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HINTER DEN MAUERN DER ZEIT
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eBook309 Seiten4 Stunden

HINTER DEN MAUERN DER ZEIT

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Über dieses E-Book

Kurz vor Düsseldorf erwacht in einem Transrapid ein Mann. Er stellt fest, dass er sein Gedächtnis verloren hat; weder sein Name noch seine Anschrift sind ihm bekannt; seine Vergangenheit ist verschwunden. Steht er unter Drogen?

Hilflos irrt er umher, trifft absonderlichste Menschen, die ihn zu kennen scheinen, entdeckt Bücher, die ihm auf unerklärliche Weise vertraut scheinen. Wirklichkeit und Alptraum werden eins.

Die Suche nach seiner Vergangenheit führt ihn zu einer Villa im Schwarzwald, und er findet heraus, dass er der totgeglaubte SF-Schriftsteller Konstantin Bohlen ist. Hat er sein Ableben vorgetäuscht, um ein neues Leben beginnen zu können? Ist er als Autor in die Fänge der fanatischen Gottes-Partei geraten? Oder wurde er von seinem Literatur-Agenten getäuscht und betrogen?


In diesem, dem amerikanischen SF-Autor Philip K. Dick (1928 – 1982) gewidmeten Buch knüpfen die Autoren an die nach Dicks Tod aufgekommenen Gerüchte an, dieser habe sein Ableben selbst inszeniert, um inkognito ein neues Leben anfangen zu können. Sie greifen zahlreiche philosophische Gedanken Dicks und Themen seines Werkes auf und verarbeiten diese mit einer originären Handlung zu einem phantastischen Roman in bester Dick'scher Tradition: Wie er hinterfragen auch sie fortwährend die vordergründige Realität und zertrümmern eingefahrene Wahrnehmungsmuster und Denkschablonen.

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum15. Aug. 2017
ISBN9783739682181
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    Buchvorschau

    HINTER DEN MAUERN DER ZEIT - Michael K. Iwoleit

    Das Buch

    Kurz vor Düsseldorf erwacht in einem Transrapid ein Mann. Er stellt fest, dass er sein Gedächtnis verloren hat; weder sein Name noch seine Anschrift sind ihm bekannt; seine Vergangenheit ist verschwunden. Steht er unter Drogen?

    Hilflos irrt er umher, trifft absonderlichste Menschen, die ihn zu kennen scheinen, entdeckt Bücher, die ihm auf unerklärliche Weise vertraut scheinen. Wirklichkeit und Alptraum werden eins.

    Die Suche nach seiner Vergangenheit führt ihn zu einer Villa im Schwarzwald, und er findet heraus, dass er der totgeglaubte SF-Schriftsteller Konstantin Bohlen ist. Hat er sein Ableben vorgetäuscht, um ein neues Leben beginnen zu beginnen? Ist er als Autor in die Fänge der fanatischen Gottes-Partei geraten? Oder wurde er von seinem Literatur-Agenten getäuscht und betrogen?

    In diesem, dem amerikanischen SF-Autor Philip K. Dick (1928 – 1982) gewidmeten Buch knüpfen die Autoren an die nach Dicks Tod aufgekommenen Gerüchte an, dieser habe sein Ableben selbst inszeniert, um inkognito ein neues Leben anfangen zu können. Sie greifen zahlreiche philosophische Gedanken Dicks und Themen seines Werkes auf und verarbeiten diese mit einer originären Handlung zu einem phantastischen Roman ist bester Dick'scher Tradition: Wie er hinterfragen auch sie fortwährend die vordergründige Realität und zertrümmern eingefahrene Wahrnehmungs-Muster und Denkschablonen.

    Die Autoren

    Horst Pukallus, Jahrgang 1949.

    Schriftsteller, Herausgeber und Übersetzer.

    Seit den späten 1960er Jahren veröffentlichte er Kritiken zur SF-Literatur, vor allem in der Zeitschrift Science Fiction-Times. 1974 erschien seine erste Erzählung Interludium. Es folgten u.a. die Story-Sammlungen Die Wellenlänge der Wirklichkeit (1983) und Songs aus der Konverter-Kammer (1985), die Pukallus als einen der vielseitigsten und intellektuell versiertesten deutschsprachigen Genre-Autoren seiner Generation etablierten. Neben seiner Meisterschaft im Metier der Kurzgeschichten/Erzählungen sind auch seine Romane Krisenzentrum Dschinnistan (1985) und Hinter den Mauern der Zeit (1989, zusammen mit Michael Iwoleit) von überragender inhaltlicher und stilistischer Qualität. Zu Recht wird Horst Pukallus mit dem großen amerikanischen SF-Schriftsteller Philip K. Dick verglichen.

    Zu seinen herausragenden Übersetzungen aus dem Englischen/Amerikanischen gehören u.a.: Iain Banks: Vor einem dunklen Hintergrund (1998), John Brunner: Morgenwelt (1980), John Brunner: Schafe blicken auf (1978), John Brunner: Der Schockwellenreiter (1979), Philip K. Dick: Kinder des Holocaust (1984), Jack Womack: Heidern (1993) sowie die Deryni-Romane von Katherine Kurtz (1978 – 2000).

    In den Jahren 1980, 1981, 1984, 1985 und 2001 erhielt er den Kurd-Laßwitz-Preis für die beste Übersetzung; 1991 erhielt er diese Ehrung für seine Erzählung Das Blei der Zeit.

    Horst Pukallus lebt und arbeitet in Wuppertal.

    Michael K. Iwoleit, Jahrgang 1962.

    Schriftsteller,Übersetzer und Kritiker.

    Michael K. Iwoleit wurde in Düsseldorf geboren. Nach dem Abitur und einem Abschluss als Biologisch-technischer Assistent (1982), war am Botanischen Institut der Universität Düsseldorf beschäftigt, studierte Philosophie und Germanistik und ist seit 1984 hauptberuflich als Autor, Übersetzer und Kritiker vornehmlich im Bereich der Science Fiction tätig.

    1984 erschien sein erster Roman unter dem Titel Rubikon, dem 1989 Hinter den Mauern der Zeit (mit Horst Pukallus) und 2003 Am Rande des Abgrunds folgten. Seine preisgekrönte Erzählung Psyhack erweiterte er 2007 zu einem Roman.

    Iwoleit ist insbesondere für seine Novellen bekannt, für die er viermal mit dem Deutschen Science-Fiction-Preis und zweimal mit dem Kurd-Laßwitz-Preis ausgezeichnet wurde. Auch als Herausgeber, Übersetzer und Kritiker hat er sich einen Namen gemacht: Gemeinsam mit Ronald M. Hahn gibt er seit 2002 das Science-Fiction-Magazin Nova heraus. Darüber hinaus übertrug unter anderem Romane von Iain Banks, David Wingrove und Cory Doctorow ins Deutsche.

    Er war regelmäßiger Mitarbeiter des SCIENCE FICTION JAHRs im Heyne Verlag, für das er u. a. einen dreiteiligen Essay über die neue deutsche Science Fiction verfasste, und veröffentlichte eine Reihe von Kurzgeschichten in Anthologien und Zeitschriften sowie Artikel und Rezensionen im Fachblatt Science Fiction Times.

      In Gedenken an PHILIP K. DICK

    1928-1982

    Eine verzweifelte Suche ist in mir zurückgeblieben: ein für alle Mal zu meiner eigenen Zufriedenheit die wirkliche Natur der Realität zu bestimmen.

    Philip K. Dick (1977)

    »Ich bin dein Freund«, sagte der alte Mann. »Aber du musst so weitermachen, als ob es mich nicht gäbe. Verstehst du das?« Er breitete die leeren Hände aus.

    »Nein«, antwortete Rick. »Das verstehe ich nicht. Ich brauche Hilfe.«

    »Wie könnte ich dich retten, wenn ich mich selbst nicht retten kann?«, fragte der alte Mann lächelnd. »Siehst du das denn nicht ein. Es gibt keine Rettung!«

    »Und wozu ist dann alles gut?«, fragte Rick. »Wo- für gibt es dich?«

    »Um dir zu zeigen, dass du nicht allein bist«, antwortete Wilbur Mercer. »Ich bin bei dir und werde es immer sein. Geh hin und tue deine Pflicht, selbst wenn du weißt, dass es falsch ist.«

    »Warum?«, fragte Rick. »Warum sollte ich das tun? Ich kündige und wandere aus.«

    Der alte Mann sagte: »Du wirst das Falsche tun müssen, wo immer du auch bist. Das ist die Grund-bedingung des Lebens: dass man stets wider die eigene Natur handeln muss. jedes lebende Geschöpf sieht sich zu irgendeinem Zeitpunkt dazu gezwungen. Es ist der schwärzeste Schatten über unserem Leben, die letztliche Niederlage der Schöpfung. Hier wirkt sich der Fluch aus, der über allem Leben liegt. Überall im ganzen Universum.«

    Philip K. Dick: Träumen Roboter von elektrischen Schafen?

    (späterer Film-Titel: Blade Runner, 1982)

    Eins

    Eine Arbeit von drei Jahren war zunichte gemacht worden. Tausend Stunden des Bemühens, den Vorstellungen in seinem Innern einen Ausdruck zu geben, waren umsonst gewesen. Aber niemand außer Erich Süßpfennig selbst würde es bemerken. Niemand in der Galerie begriff sein Entsetzen. Er stand vor dem Gemälde, das sein Werk hätte sein sollen, und erkannte nicht einen Pinselstrich wieder. Es war keine Kopie, keine noch so geschickte Fälschung, es war die unbegreifliche Metamorphose seiner Hände und seines Herzens Arbeit in etwas, dem jegliche Seele fehlte. Für einen Moment war ihm, als drohe diese Verwandlung auch auf ihn selbst überzugreifen, und als er sich abwandte und hilfesuchend nach einem menschlichen Augenpaar Ausschau hielt, begriff er, dass dies mit all den Androiden-haften Gestalten hier schon längst geschehen war.

    Konstantin Bohlen: DIE ZEIT IST AUS DEN FUGEN.

    Ein Körper nahm Gestalt an. Ein Licht entflammte, erfasste sprödes, ausgelaugtes Gewebe und fraß sich als ein düsteres Glimmen um sich. Bald füllte es ein ovales, gebeultes Volumen aus, verjüngte sich an einer Stelle und wucherte in zahllosen Verzweigungen und Verästelungen fort, bis seine imaginären Umrisse die Silhouette eines Menschen beschrieben. Sie gewann an Schärfe und Form, und als die ersten Impulse durch das Netz zuckten, kehrte das Gefühl in diesen Körper zurück. Es entstand irgendwo im Umkreis des Herzens, flaute zuerst wie eine Stoßwelle durch die inneren Organe und bis in die Endpunkte der Extremitäten, ehe es, einem Schub frischen Bewusstseins zu vergleichen, ins Hirn aufstieg. Dort traf es auf widerstandslose Leere, auf nichts als ein Gefühl von Mattigkeit und Erschöpfung, dem alle Erinnerungen gewichen schienen. Ein trockener Mund saugte kraftlos Luft ein. Taubgelegene Muskeln gaben ihre Überreizung zu erkennen.

    Das erste, was dem Mann zu Bewusstsein kam, als er wieder erwachte, war seine Körperhaltung, die zwischen der eines Embryos und dem Schlafgebaren eines Erwachsenen, der sich in fremde Realitäten hineinträumte, die Schwebe hielt. Er spürte Kopf und Schultern auf einem unangenehm kantigen Vorsprung, den restlichen Körper dagegen in weichen, körperwarmen Polstern. Seinen Schmerzen nach zu urteilen, die auf längere einseitige Belastung hindeuteten, musste er geraume Zeit regungslos so dagelegen haben.

    Mit dem Körpergefühl stellten sich wenig später auch die Eindrücke seiner übrigen Sinne wieder ein. Noch vage, weil ihm die Lider bleischwer über den Augen lagen, vermittelten sie eine Atmosphäre profaner Alltäglichkeit. Ein Summen von charakteristischer Färbung ließ auf das beinahe lautlose Dahinschnellen eines Transrapid-Schnellzuges schließen. Minimale Schwankungen der Hochsicherheitsfahrkabinen auf ihren elektrodynamischen Polstern vervollständigten den Eindruck routinemäßiger Abläufe. Hinzu kam, wie alles Übrige bis an die Grenze zur Unhörbarkeit gedämpft, das Stimmengewirr des Vorbeiströmenden draußen auf dem Gang. Ein geübtes Ohr konnte aus dieser Kulisse unverkennbar das Herannahen der nächsten Zwischenstation heraushören.

    Etwas ließ den Mann noch darauf warten, dass sich von allein die Lücken schließen mochten, die in seinem Gedächtnis klafften. Es war das unbestimmte Gefühl, diese Geräusche schon oft gehört zu haben, schon oft auf diese Weise aufgewacht zu sein. Es tat sich jedoch nichts. Irgendwann wurde er unruhig. So sehr er sich bemühte, in seinem Hirn fand sich nicht die Spur eines Hinweises auf seinen Namen und seine Identität. Wäre da nicht die dumpfe, selbstgefällige Versicherung gewesen, dergleichen könne ja gar nicht möglich sein, wäre er, schon bevor er die Augen aufschlug, zu der Einsicht gelangt, dass er sein Gedächtnis verloren hatte.

    So riss ihn nach einer Zeitspanne, die er nicht abzuschätzen wusste, ein verhaltenes Gelächter aus seinem Dahinbrüten. Eine der Stimmen gehörte einer Frau und besaß einen seltsam monotonen Beiklang, die den Mann an irgendetwas erinnerte. Als wäre dies ein Signal gewesen, nahm ein von Übelkeit erfüllter Zopf von Innereien den Platz des grob strukturierten Torsos ein, den er nach dem Aufwachen gespürt hatte. Seine schmerzende Körperhülle füllte sich gefühlsmäßig mit Fleisch, und dringender als alles andere kam ihm dabei zu Bewusstsein, dass er sich hundeelend fühlte.

    Er öffnete unter quälenden Anstrengungen die Augen und schloss sie gleich wieder, als ein Bündel greller Lichtstrahlen seine Netzhaut traf. Mit mühsam vorgehobener Hand, die er irgendwie unter seinem Leib hervorzerrte, wagte er einen zweiten Versuch und blickte durch ein bis zum Zugdach hochgewölbtes Panoramafenster auf die Baumspitzen einer sonnenbeschienenen, vor den Blicken davonrasenden Landschaft. Flüchtig erkennbar glitzerte dahinter im Widerschein von Aluminium, Stahl und Glas eine Ansammlung zerbrechlicher, fast immaterieller Pavillon- und Sommerhausarchitektur.

    Der Mann wälzte sich mit steifem Nacken in eine angenehmere Haltung und sah sich im Kreis der mit ihm im selben Abteil Reisenden um. Für den ersten Moment waren seine Augen noch so schlecht an die Lichtverhältnisse gewöhnt, dass alle Farben zu verwaschenen, weichzeichnenden Tönen verschwommen. So kam ihm die junge, hochgewachsene Frau, die ihm gegenübersaß, zuerst wie ein Ausschnitt aus einem Ölgemälde vor. Einige Sekunden lang schienen ihre zarten Gesichtszüge und das schwarze, schulterlange Haar der Inspiration eines Impressionisten zu entstammen. Nur die Kulisse, in der sich etwas von zukünftigem Design und zukünftiger Lebensart andeutete, wollte nicht recht dazu passen. Dann gewann ihre Gestalt an Wirklichkeit dazu, und der Mann erkannte in ihrer dezent pastellfarben getönten Kleidung eine quasi-religiöse Einheitstracht, die sie mit ihren drei Begleitern gemeinsam hatte. Auf Höhe der flachen, sich kaum unter dem faltigen Kleid abhebenden Brust war mit silbrigen Fäden das Emblem der religiös motivierten Partei Defensor Dei gestickt, und es erfüllte den Mann mit gewisser Zuversicht, dass er zumindest diese wiedererkannte. Überhaupt waren ihm die Details in dem geräumigen Abteil wie von vielen Geschäftsreisen vertraut, die seitlichen Klapptischchen, die kunstledernen Polstersitze und das Display über der rauchgläsernen Tür zum Gang. Zudem empfand er eine vage Vertrautheit mit dem von Askese und Überforderung ausgemergelten Gesicht des Mädchens. Sie verflüchtigte sich, sobald er sich näher darauf konzentrierte, rascher als die Spuren einer ei-genwilligen Schönheit, die dieses Gesicht offenbar einmal ausgezeichnet hatte.

    Der eine ihrer drei Begleiter hatte sich aufdringlich in den Sitz neben sie gedrängt und lugte vorgebeugt in das Taschenbuch, das er und sie gemeinsam hielten. Die überstehenden Ränder eines Bündels von Zeitungsausschnitten flatterten zwischen den Buchdeckeln im Luftstrom der Klimaanlage. Das Cover war bis auf den mit Bucheinbindefolie überklebten Autorennamen völlig abgegriffen und der Buchrücken von unzähligem Lesen fast durchrissen.

    Neben einem gedrungen gebauten und teilnahmslos auf den Gang hinausblickenden Jungen von vielleicht siebzehn Jahren hockte ein Neohippie, dem ein süffisanter Ausdruck förmlich in die Mundwinkel gemeißelt schien, auf dem anderen Fensterplatz. Die vier verbreiteten strenge, an Rauschgifte gemahnende Düfte, die in der Hightech-Umgebung anachronistischer wirkten, als es eine Dampflok auf dem Nebengleis getan hätte. Gemeinsam war ihnen ein Blick, in dem sich unendliche Langeweile ebenso wie in Gleichgültigkeit umgeschlagene Verzweiflung widerspiegelten. Dieser Ausdruck fügte sich so nahtlos ihrem Äußeren ein, als sei er ähnlich wie die völlig aus dem Rahmen der Zeit fallende Kutte ein gemeinsames Merkmal im Erscheinungsbild aller Defensor-Dei-Schützlinge.

    Während draußen zügig die Stadtgrenzen näher rückten, setzte bereits spürbar der zweiminütige Bremsprozess der über dreihundertfünfzig Stundenkilometer Reisegeschwindigkeit auf das Bahnhofstempo ein. Spätestens jetzt vermochte das spätpubertäre Quartett die Aufmerksamkeit des Mannes nicht länger zu fesseln, denn von der einen Sekunde zur anderen schienen seine Magenwände schiere Hexentänze aufzuführen. Als zentriere sich alle Schubenergie des Zuges auf seinen Leib, drohte ihm ein heftiger Druck den Mageninhalt aufzustoßen. Mit aller Kraft, die er aufzubringen vermochte, stemmte er sich auf die Beine und bugsierte seine massige Leibesfülle, die er bis dahin gar nicht wahrgenommen hatte, auf den Gang hinaus. Dort drängte er gerade Vorbeikommende so heftig an die Wände, dass sie nur noch japsten, wagte selbst aber erst in dem Moment Luft zu holen, als er vor seinem verschwommenen Blick die Toilettentür auftauchen sah. Sie glitt erst nach hektischer Fummelei an den Sensortasten zur Seite, und er schaffte es gerade noch rechtzeitig, sich über das Becken zu beugen. Als die Tür sich schloss, um ihn vor peinlichen Blicken zu bewahren, stand er bereits wieder aufrecht.

    Er schwankte einmal um die eigene Achse, stützte sich keuchend auf und blickte im Spiegel in ein feistes, von einem eindringlichen Augenpaar bestimmtes Gesicht, über dessen Wangen Ströme von Schweiß und Tränen perlten. Einige Sekunden beäugte er sich ratlos, kam aber zu keinem Schluß und kühlte sich den Kopf unter laufendem Wasser. Er ertastete mit einer Hand den Abspülknopf und stützte sich am Türrahmen ab, als er auf den Gang zurücktaumelte. Von draußen klang eine Lautsprecherdurchsage, die er nicht verstand.

    Irgendwo außerhalb des engen Sichtkreises, den seine Augen klar zu fassen vermochten, leuchtete einladend ein signalroter Handgriff, einer von den vielen, die ihm auf seinem kurzen Weg an den Augen vorbeigehuscht waren. Er hielt sich daran fest, aber der Griff gab nach und der Mann stolperte im selben Moment nach hinten, wie ein gewaltiges Ächzen den Zug durchfuhr. Das vorher gelinde elektrische Summen crescendierte binnen Sekunden zu einem ohrenbetäubenden Kreischen über die Maßen beanspruchten Materials. Im Becken neben der offenen Klotür schwappte es, auf dem Gang polterten zu Fall gekommene Gäste im Einklang mit einem jähen, vielstimmigen Aufstöhnen. Der Mann stieß einen Fluch aus und war schneller wieder auf den Beinen, als er nachdenken konnte.

    Kaum war der für seine schier unüberbietbare sicherheitstechnische Redundanz gerühmte Zug bis auf Schritttempo abgebremst, hatte der Mann sich in dem Durcheinander bereits bis zum Ausstieg vorgerempelt und blickte unbehaglich mal auf den nahen Bahnsteig, mal die beiden Quergänge hoch, in der Hoffnung, er würde sich absetzen können, ehe man ihn als Anstifter dieses Chaos entlarvte. Jedenfalls beruhigte es ihn, dass er den Zug nicht auf freier Strecke angehalten hatte.

    Zweihundert Meter weiter drängten sich in sichtlicher Verblüffung Massen von Urlaubsreisenden an den Bahnsteig. Der Transrapid kroch noch einige Meter in die Bahnhofshalle hinein und hielt mit einem satten Seufzer.

    Die Wiedereinkehr der - mit leichten Abweichungen - normalen Umstände brachte eine Woge von Menschen und Gepäck zur Zugspitze hin ins Rollen. Ehe er reagieren konnte, hatte ein Keil von Menschenleibern den Mann von den Beinen gehoben und auf den Bahnsteig hinausgetragen, wo er sich, die Innereien von abebbender Übelkeit noch flau, die Augen glasig, in einem Durcheinander wiederfand, das ihn zumindest in der Hoffnung bestärkte, den sicherlich fieberhaft nach dem Auslöser der Notbremse fahndenden Zugbeamten entwischt zu sein. Er raffte seine Weste an sich, die ihm in dem Gedränge fast vom Leib gerissen worden war, und schlug sich irgendwie zur nächsten Wartebank durch, um Atem zu schöpfen. Mit welcher Absicht und mit welcher Identität er seine Reise auch immer angetreten hatte, nun war es Zeit, darüber nachzudenken, wie es weitergehen sollte.

    Ein Blick zur Anzeigetafel unter der Hallendecke klärte ihn darüber auf, wohin es ihn verschlagen hatte:

    DÜSSELDORF HAUPTBAHNHOF

    7. 7. 2005     16.32

    Transrapid-Transit

    Berlin - Aachen

    Der Mann kramte in seinen Kleidern nach einem Taschentuch, fand aber nichts und bekleckerte stattdessen seine Hände mit dem feuchten Matsch, der an seiner Hose klebte. Unwillig grunzend stand er auf und ließ sich von der nächstbesten Rolltreppe eine Etage tiefer befördern.

    In der Schalterhalle herrschte ohrenbetäubender Lärm, durch den von irgendwoher entnervende Musik drang, irgendein monotoner, von Synthesizern und stur losdreschenden Digitaldrums dominierter Nova-Wave-Popsong, dessen Interpretin sich mit den wenigen Textzeilen eher wie ein geprügelter Hund als eine professionelle Sängerin abquälte. Der Mann wusste nicht, wie oft er das Stück schon gehört hatte, aber es war kein Zweifel, dass ihm das Geschrei nicht zum ersten Mal durch Mark und Knochen ging. Während er sich nach einer Toilette umschaute, hörte er aufmerksam zu. Es mochte ein bestürzendes Déjà-vu-Erlebnis sein, aber es war immerhin ein Hinweis:

    »The disbelievers's fall

    will strengthen His guide.

    The defamers and betrayers

    shall pay their last dues.

    Cross the blood groove now.

    We're hunting your soul:

    No salvation without us,

    the heretic's a fool.«

    Cross the blood groove now. Er summte unwillkürlich mit, als er sich an einem Stand vorbeidrängte, an dem ein Händler Soul Food verkaufte.... the blood groove. Blutrinne? Was zum Teufel soll das bedeuten? Er reihte sich in die Schlange ein, die sich vor den Gehschranken zur Bedürfnisanstalt gebildet hatte, und bekam ungeduldige Knüffe zu spüren, wenn er übers Nachgrübeln das Weitergehen vergaß.... the blood groove... Cross the blood groove now.

    An der Gehschranke verursachte er einen Stau von zwei Dutzend Notdürftigen, als er seine Taschen eine Minute nach einem Fünfziger durchwühlte und dann zu allem Übel noch warten musste, bis ihm der arg überlastete Automat ein Päckchen mit Seife, Handtuch, Hair-Styling-Creme und Anti-Aids-Kondomen in die Hände warf und den Weg freigab. Rechterhand tauchte neben ihm eine übermannshohe, neonblau beleuchtete Spiegelglaswand auf, die ihm zum ersten Mal mit erschreckender Klarheit seine mitgenommene Erscheinung offenbarte. Er war deutlich untersetzt, mochte gut fünfzig Jahre alt sein und trug eine - jedenfalls in frischgewaschenem Zustand - ansehnliche Kombination aus einer grauen Weste und einer weitgeschnittenen Hose. Das Ganze war jetzt allerdings zerknittert und verschmutzt. Das rote Satin-Hemd stand bis zum Bauchnabel offen und zeigte eine breite, behaarte Brust. Er fühlte sich widerwärtig.

    Wollte er nicht nachzahlen, blieben ihm jetzt zehn Minuten Zeit, um sich in diesem für Normalbenutzer geradezu päpstlichen Abort wieder einigermaßen in Form zu bringen. Er schloss sich in eine der Kabinen ein und legte behutsam seine Oberkleidung ab. In den Hosentaschen fand er in diversen Scheinen und Münzen achtzig Mark Bargeld und einen auf den Zielort Düsseldorf ausgestellten Fahrschein, auf dem jemand den Namen des Abfahrtsorts weggekratzt hatte. Bis auf die Feststellung, dass sein Dress ziemlich kostspielig gewesen sein musste, er also zumindest kein vollends mittelloser Schlucker sein konnte, war dies der einzig greifbare Anhaltspunkt. Es war so gut wie nichts.

    Mit dem feuchten Handtuch tupfte er den gröbsten Dreck von seiner Hose, seifte sich den Oberkörper ab und ließ auf dem Klosett sitzend Arme und Bierbauch hängen, um die verbleibenden drei Minuten nach bestem Vermögen in sich hineinzuhorchen. Wer bin ich? dachte er. Was habe ich hier zu schaffen?

    In seinem Innern rotierte verhalten ein Strudel von Gedankenfetzen, in dem offenbar nur einem Wort eine herausragende Bedeutung zukam: the blood groove. Die Blutrinne. Er sah vor seinem geistigen Auge schmale, blaurote Lippen, die dieses Wort flüsterten, und ein von fettigen schwarzen Haaren gerahmtes Gesicht. Er erinnerte sich an das Mädchen im Zug, die Defensor-Dei- Konfektion, und dabei wurde ihm klar, dass sich einiges überstürzt hatte. Hätte er seine Ahnung im ersten Moment wichtiger genommen, wäre ihm vielleicht Gelegenheit geblieben, die junge Frau persönlich darauf anzusprechen, ob ihn etwas mit ihr verband. Und was blieb jetzt?

    Da war noch etwas außer diesem unsäglichen Nova-Wave-Popsong, irgendein Detail, das in sein Unterbewusstsein gedrungen sein musste, als er vorhin die Augen aufgeschlagen hatte. Das aufdringliche Piezo-Signal am Ende der Benutzungsdauer reichte fast aus, um ihn diese Ahnung verlieren zu lassen. Aber als er auf- stand und ungelenk seine Kombination wieder anlegte, war er sich ganz sicher. Es schien sich um dieses Taschenbuch zu handeln. Er erinnerte sich an den Titel, ein Shakespeare-Zitat: DIE ZEIT IST AUS DEN FUGEN. Der Name des Autors kam ihm erst draußen in den Sinn. Konstantin Bohlen. Bohlen...?

    Dankenswerterweise erfreute sich die rege Betriebsamkeit inzwischen einer zurückhaltenderen Untermalung. Durch die Rolltreppenschächte drang das Singen eintreffender Transrapids herunter. Vocodierte Lautsprecherdurchsagen, piepsende Ticketautomaten und die Sounds umherzockelnder Gepäckträgerbuggys kontrapunktierten ein atemloses Stimmengewirr. In den Selbstbedienungsrestaurants, Nova-Snack-Verzehrstuben und Automatengaststätten beiderseits war kaum ein Stehplatz frei. Modebewusste mit den bizarrsten Outfits liefen sich zu den Klängen eines gefälligen Muzak-Tonarrangements aus Streichern und Mädchenstimmen kreuz und quer über den Weg. Vor den Augen des Mannes verschwamm die Masse zu einem buntgefleckten Einerlei.

    In der geräumigen Vorhalle machte die merkantil übersättigte Kulisse einer milderen Stimmung Platz. Wo das Gewimmel sich lichtete, hielt der Mann sekundenlang inne, holte tief Atem und knautschte mit beiden Händen seine Bauchfalten. Dieser Name wollte ihm nicht aus dem Sinn. Konstantin Bohlen. DIE ZEIT IST AUS DEN FUGEN. Ich muss das wissen, dachte er. Ich habe schon einmal davon gehört. Wann war das? Wo war das?

    Einem ungewissen Antrieb folgend betrat er schräg gegenüber dem Haupteingang eine Buchhandlung, die sich hinter mannshohen Palmen und Hydrokulturarrangements halb verbarg. In dem

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