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(M)Ortsgericht: Es bleibt grenzlich
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(M)Ortsgericht: Es bleibt grenzlich
eBook338 Seiten4 Stunden

(M)Ortsgericht: Es bleibt grenzlich

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Über dieses E-Book

Auf dem schmalen Grat zwischen Sauerland und Waldeck geschehen erneut seltsame Dinge. Ein Wisent als Mordwaffe? Ein Leichenfund bei Vermessungsarbeiten? Ein Dorfschullehrer unter Verdacht? Was hat eine Richterin mit uralten Riten rund um die Bruchhauser Steine zu tun? Und ein wildgewordener Rentmeister, der unbedingt einen Vierundzwanzigender erlegen will.
Die beiden Kriminalpolizisten Jo Nigge und Wil Wagner arbeiten wieder grenzüberschreitend im Team - unterstützt von der Vermessungsingenieurin Susie Balkenhol. Diesmal unter den Argusaugen der Consulting-Firma MuMPAC, die den Beamten das richtige Geldausgeben beibringen soll. Kann das gutgehen? ...
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum16. Sept. 2021
ISBN9783347347281
(M)Ortsgericht: Es bleibt grenzlich
Autor

Frank L. Mause

Frank L. Mause, geboren 1964 in Bruchhausen an den Steinen (Hochsauerland), durchlief ab 1984 eine knapp zehn Jahre währende Laufbahn vom Rekrut bis zum Offizier. In dieser Zeit studierte er Geodäsie an der Universität der Bundeswehr München. 1996 schloss er das 2. Staatsexamen ab und trat in den hessischen Landesverwaltungsdienst ein. Seit 2010 ist er Leiter des Amtes für Bodenmanagement Korbach. Mause lebt mit seiner Frau in Bad Arolsen, fährt gern Rennrad und liest viel. Er veröffentlichte 2018 seinen ersten, in sich abgeschlossenen Grenzkrimi "Mord(s)genau - Jetzt wird's grenzlich". 2021 folgte der zweite um das Ermittlerduo Jo Nigge und Wil Wagner "(M)Ortsgericht - Es bleibt grenzlich". Und auch im vorliegenden "Alles (m)ordentlich? Ein Grenzkrimi am Diemelsee +/- 3 cm" wird wieder auf dem schmalen Grat zwischen Sauerland und Waldeck ermittelt.

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    Buchvorschau

    (M)Ortsgericht - Frank L. Mause

    Niemand überholt die Presse

    „Wir haben heute Dienstag, den

    05. August 2019.

    Kinners hömma, hier ist Radio Hochsauerland, der spannende Sender aus der Bezirkshauptstadt Arnsberg. Für euch exklusiv anne Arbeit euer gern gehörter Conférencier Konny Kracht mit eurer Lieblingsshow ‚Bis es Kracht‘, und das Wort des Tages heißt Schlaffanzuch. Wenn ihr diesen Begriff vernehmt, sofort melden und die Chance auf ein Wochenende in der Pension Wandertraum in Frettermühle, Gemeinde Finnentrop, sichern.

    Das Wetter zeigt sich wie gewohnt nicht von seiner allerbesten Seite! Nieselregen von morgens früh bis abends spät und nachts mit Beleuchtung.

    Aber jetzt erstmal die ersehnte Werbung. Dann etwas Fetziges aus den Neunzigern: ‚I am a Looser‘ von Beck."

    #

    JO NIGGE nahm im Zeugenstand Platz.

    „Name?", donnerte die neue Richterin befehlsgewohnt.

    Sie wirkte auf Jo wie die Stellvertreterin Gottes auf Erden, knapp vor dem Papst. Hier kam es darauf an, einen absolut sicheren Eindruck zu hinterlassen, wie er nur zu gut wusste. Jetzt bloß keinen Fehler fabrizieren. Er hatte nur einen Versuch. „Johannes Nigge."

    „Geboren?"

    „Am 26. Mai 1995 in Olsberg-Hoperinghausen."

    „Beruf?"

    „Polizeibeamter." Blöde Frage: Warum nur hatte er sich heute Morgen in die längst zu eng gewordene Uniform gezwängt?

    „Soso. Wohnort?"

    „Olsberg-Hoperinghausen."

    „Straße?"

    „Hoperinghausen hat nur eine Straße."

    „Trotzdem, sie wird doch einen Namen haben!"

    „Hoperinghausen ist gleichzeitig der Straßenname."

    Die Richterin schüttelte den Kopf: „Stimmt, das ist dieses völlig verschlafene Nest hinter den Steinen."

    Gedankenlosigkeit oder Provokation? Egal, hier war sie der Chef im Ring: „Jawoll, Frau Vorsitzende."

    Nach der obligatorischen Mahnung der Vorsitzenden Richterin Piechottka am Amtsgericht Brilon ging es gleich ans Eingemachte.

    „Ihnen wird vorgeworfen, am Mittwoch, dem neunten Januar diesen Jahres, vor einer Kuppe auf der L743 zwischen Bruchhausen und Brilon-Wald das Auto mit dem amtlichen Kennzeichen HSK-WL 12345 überholt zu haben, obwohl eine Gefährdung des entgegenkommenden Verkehrs wegen der eingeschränkten Sicht nicht sicher ausgeschlossen werden konnte."

    „Das ist so nicht korrekt, Frau Vorsitzende."

    „So hat es die Zeugin Karla Bathen zu Protokoll gebracht."

    „Dann steht Aussage gegen Aussage."

    „Ach? Warum sollte Frau Bathen falsches Zeugnis ablegen?"

    „Wieso sollte ich lügen?"

    „Weil Sie keine Lust haben, zu Fuß zu laufen? Immerhin droht ein Fahrverbot gegen den Verkehrssünder."

    „War das eine Frage, Frau Vorsitzende?"

    „Werden Sie jetzt nicht frech, Herr Kriminalkommissar Nigge! Sie glauben wohl, Ihre Uniform schützt Sie, macht Sie mit der Justiz gemein? Aber ich zeige Ihnen jetzt, dass an meinem Gericht andere Gepflogenheiten gelten als beim anscheinend aus gutem Grund frühpensionierten Vorgänger!"

    Jo zuckte zusammen. Er und sein vorschnelles Mundwerk!

    #gleich am nächsten Morgen#

    JO NIGGE zog den Kopf ein, als seine Chefin die Westfälische so hart auf den Schreibtisch knallte, dass das Designer-Tässchen mit Espresso von der Untertasse kippte. Sie beachtete gar nicht, dass die tiefbraune Flüssigkeit eine schnell größer werdende Pfütze erzeugte. Gleich erreichte sie irgendwelche Papiere und Akten. Hoffentlich nichts Wichtiges. Naja, ihr Problem. Obwohl: Sie neigte dazu, ihre Schwierigkeiten in seine Probleme umzuwandeln.

    „Sagen Sie jetzt bitte, dass das nicht wahr ist!", fuhr sie ihn empört an. Ihre Frisur, heute wie ein kunstvolles Vogelnest geflochten, wippte gefährlich.

    Jo zögerte. Doch Leugnen erschien ihm zwecklos: „Irgendwie schon, Frau Claaßen."

    „Das glaube ich jetzt nicht. Das glaube ich jetzt einfach nicht! Fährt mit dem neuen Dienstwagen und landet glatt auf der Titelseite der Zeitung!"

    „Frau Claaßen, ich konnte doch nicht ahnen, dass ausgerechnet Karla Kolumna in ihrer fahrenden Handtasche auf der Landstraße im Schritttempo vor sich hin träumte."

    „Karla Kolumna?"

    „Äh, die örtliche Lokalredakteurin der Westfälischen Landeszeitung, mit bürgerlichem Namen Frau Bathen. Kolumna ist nur ihr Künstlername."

    „Die nennt sich echt nach der Reporterin in den Benjamin-Blümchen-Geschichten?"

    Jo verdrehte die Augen. Kein Humor, seine Chefin. „Nein, natürlich nicht, das mit dem Pseudonym ist ein Scherz."

    „So, ein Jux. Und ein flacher dazu: Sie lenken ab, Kollege Nigge! Aus ihrem Mund klang ‚Kollege‘ wie ausgespuckt. „Mussten Sie denn unbedingt überholen, so kurz vor der Kuppe?

    „Also Chefin, die Frau fuhr höchstens sechzig-siebzig, parkte sozusagen, und der Begriff Kuppe ist an dieser Stelle völlig übertrieben. Die ist flacher als meine Witze, da sieht man locker drüber hinweg." Zumindest, wenn man größer als eins-sechzig war, was man von der Zeitungstante beim besten Willen nicht behaupten konnte.

    „Wie auch immer: Jedenfalls wird die angesagte aktuelle Aktion des Innenministers zur Verkehrssicherheit doch kaum gefördert, wenn ein Kriminalkommissar der Briloner Polizeistation mit dem Dienstwagen auf der Titelseite der örtlichen Presse prangt, wie er vor einer Kuppe überholt."

    Jo hätte Kolumna erwürgen können. Hatte Sie es wieder geschafft, ihn in Schwierigkeiten zu bringen. „Das Foto in der Zeitung verzerrt die Realität", entgegnete er lahm.

    „Das spielt überhaupt keine Rolle. Oder glauben Sie, dass würde auch nur eine Leserin, respektive eine potentielle Wählerin des Innenministers kapieren? Damit das klar ist: Sie absolvieren sofort ein Fahrsicherheitstraining, bevor Sie wieder einen Dienstwagen auch nur ansatzweise auf dem Parkplatz bewegen! Haben wir uns da verstanden?"

    „Ach nee, das glaube ich jetzt nicht."

    „So? Ich dachte immer, Sie wären ein gläubiger Mensch? Mir egal, ob Sie das überzeugt. Ich bin Atheistin. Kommen Sie mir ja nicht ohne Teilnahmebestätigung der Kreisverkehrswacht zurück!"

    „Ich habe Berufung eingelegt! Immerhin steht Aussage gegen Aussage. Sicher werde ich von einem richtigen Gericht freigesprochen. Diese neue Richterin hat alles, was ich zu meiner Verteidigung vorgebracht habe, als unglaubwürdig vom Tisch gewischt."

    „Was? Ziehen Sie die Berufung sofort zurück! Erstens schlachtet das die Presse doch nur noch mehr aus! Und was mag zweitens denn dabei schon anderes herauskommen? Glauben Sie, wegen eines profanen Verkehrssünders, der nebenbei sogar Bulle ist, wird das Justizsystem geändert?"

    Mist, da hatte Jo nicht dran gedacht. Die Schreiberin würde diese Gelegenheit erneut nutzen, um ihm eins auszuwischen, weil er ihr damals beim Langenbergmord¹ die Tour vermasselt hatte. Und die Richterin wirkte zweifellos durchsetzungsstark. Andererseits stand ja wahrhaftig Aussage gegen Aussage: kein Fahrer auf dem unscharfen Foto zu erkennen! Erst jetzt fiel ihm auf, dass die Reporterin es unglaublicherweise während der Fahrt geschafft hatte, ihn zu fotografieren. Egal: Es drohte ein Fahrverbot, wenn es Kolumna gelänge, ihm zusätzlich eine konkrete Gefährdung des Gegenverkehrs anzuhängen.

    Und das alles kurz vor dem Schützenfest in Bruchhausen!

    #

    WIL WAGNER steckte seinen Dienstausweis umständlich in die Innentasche seines makellosen Sakkos, obwohl er ahnte, was jetzt kam. „Nein", sagte er bemüht ruhig.

    „Nein?"

    „Nein!"

    „Aber verwandt?"

    „Nein!!"

    „Verschwägert?"

    „Nein!!!"

    „Kann ich Ihren Dienstausweis noch mal sehen?"

    Also kramte er die Karte nochmals heraus und hielt sie der Frau betont nah vor das Gesicht.

    Sie schob die Brille hoch und fuhr mit dem Kopf mehrfach vor und zurück. Offensichtlich versuchte die Frau, die Buchstaben in den Fokus ihrer Augen zu bringen. Eine steile Falte durchfurchte ihre gebräunte Stirn. Wil erkannte, wie es in ihr arbeitete. Zu guter Letzt siegte der Triumph über den Zweifel:

    „Aber hier steht es buchstäblich: Wilke! "

    Nein, also doch, ja, trotzdem ist das nur der Vorname."

    „Man kann so mit Vornamen heißen? Warum sagen Sie das nicht gleich", kam es beleidigt zurück.

    Wil seufzte. Was seine Eltern im fernen Offenbach für eine originelle Idee gehalten hatten, erwies sich hier in Waldeck als zumindest anstrengend. Jeder nahm an, er habe etwas mit Wurstwaren zu tun. Deswegen nannte er sich nur kurz Wil. Aber manchmal ließ es sich eben nicht vermeiden, den vollen Vornamen zu präsentieren.

    „Wie auch immer, fuhr Wil fort. Er beneidete seinen Kumpel Jo Nigge. Der glaubte heutzutage überraschenderweise an Gott, unglaublich. „Pragmatisch-katholisch, wie er zu sagen pflegte. Besuchte sogar sonntags als ehemaliger Messdiener die Kirche. Wil nicht, schon seit seiner Konfirmation nicht mehr. Aber jetzt würde er gern doch beten - dass er aus diesem Einerlei erlöst würde! Dabei hatte er es sich selbst zuzuschreiben. Nach seinem Burnout bei der Frankfurter Kripo hatte er alle Hebel in Bewegung gesetzt, um seinen polizeilichen Lebensabend hier in der Provinz mit Rumlümmeln zu verbringen. Doch die Beschäftigung mit den hiesigen Kriminalfällen zeigte sich ausgesprochen eintönig, sah man von diversen Verkehrsverstößen ab. Er musste sich eingestehen: Er brauchte dringend eine ungeklärte Leiche. Am besten auf dem schmalen Grat zwischen Waldeck und Sauerland. Denn das ermöglichte ihm, erneut mit seinem Kollegen Jo Nigge aus Westfalen gemeinsam zu ermitteln!

    „Also: Sind Sie in der Lage, mir den Sachverhalt kurz und bündig zu schildern?"

    „Nein."

    „Aber Sie haben doch angegeben, die Tat beobachtet zu haben?"

    „Das stimmt."

    „Und?"

    „Kurz und bündig geht das schon mal gar nicht. Und nehmen Sie doch ein Teilchen. Ist frisch vom Bäcker."

    Wils rechte Hand zuckte schon Richtung Teller.

    „Ich habe die erst letzte Woche als Sonderangebot im Dutzend geholt", fuhr sie fort.

    Sicher längst hart wie Stein. Enttäuscht ließ er die Hand, wie er hoffte unauffällig, in seine spärlichen Haare statt auf den Teller greifen. Vielleicht besser so, er hatte sowieso zu viel auf den Hüften. „Danke, ich habe schon gefrühstückt."

    „Aber es ist mit Familienpudding!"

    „Familienpudding?"

    „Ja … also Vanille-Pudding."

    „Ach so, darf ich wieder zu Ihrer Aussage zurückkommen? Danke. Was genau haben Sie denn jetzt gesehen?"

    „Also, das war so. Ich erinnere mich an letztes Jahr, wo ich …"

    Wil musste sich beherrschen, aber gewaltig. Wenn die ihn weiter so nervte, bekäme er seine Leiche auf der Stelle - allerdings entweder ihre, aus purer Notwehr erwürgt, oder seine eigene, gestorben aus schierer Langeweile. Und dabei war erst früher Morgen und der Feierabend etliche Verhöre entfernt.

    „Äh, Herr … Inspektor …"

    „Kriminalhauptkommissar Wagner."

    „Was machen Sie jetzt da?"

    „Was? Ach so. Ich hole nur mein Strickzeug heraus."

    „Stricknadeln?"

    „Genau!"

    Pure Empörung tränkte die Worte: „Aber ich wollte gerade eine Aussage machen!"

    „Bitte gern, lassen Sie sich nicht stören. Das Stricken hilft mir bei der Konzentration: altes Hausrezept." Und vermeidet, dass ich hier einschlafe. Allein die Aussicht auf ein frisch Gezapftes im Sturen Landmesser ließ ihn jetzt nicht gleich auf der Stelle zusammenbrechen.

    „Äh, Herr … Inspektor …"

    „Kriminalhauptkommissar Wagner."

    „Was soll das denn werden? Doch nicht etwa ein Pullover?"

    „Aber, aber: Ich stelle hier die Fragen!"

    „Oh, stimmt. Wo war ich nochmal stehengeblieben?"

    „Sie waren im Begriff zu Protokoll zu geben, was genau Sie gesehen haben."

    „Also, das war so. Letztes Jahr …"

    „Nee, das hatten wir schon. Mir fehlt nur der entscheidende Schluss."

    „Ich habe bereits vom Vorjahr erzählt?"

    Er nickte abgeklärt: „Sehen Sie, das Stricken wirkt!"

    #im Mittelalter#

    DIE NONNE sah sich furchtsam um. Hörte sie Schritte? War sie entdeckt worden? Oder nur der Sturmwind? Sie packte ihren Schatz fester, drückte ihn gegen ihre Brust. Die Kühle des Metalls durchdrang das dünne Tuch. Nein, das Prunkstück durfte sie nicht verlieren! Das war wichtig! Schnellen Schrittes eilte sie weiter durch den finsteren Wald zurück Richtung Kloster Borberg.

    Wolken hatten den Himmel bezogen, türmten sich hoch auf. Wurden immer schwärzer und dichter. Wind fuhr ihr bitterkalt um den Kopf, fegte ihr das Tuch herunter, zerrte an ihren zum Knoten hochgesteckten samtbraunen Zöpfen.

    In der Ferne grollte Donner. Die dumpfen Schläge donnerten nach jedem Aufblitzen näher.

    Die Nonne Pia lief los. Unmöglich, es bis ins Kloster zu schaffen. Vielleicht sollte sie Schutz suchen?

    Krachend schlug ein Blitz wenige Schritte entfernt in einen Baum ein. Holzsplitter flogen wie Armbrustbolzen in alle Richtungen. Der Stamm polterte zu Boden. Die Nonne rannte, als wäre, Gott-sei-bei-uns, der Leibhaftige persönlich hinter ihr her.

    Endlich der Eckstein! Da konnte sie sich unterstellen, vertraut aus Kindertagen. Kalter Regen rann ihr inzwischen in den Kragen, tränkte ihr Unterkleid. Ihre aufgelösten Zöpfe klatschten ihr ins Gesicht. Die Kleidung klebte ihr schon patschnass am Körper und saugte das letzte bisschen Wärme aus ihr heraus. Fest an die Felswand unter dem Überhang gedrückt, suchte sie Schutz vor dem Zorn der Elemente. Um sie herum schlugen die Blitze im Minutentakt ein. Ob sie hier heil rauskäme? Aber vermochte sie ruhigen Gewissens zur Heiligen Barbara zu beten? Sie hatte das Gelübde gebrochen, ein Versprechen an Gott höchstpersönlich: Jetzt war sie verflucht, ja jeder Gnade verlustig.

    Sie starrte auf ihren Schatz. Alles wegen dieses Juwels, das ihre geliebte Schwester in ihre Hände gegeben hatte. Ein Prunkstück aus uralten Zeiten, heidnischen Tagen! Dieser seltsame Helm mit zwei gezackten Löchern war, Gott-sei-bei-uns, des Teufels! Hatte ihn ausgerechnet ihr, einer treuen Nonne des Herrn, anvertraut. Und sie hatte versprochen, ihn zu bewahren.

    Bizarre, überirdische Reflexe blendeten sie bei jedem Blitzschlag. Hörte sie leise Stimmen? Angestrengt versuchte sie, zwischen den Donnerschlägen zu horchen. Wo kam das undeutliche Gemurmel nur her? War es möglich, dass der Hut zu ihr sprach?

    Unschlüssig drehte sie den Schatz in den Händen. Impulsiv stülpte sie den Helm über ihre nassen Haare. Ein Rauschen drang in ihre Ohren, formte Wortfetzen. Das war ja wahrlich wider die Natur! Ein hellgrelles Licht, das den Himmel von oben nach unten spaltete, blendete sie. Gleichzeitig ließ sie ein lauter Knall zusammenfahren. Ein gewaltiges Krachen erfüllte die Luft. Der Felsen bebte und polterte. Gesteinsbrocken und Bruchstücke platzten ab. Ein seltsames Kribbeln durchzog ihren gesamten Körper. Vom Felsendach schlug ein gewaltiger Lichtbogen funkensprühend direkt in ihren Schatz, ließ die Frau zittern wie Espenlaub im Sturm. Ihr Herz verkrampfte sich, kam aus dem Takt. Der Felsen in ihrem Rücken barst. Ihr Innerstes zersprang: Schließlich schwärzte sich ihr Bewusstsein: Aus!

    #

    DER MANN hatte wieder mal schrecklich geträumt! Er wischte den kalten Schweiß von der Stirn und versuchte, sich zu beruhigen. Das nahm langsam überhand. Er hätte das mit dem letzten Kölsch besser gelassen. Möglicherweise waren da, allen Unkenrufen zum Trotz, doch einige Spuren von Alkohol drin gewesen? Warum hatte er auch diese neue Kneipe besucht? Draußen wetterleuchtete es in der Ferne. Aber sei es drum: Wieso träumte er immer wieder so ein wirres Zeug? Und endete stets mit dem Tod?

    Jedes Kind in Bruchhausen kannte die grausame Legende über die Felsbrocken auf der Wiese am Fuße der Steine. Damit sollte schon immer der Nachwuchs zum Gehorsam angehalten werden: Im Mittelalter lebte eine Tochter derer von und zu Bruchhausen in der Abtei auf dem Borberg. Die Nonne Pia hatte das Gelübde abgelegt, ausschließlich Gott zu dienen und das Kloster niemals wieder lebend zu verlassen. Dann heiratete ihre geliebte Schwester einen Edelmann aus dem Baltikum. Gleich nach der Heirat wollten die beiden in seine Heimat ziehen. Trotz ihres Versprechens musste Pia unbedingt ein letztes Mal ihre einzige Schwester sehen. Sie schlich in der Verkleidung einer Magd in die Kapelle ihres Heimatdorfs und wohnte heimlich der Hochzeit bei. Auf dem Heimweg ins Kloster erhob sich ein gewaltiges Unwetter. Pia suchte Schutz im Schatten des fünften Bruchhauser Steins. Plötzlich schlug ein Blitz in den Felsen ein und zerschmetterte ihn in tausend Bruchstücke. Sie begruben die arme Nonne unter sich und sühnten ihr gebrochenes Versprechen. Seitdem waren es nur noch vier große Steine und die Wiese voller zersprengter Felsbrocken. Es handelte sich gewiss nur um eine Legende, das war ihm bewusst. Aber hatten derlei Geschichten nicht einen wahren Kern?

    Doch was hatte es mit diesem rundlichen Metallgegenstand auf sich, den Pia in seinem Traum als Schatz bei sich getragen und der den Blitz magisch angezogen hatte?

    #

    ¹ Veröffentlicht in „Mord(s)genau – jetzt wird’s grenzlich", erschienen 2018.

    Vertrauen ist gut, Controlling besser

    „Wir haben heute Mittwoch, den

    07. August 2019.

    Kinners hömma, hier ist Radio Hochsauerland, der mystische Sender aus der magischen Stadt Arnsberg. Für euch beim Musikzaubern euer langjähriger Hexenmeister Konny Kracht mit der Zaubershow ‚Bis es Kracht‘, und das Wort des Tages heißt bölken. Wenn euch das Sauerländer Tuwort anfliegt, gleich mit dem Zauberstab den Sender anwählen, und vielleicht werdet ihr für ein Wochenende in die Pension Negertalblick in Mittelneger Kreis Olpe gezaubert.

    Das Wetter macht total lunterich: Graue Wolken deprimieren alle an Sonne interessierten Suerlänner.

    Natürlich gibt es eine winzigkleine Dosis Werbung. Und danach die passende Musik: ‚Voodoo in my Blood‘ von Massive Attack."

    #

    POLIZEIHAUPTMEISTER PAUL BEULE saß da mit offenem Mund. Was versuchte die Chefin eigentlich gerade zu sagen?

    Claaßen schaute abwesend in die versammelte Belegschaft der Polizeistation Brilon. Heute hatte sie ihre Haare wie zum Schiefen Turm von Pisa gebunden. Jetzt spulte die Dienststellenleiterin ihre Rede herunter, als lese sie das Telefonbuch von Arnsberg vor. Dabei hatte Beule doch extra ein Rednerpult aus dem Saal des Kreishauses herbeigeschleppt, mit buntem Landeswappen, Mikrofon und so.

    „Wie Sie alle wissen, ist der Haushalt von NRW dieses Mal besonders knapp kalkuliert", fuhr sie emotionslos fort. „Damit wir mit den wenigen Mitteln auskommen, hat das Polizeipräsidium beschlossen, uns zu helfen. Herr Mickenbecker und seine Mannschaft von MuMPAC, der Mickenbecker und Mickenbecker Public Authority Consulting, wird in den nächsten Tagen unsere finanzielle Situation analysieren und die zugrundeliegenden Prozesse verschlanken."

    Neben der Chefin stand ein hagerer Mann: maßgeschneiderter Einheitsanzug in Grau mit Weste, blondglänzendes, nach hinten gegeltes Haar, ein dicker goldener Siegelring am rechten Mittelfinger, eine Uhrenkette an der Weste, vor sich eine teure Aktentasche aus gemustertem Leder.

    „Herr Mickenbecker, Herr Doktor Mickenbecker, ist anerkannter Fachmann mit besten Referenzen."

    Beules Augenbrauen fuhren in ungeahnte Höhen. Für ihn waren gute Abschlussnoten kein Beweis von Intelligenz, sondern bestenfalls ein Gradmesser, wie geschickt der Kandidat die Lehrer bei den Tests betuppt hatte. Ihm kam das alles doch total bekannt vor. Er erinnerte sich nicht, jemals gehört zu haben, dass der Etat ausreichend war. Stattdessen jedes Jahr dasselbe Laientheater. Vokabeln wie ‚nicht auskömmlich‘, ‚knapp‘ und so weiter bevölkerten, seit er sich erinnern konnte, die Ansprachen der jeweiligen Dienststellenleitung. Ja, Chefs kamen und verschwanden, doch der knappe Etat blieb an der Polizeiwache kleben wie Kaugummi. Er hörte da schon lange nicht mehr hin. Aber das mit dem durchgestylten Typen war völlig neu.

    Der stand da mit stahlhartem Blick und durchgedrücktem Rücken, als wenn er einen Besenstiel verschluckt hätte. Beule schwante, dass es gänzlich neue Schwierigkeiten gab.

    Mickenbecker räusperte sich: „Also, dann wollen wir mal keine Zeit verlieren und gleich loslegen."

    Die Claaßen nickte: „Bitte unterstützen Sie die Consulting-Firma so, wie Sie mir helfen würden! Befolgen Sie alle Anweisungen. Die kommen praktisch von ganz oben. Ich wiederhole: Sämtliche Vorgaben sind unverzüglich und ohne Abstriche zu beachten! Dann wandte sie sich nochmal an den Anzugträger. „Ich denke, damit ist alles gesagt. Ich lasse Sie jetzt allein, ich habe noch einen wichtigen Termin. Ohne die Belegschaft eines Blickes zu würdigen, stolzierte sie nach draußen.

    ‚Natürlich‘, dachte Beule, als sie aus dem Raum rauschte. ‚Mit ihrem Starcoiffeur aus Bella Italia, woll?‘, ergänzte er in Gedanken. Das war inzwischen ein offenes Geheimnis, dass sie ständig in dem neuen Frisiertempel in Brilons Fußgängerzone saß. Dafür verließ sie sogar Arnsberg gen Osten, statt wie üblich Richtung Dortmunder Kreuzviertel, in dem sie immer noch residierte. Sie legte Wert auf ein großstädtisches Auftreten. Offenbar behandelte der Haarkünstler ihre strohigen Haare mit bei Vollmond kaltgepresstem Bio-Olivenöl seiner Spaghetti für einen Spottpreis. Nachteil: Jetzt besuchte sie deutlich öfter die Polizeiwache im sonst gern vernachlässigten Brilon. Dienstaufsicht stand sinnigerweise im Dienstreisewochenplan.

    Alle Augen richteten sich auf Mickenbecker, der einige Unterlagen aus dem Koffer auf dem Pult vor sich deponiert hatte. „Meine Damen und Herren, jetzt wird es ernst. Sämtliche Vorgänge, buchstäblich alles, auch liebgewordene Gewohnheiten, werden untersucht, nichts bleibt außen vor. Wir werden jetzt ein paar spannende Monate miteinander verbringen. Es liegt an Ihnen, wie aufregend diese Zeit wird."

    „Ist das eine Drohung?", witzelte Kalle Wiegelmann in der letzten Reihe. Verhaltenes Lachen.

    Mickenbecker verzog keine Miene. „Drohung? Warnung? Ich formuliere das mal so: Es ist eine Vorhersage!"

    Beule ließ den Kopf ein Stück tiefer hängen. Auf diese Art von Spannung, egal ob angedroht oder nur gewarnt, verzichtete er gut und gerne. Und seine Chefin benahm sich, als ginge sie das alles nichts an. Nur immer wieder der ungeduldige Blick auf ihre Armbanduhr. Wusste sie etwa mehr? Hatte sie die Polizeistation schon abgeschrieben? Schien so. Beule musste Weiteres in Erfahrung bringen!

    #

    JO NIGGE wusste gleich, dass es schwierig werden würde. Vor ihm in seinem eigenen Büro unter dem steilen Dach der Polizeiwache stand die gewissermaßen jüngere Ausgabe des Vorstandsvorsitzenden von MuMPAC, sein Sohn Dr. Martin Mickenbecker. Sie schienen sogar das gleiche Gel zu benutzen, anzunehmen aus einer Familienpackung - aus Kostengründen, versteht sich. Dieses jüngere Double kündigte an, sie für ein paar Tage bei den Ermittlungen zu begleiten. Um ‚Prozesse zu verschlanken‘ und ‚Synergien zu heben‘, wie er überflüssigerweise betonte. Überhaupt war ‚Prozess‘ eines seiner fünf Lieblingswörter. Die anderen waren Controlling, Bericht, Bilanz und SOFORT. Bitte und Danke waren dagegen eher rudimentär ausgeprägt.

    „Samma, wo kommsse denn wech?", verlangte Paul Beule zu wissen.

    Irritiert blickte der Controller von seinem Konzept auf. „Wie bitte?"

    „Na, wo de wech bist, wollt’ ich wissen, woll?"

    „Wech? Woll?" Mickenbeckers linke Augenbraue hob sich fragend steil in die Höhe.

    „Die Frage lautete, wo stammen Sie her?", half ihm Nigge betont langsam.

    „Ah, jetzt ja. Er wandte sich an den Kommissar: „Gibt es den auch mit deutschen Untertiteln?

    Jo sagte lieber erstmal nichts. Hörte er bei Auswärtigen öfters. Das Gespräch drohte zu entgleiten. Und das alles nur, weil es Beule übertrieb. Seit er einen Volkshochschulkurs Suerlänske Dönekes abgelegt und mit der Urkunde zum „Native Speaker" abgeschlossen hatte, küerte er nur Platt. Dafür hatte nicht jeder

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