er zwischen der Wärme und dem Tod wählen musste. Wenn sie ihm auf der Spur waren.

    Gxwma fand das Nest mit dem Straußenei. Er zerbrach es, und aus seinen Schalen entstanden die ersten Menschen. Und sie liefen wie der Strauß, flüchteten vor Gxwma. So würde er vor den Geierkriegern flüchten, wenn sie ihn verfolgten.

    Trotzdem versuchte er, etwas zu sagen, in der kleinen Höhle aus Licht, die das Feuer schuf. Er schien diese Worte sagen zu müssen. Er erzählte sich selbst von Gxwma und dem Strauß. Zuerst klangen seine Worte merkwürdig, als wäre nicht er es, der sprach. Sie klangen so seltsam, als seien noch andere anwesend. Das war kurz bevor er sich nach ihnen umsah, aber es waren seine eigenen Worte. Sie hatten einen linkischen, scharrenden Klang, und er sprach leise, nachdem er die ersten Worte gehört hatte. Sie liefen einfach in die Dunkelheit wie unerfahrene Tiere. Anschließend holte er tief Luft und ließ eine neue Herde auf die Welt kommen. Sie hüpften im Dunkeln wie sonderbare Frösche nach einem langen Regen. Aber es waren seine Worte. Sie kamen aus seinem Mund, zuerst langsam und ungeschickt, doch dann konzentrierte er sich auf die Erzählung, und die Worte wurden zu langen Tieren, die sich wie Schlangen wanden.

    Er schlief ein, während er an sie dachte, und träumte, dass seine Stimme ein Wesen war, das sich wie eine Schlange wand, sich zusammenkrümmte, um plötzlich zu einem Vogel mit blauen Schwungfedern zu werden, der ihn wichtigtuerisch und wissend anstarrte, und er verstand kein Wort, obwohl er deutlich hörte, wie die Worte aus seinem Mund kamen. Langsam beugte er sich über ihn und schrie, dass seine Ohren wehtaten, seine Zehen sich vor Schmerz krümmten, und er lachte von Herzen, als er auf dem Weg in ein schwarzes Loch hinunter war. Er wusste nur zu gut, dass er in eine Unendlichkeit fallen würde, wenn er hineinfiel. Er würde ein Rad aus einem Körper mit Beinen und Armen sein, das unaufhaltsam und unaufhörlich fiel.

    Irgendwann hörte sein Bewusstsein auf, und er war nicht länger in dem Traum. Ob er an einem anderen Ort in einem anderen Traum war oder ob er wach geworden und wieder eingeschlafen war, wusste er nicht. Aber an die Stimme, seine Stimme, die zu einem blauen Vogel wurde, der ihn auslachte, während er ihn in das Loch des unendlichen Falls hinunterstieß, konnte er sich noch erinnern.

    Als er wieder wach wurde, lag er auf der Erde, und das Feuer war ausgegangen. Obwohl er nichts zu kochen hatte, konnte er es nicht lassen, in der Asche nach Glut zu stöbern. Er konnte nicht erklären, warum er stattdessen nicht lieber aufbrach, um weiter von der Siedlung wegzukommen. Aber als er die Glut fand, war es ihm unmöglich, etwas anderes zu tun, als Feuer anzuzünden.

    Er kam erst zu sich, als es ihm endlich gelungen war, das Feuer zum Lodern zu bringen, und als er merkte, wie die Wärme Löcher in die Morgenkälte stach. Er löschte das Feuer sofort. Er wanderte weiter, während es noch kühl war. Nicht einmal eine Ahnung von Nebel war da oder da gewesen. Er nahm nur wenige Tsamamelonen mit, um nicht zu viel tragen zu müssen.

    Nur wenige Wolken standen am Himmel. Man konnte sehen, dass der Winter nahe bevorstand. Er musste versuchen weiterzukommen, bevor die Wärme der Sonne über die Kälte der Nacht siegte. Er wanderte noch immer Richtung Westen. Er ging nicht schnell, lief nicht. Er ging ruhig, sodass er noch immer auf den Ort treffen würde, an dem die Sonne rot und resigniert der Nacht weichen musste.

    Nach dieser Nacht sprach er nicht mehr mit sich selbst. Er spürte, dass es ein unnötiges Risiko war zu laufen. Er war noch immer der Meinung,

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