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ARACHNE: Science-Fiction-Erzählungen
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eBook516 Seiten7 Stunden

ARACHNE: Science-Fiction-Erzählungen

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Über dieses E-Book

»Als Philip K. erwachte, stellte er fest, dass er über Nacht aus einem verhältnismäßig wohlgeformten, bilateral-symmetrischen menschlichen Wesen zu... einem runden, gliedlosen Planetenkörper geworden war, der einen gigantischen, dunstig-roten Stern umkreiste. Tatsächlich folgerte Philip K. aus dem simplen Gefühl, aus der totalen Aura, die sich in die Samenkörner seines Bewusstseins projizierte, dass er eine Tomate war. Eine Tomate, die hinsichtlich ihrer Dimension und Masse etwa dem Planeten Mars entsprechen mochte. Das war es, ohne Zweifel: eine Treibhaustomate.«

Das Erscheinen Michael Bishops hat in der internationalen Science-Fiction-Szene beträchtliches Aufsehen erregt - dies nicht zuletzt deswegen, weil sich seine atmosphärisch dichten und stilistisch ausgefeilten Erzählungen eher der modernen amerikanischen Literatur zurechnen lassen als dem, was man gemeinhin von der Science Fiction erwartet. Obwohl man ihn vornehmlich als Verfasser einer stark soziologisch orientierten Science Fiction apostrophiert, zeigen die in diesem Band versammelten Erzählungen, zu welcher Ausdrucksstärke und Farbigkeit dieser Autor fähig ist. Bishop ist ein Ideenmann und Stilist, sein Werk ist von einer grundlegenden Menschlichkeit, auch wenn seine Charaktere uns unmenschlich erscheinen mögen oder - mitunter – gar Maschinen sind.

Arachne enthält die besten Kurzgeschichten und Novellen des Autors. Mehrere der hier vorgelegten Texte wurden für den Hugo-und den Nebula-Award nominiert.

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum7. März 2018
ISBN9783743859050
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    Buchvorschau

    ARACHNE - Michael Bishop

    Das Buch

    »Als Philip K. erwachte, stellte er fest, dass er über Nacht aus einem verhältnismäßig wohlgeformten, bilateral-symmetrischen menschlichen Wesen zu... einem runden, gliedlosen Planetenkörper geworden war, der einen gigantischen, dunstig-roten Stern umkreiste. Tatsächlich folgerte Philip K. aus dem simplen Gefühl, aus der totalen Aura, die sich in die Samenkörner seines Bewusstseins projizierte, dass er eine Tomate war. Eine Tomate, die hinsichtlich ihrer Dimension und Masse etwa dem Planeten Mars entsprechen mochte. Das war es, ohne Zweifel: eine Treibhaustomate.«

    Das Erscheinen Michael Bishops hat in der internationalen Science-Fiction-Szene beträchtliches Aufsehen erregt - dies nicht zuletzt deswegen, weil sich seine atmosphärisch dichten und stilistisch ausgefeilten Erzählungen eher der modernen amerikanischen Literatur zurechnen lassen als dem, was man gemeinhin von der Science Fiction erwartet. Obwohl man ihn vornehmlich als Verfasser einer stark soziologisch orientierten Science Fiction apostrophiert, zeigen die in diesem Band versammelten Erzählungen, zu welcher Ausdrucksstärke und Farbigkeit dieser Autor fähig ist. Bishop ist ein Ideenmann und Stilist, sein Werk ist von einer grundlegenden Menschlichkeit, auch wenn seine Charaktere uns unmenschlich erscheinen mögen oder - mitunter – gar Maschinen sind.

    Arachne enthält die besten Kurzgeschichten und Novellen des Autors. Mehrere der hier vorgelegten Texte wurden für den Hugo-und den Nebula-Award nominiert.

    Der Autor

    Michael Bishop, Jahrgang 1945.

    Michael Lawson Bishop ist ein US-amerikanischer Schriftsteller, der in erster Linie Science-Fiction-Literatur schreibt. Sein Werk gilt als »Gesamtwerk, das zu den bewundertsten und einflussreichsten in der modernen Science-Fiction- und Fantasy-Literatur zählt.« (Brett/Duncan: Crossroads: Tales of the Southern Literary Fantastic, 2004).

    Überdies besitzt Michael Bishop einen Master-Abschluss in Englisch der University of Georgia und unterrichtete an verschiedenen Schulen und Universitäten (u.a. von 1968 bis 1972 an der United States Air Force Academy Preparatory School in Colorado Springs).

    Bishop veröffentlichte 1970 seine erste Kurzgeschichte Piñon Fall, sein erster Roman, A Funeral for the Eyes of Fire,  folgte 1975. Zahlreiche Erzählungen und Romane Bishops wurden für diverse Science-Fiction-Preise nominiert. Ausgezeichnet wurde er viermal mit dem Locus-Award und zweimal mit dem Nebula-Award (1981 für die Erzählung The Quickening, 1982 für den Roman No Enemy But Time, der in Deutschland 1987 unter dem Titel Nur die Zeit zum Feind erschien). In Nur die Zeit zum Feind, welches als eines seiner bekanntesten Werke gilt, geht es um die Zeitreise zur Wiege der Menschheit ins pleistozäne Afrika. Der Roman besticht durch seine Charakterzeichnungen und den komplexen Aufbau und verzichtet auf einen technischen Erklärungsversuch der Zeitreise.

    Darüber hinaus war er mehrfach für den Hugo-Award nominiert, und im Juli 2009 wurde er für die Erzählung The Pile mit dem Shirley Jackson-Award ausgezeichnet.

    In deutscher Sprache erschienen von Michael Bishop u.a. die Romane Die seltsamen Bäume von Ectaban (1978,  engl.: And Strange at Ecbatan the Trees, 1976), Transfigurationen (1988, engl.: Transfigurations, 1979), Die Alpträume der Stevie Crye (1991, engl.:  Who Made Stevie Crye?, 1984), Dieser Mann ist leider tot (1991, engl.: Philip K. Dick Is Dead, Alas, 1987) und Graph Geigers Blues (1999, engl.: Count Geiger's Blues, 1992). Als herausragend gilt seine Story-Sammlung Blooded On Arachne (1982), die im Jahre 1986 in zwei Bänden – unter den Titeln Arachne und Raumfahrer und Sternzigeuner – in Deutschland veröffentlicht wurde.

    Sein Sohn, Christopher James Bishop, gestaltete mehrere Umschlagsbilder der Bücher seines Vaters. Er starb am 16. April 2007 beim Amoklauf an der Virginia Tech in Blacksburg. Er war dort als IT-Berater und Deutschlehrer tätig.

    Vorwort

    Ich schreibe und verkaufe nun seit fast elf Jahren Stories, die entweder als Science Fiction oder Fantasy (oder als beides zusammen) auf den Markt gebracht werden, und so bin ich froh, dass Arkham House diese Ausgabe meiner ersten Sammlung herausbringt. Arachne enthält elf Stories, die allesamt mit erkennbaren Attributen der Science Fiction ausgestattet sind. Die früheste der Geschichten ist Besuch, die neueste Glaubenssprünge, und wie diese beiden sich in Ansatz und Betonung unterscheiden, spricht für sich. Ein weiterer Band, den Arkham herausgeben wird, soll Material enthalten, das die Grenze zwischen Phantasie und Realität absichtlich verwischt. Hier aber liegt die Betonung auf der Greifbarkeit beunruhigender Zukunftswelten, auf den fremdartigen Landschaften, den seltsamen Wesen und den gelegentlich völlig neuartigen Konflikten, die mir in den Sinn kamen.

    Der britische Autor Ian Watson hat mich einen Exotizisten genannt, und ich selbst habe über die Bedeutung des »lokalen touch« anderer Welten in den Arbeiten von Science-Fiction- und Fantasy-Autoren geschrieben. Wenn Sie also in diesen exotischen Welten nicht leben können, wenn Sie sie nicht als lebendige, wenngleich unirdische Spezies der Realität erfahren, dann ist es mir nicht gelungen, meine Absicht zu verwirklichen. Ich weiß natürlich, dass manche Leute sich dieser Art von Literatur widersetzen, weil sie ungeniert das Unwirkliche, das Nie-Gewesene und das Noch-Nicht-Gewesene, das Spekulative und das ganz und gar Unwahrscheinliche umschließt - aber das Bestreben von Schriftstellern wie Poe, Wells, Bradbury and Le Guin ist es, die Rechtmäßigkeit ihrer Welten mit der Kraft ihrer idiosynkratischen Visionen und dem Recht ihres jeweils charakteristischen Prosastils zu etablieren. Und so habe ich bei meinen Stories solche Schriftsteller oft als Vorbilder vor Augen gehabt, als Pfadfinder in der terra incognita der Vorstellungskraft, aber ich habe auch selbst versucht, ein paar ungewöhnliche Pfade auszutreten und mit bunten Flaggen zu markieren. Es ist nicht an mir, nun zu vermuten, wie gut mir das gelungen sein mag - und wie oft ich gescheitert bin, möchte ich hier nicht eingehend erörtern.

    Ein paar allgemeine Bemerkungen zu den Geschichten:

    Arachne schrieb ich, als ich in einem kleinen, zugigen Haus in Athens, Georgia, lebte. Die zentrale Idee - bewusstseinsbegabte Spinnen, die in majestätischen Wolken von Seide über eine raue Sandsteinlandschaft schweben - ist vielleicht als wunscherfüllende Phantasie entstanden. Weil ich als Englischlehrer für Erstsemester an der Universität Georgia arbeitete, empfand ich Bewusstsein in jeglicher Gestalt als attraktiv, und meine Familie und ich pflegten ausgedehnte, Verstand erhaltende Autofahrten durch das Land zu unternehmen. Dies war vor dem traumatischen Einbruch der Energiekrise.

    Odyssee auf Cathadonia datiert aus derselben Periode. Die exotische Landschaft, die unerschrockene Heldin und die Abhängigkeit der Geschichte von so ehrwürdigen SF-Ideen wie gestrandeten Raumfahrern, geheimnisvollen Aliens und Telekinese - nun, dies sind Schnörkel, die mir gelegentlich immer noch gefallen. Kurz zuvor hatte ich flüchtig ein Buch mit dem Titel Psychische Entdeckungen hinter dem Eisernen Vorhang gelesen, denn damals glaubte ich, ein hoffnungsvoller SF-Autor sollte über solche Dinge Bescheid wissen.

    Damon Knight weigerte sich, die Originalversion von Abbilder in seiner Anthologie-Reihe Orbit zu verwenden, aber die Vorstellung, Leute aus Samenkörnern zu züchten, empfand er als durchaus reizvoll und nannte sie spooky. Kadmos, der Gründer Thebens, hat der Sage nach eine Armee hirnloser Krieger aus Drachenzähnen gezüchtet, aber ich glaube nicht, dass ich den Anstoß für Abbilder aus der Klassik bekommen habe. Um die Zeit, in der ich die Geschichte schrieb, hatte ich ausgiebig im Garten gearbeitet, und die vage erotischen Konturen meiner Kürbis- und Okra-Hügel haben mich vielleicht dazu verleitet, eine Metapher zu ersinnen, die menschliche und pflanzliche Zeugungskraft miteinander verband. (Vielleicht auch nicht.) Ein paar Leute haben sich über die Trostlosigkeit der Geschichte beklagt, aber meine gärtnerischen Bemühungen waren schließlich auch nicht sonderlich erfolgreich.

    Das Haus der Mitfühlenden Teiler ist noch eine Geschichte, die Damon Knight in einer aufgeblasenen frühen Version zu Gesicht bekam. (Gesegnet sei dieser Mann. Jahre nach diesen ärgerlichen Ablehnungen fange ich allmählich an zu ahnen, wie er unter meinen Werken gelitten haben muss.) Ich schrieb die Geschichte später vollständig neu, kürzte sie um fast ein Drittel und legte sie Damon noch einmal vor, diesmal überschrieben mit einem Epigramm aus seiner hervorragenden Story Masks aus dem Jahre 1968. Aus unbestreitbar guten Gründen - und ich bin nicht kokett - lehnte er auch diese Fassung ab, und später erschien sie dann als Hauptstory in der ersten Ausgabe des leider sehr kurzlebigen Magazins Cosmos, das David G. Hartwell herausgab. Kurz darauf erwarben Terry Carr, Gardner Dozois und Donald A. Wollheim für ihre jeweiligen Jahresbest-Anthologien die Nachdruckrechte. Mein erster - und bislang einziger Hattrick.

    Thomas M. Disch und Charles Naylor gaben den Anstoß zu Die Bewohner von Chinistrex Fortonza sind Maschinen. Die beiden stellten eine Anthologie von Originalstories zusammen, die auf pfiffigen Neubearbeitungen von Mythen, Legenden und Märchen (alten und zeitgenössischen) basieren sollte, und mein Ausgangspunkt war Die Nachtigall von Hans Christian Andersen. Andersens Version beginnt: »In China, weißt du ja wohl, ist der Kaiser ein Chinese, und alle, die er um sich hat, sind Chinesen.« Der Zauber des ursprünglichen Märchens liegt in seiner Einfachheit, während der Hauptmangel meiner weit in die Zukunft verlegten Bearbeitung, wie Richard Delap einmal mit Recht bemerkt hat, die infernalische Geschäftigkeit ist. Dennoch bin ich Narr genug, zu glauben, dass ein zweiter Blick (ich weiß, ich weiß) sich für den geduldigen Leser durchaus lohnen mag: »Zizizi, klick, re-scan.«

    Glaubenssprünge ist vermutlich eine der wenigen ernsthaften SF-Geschichten - wenn nicht überhaupt die einzige - über Flöhe. Meine, ähem, harten wissenschaftlichen Informationen stammen aus einem Artikel mit dem Titel Der fliegende Sprung der Flöhe, der im Scientific American erschienen ist. Für die Ereignisse, die die Erzählung strukturieren, gab es indessen ein paar merkwürdige, ja, verblüffende Parallelen in meiner eigenen Erfahrung. 1977 empfahl Ursula K. Le Guin Glaubenssprünge für den Nebula Award in der Kategorie der Short Stories, aber mit Ausnahme von Edward L. Ferman von Fantasy and Science Fiction, der sie als erster veröffentlichte, scheint niemand diese abseitige kleine Erzählung zur Kenntnis genommen zu haben.

    Noch immer bin ich David Gerrold dafür dankbar, dass er Auf der Straße der Schlangen für seine Anthologie Science Fiction Emphasis gekauft hat, als ich noch ein sehr neuer, sehr unsicherer junger Autor war. Seine Begeisterung über diese Arbeit und später dann seine und Betty Ballantines gemeinschaftliche Ermunterung haben mich dazu gebracht, meinen ersten Roman zu schreiben. Obgleich Schlangen keineswegs jedem gefällt, bin ich doch stolz, sie geschrieben zu haben. Mich erinnert sie an mein letztes Jahr auf der High School in Sevilla in Spanien, an die Geburt meines ersten Kindes, an meine ambivalenten Empfindungen über die Tatsache, dass ich während der finsteren Tage in der Mitte des Vietnamkrieges Englischunterricht für Kandidaten der Air Force Academy gab, und sie erinnert mich auch an meine Zweifel an die Fähigkeit, als Schriftsteller zu überleben.

    Besuch war das erste Prosastück, das ich verkaufte. (Davor hatte ich schon einmal ein Gedicht, stilistisch und thematisch deutlich an Keats erinnernd, bei der Georgia Review untergebracht.) Ejler Jakobsson von Galaxy kaufte es im Frühjahr 1970 für einen Hunderter. Nicht lange nach der Veröffentlichung erschien in If,  Galaxys Schwestermagazin, eine enthusiastische Reaktion von Mrs. Charles E. Willies aus Albany, Georgia: »Das sanfte und doch eindringliche Thema dieser Geschichte blieb mir noch lange nach dem Lesen im Kopf - eine durchaus ungewöhnliche Erfahrung. Der Autor zeigt eine Empfindsamkeit im Ausdruck und ein Talent für originelle Schilderungen, wie man es nicht häufig findet... Ich hoffe, ich werde bald mehr von Mr. Bishop lesen können.« Wahrscheinlich wollte sie einen Brief von mir. Mrs. Charles E. Willis aus Albany, Georgia, ist meine Mutter.

    Als Tomate im Weltraum, ein Finalist im Wettbewerb um den Hugo Award des Jahres 1976, verdient weder Exegese noch Verteidigung. Es ist ein schamloses Stück. Ich liebe es.

    In einem Begleitschreiben an Ed Ferman beschrieb ich Raumfahrer und Sternzigeuner, als eine »Parabel über den Konflikt zwischen Technologie und Kunst« (ich war fünfundzwanzig), und auf diese großmäulige Charakterisierung antwortete Ed: »Ich will keine Parabeln, ich will Geschichten.« Aber er hat sie trotzdem gekauft. Die Astronauten in der Geschichte entführten meine Phantasie mit Hilfe der TV-Berichterstattung über die Apollo-Mondflüge, während meine osteuropäischen Vagabunden mich mittels eines magischen Gemäldes von Henri Rousseau, Schlafende Zigeunerin, in Schach hielten. Rückschauend sehe ich jetzt, dass es nicht so sehr um einen Konflikt zwischen Technologie und Kunst ging - zwischen diesen beiden muss es schließlich gar keinen Konflikt geben -, sondern um den zwischen dem kühlen Schwarz-Weiß in unserem beliebtesten elektronischen Medium und der frischen Technicolor-Palette eines exzentrischen französischen Primitiven. Ich bin nicht anti-astronautisch, sondern bloß pro-polychrom.

    Die weißen Otter der Kindheit schrieb ich, bevor Peter Benchleys überaus erfolgreicher Roman Jaws oder Edward Bryants mäßig bekannte Geschichte Shark erschien. Meine Frau - die anscheinend glaubt, wenn man mich nur ließe, würde ich A. A. Milnes Kinderklassiker so umschreiben, dass Pu der Bär sich versehentlich vergiftet und Ferkel, vom Gram gebeugt, Selbstmord begeht - meine Frau also mag diese Geschichte; von allem, was  ich geschrieben habe, kommt sie totalem Melodram wohl am nächsten. Nun, sie gehört auch weiterhin zu meinen Favoriten. Beeinflusst wurde sie unter anderem von vier der fünf Autoren, deren Namen unter den Epigrammen der Geschichte erscheinen. Darüber hinaus stammt die Idee des Dichter-Protagonisten wahrscheinlich aus Roger Zelaznys Die 2224 Tänze des Locar, die ich zuerst in einer von Judith Merrils bahnbrechenden Jahresanthologien gelesen hatte. Die weißen Otter und eine weitere lange Geschichte von mir gelangten 1974 in der Novellen-Kategorie ins Finale im Wettbewerb um den Hugo und den Nebula Award, aber gewonnen hat keine von ihnen. Ich tröstete mich damit, indem ich mir ein Bowlinghemd kaufte.

    Die Geschichten folgen, und ich ziehe mich jetzt besser zurück, damit Sie sie lesen können.

    - Michael Bishop

    Arachne

    (Blooded on Arachne)

    Ethan Dedicos stand mit den anderen Passagieren der Morgenritus vor dem Drehkreuz in dem saphirhellen Depot. Draußen wehte der Wind, und die Welt erstreckte sich bis zum Horizont. Das Depot hallte wider vom Lärm der Leute, und dann war er an der Reihe.

    »Ich bin hier, um geblutet zu werden«, sagte er zu dem Mann am Drehkreuz. Wegen des Getöses musste er seinen Satz gleich wiederholen, schreiend.

    »Geh zum Wej S'al«, sagte der Kontrolleur mit seinem häutigen Gesicht.

    Ethan blickte sich um: Körper, polarisiertes Glas, eine Reihe von Plastikkuppeln, dahinter roter Sandstein, eine nadelkopfgroße, gleißende Sonne. »Ich weiß nichts...«

    »Da, bei dem Laufband. Der da, mein Junge. Der Weise Alte mit der Spinnenkrone. Nun geh schon, Ethan Dedicos. Du hältst uns auf.«

    Er ging durch das Drehkreuz. Körper drängten sich hinter ihm her, zornige Ellbogen, laut blitzende Zähne. Hände stießen nach ihm, Hände schoben ihn hierhin und dorthin. Am Laufband stand der Wej S'al, ein Mann, der vielleicht alt war; seine Haut hatte die Farbe von Burgunderwein, und braune, sackähnliche Kleider verschlangen ihn fast. Die Spinnenkrone war aus blauem Metall gemacht, und die Spitzen ihrer acht Beine schienen sich in den schmalen Schädel des Weisen Alten zu bohren.

    »Ich bin Ethan Dedicos«, sagte der Junge. »Ich bin hier, um geblutet zu werden.«

    »Wer schickt dich, Ethan?«

    »Die Kriegswaffe. Ich soll ein Sternenträger werden, ein Offizier der Waffe. Bist du nicht deshalb hier, Wej S'al? Bist du nicht gekommen, um mich zu empfangen?«

    »Ich kenne dich, Ethan Dedicos. Aber ich muss wissen, ob du weißt, was du willst. Jetzt kannst du mit mir kommen.«

    Der Weise Alte drehte sich um, ohne das Gedränge im Scarlet Sky Depot zu beachten, und manövrierte sich gewandt auf das Laufband. Für wie alt, so fragte sich der Junge, für wie alt hält der Wej S'al mich? Er folgte dem burgunderroten Mann.

    »Kannst du mir deinen Namen sagen?«, brüllte er.

    »Integer Swain, Spross des Lehrsam Kunstbar«, antwortete der vielleicht-alte Mann und packte Ethans Arm. Der Name war eine Genealogie, nicht bloß eine beschreibende Bezeichnung. Lehrsam Kunstbar war der Vater dieses Weisen Alten gewesen, und sein Volk lebte in den Salzgärten am Rande der trostlosen Meeresgrundebenen von Arachne. Hierher kam man, wenn man geblutet werden sollte, und mehr wusste man nicht, bis man vom Wej S'al mehr erfuhr. »Wej, bloß Wej - so nennen mich die Draußleute, mein Junge.«

    Dann hatten sie das Scarlet Sky Depot hinter sich gelassen und befanden sich auf der abfallenden Treppe, die in das Talbecken hinunterführte, in dem Port Eggerton lag: weiße Larven, die sich plastisch an den roten Sandstein schmiegten. Andere Leute begaben sich rasch zu Luftröhren, die zum Verwaltungskomplex hinunterführten.

    Der Wind wehte. Die Nadelkopfsonne wirbelte glitzerndes Licht über den Himmel, und selbst hier noch machte der Lärm einer Welt, die unaufhörlich verwitterte und sich neugestaltete, jede Unterhaltung unmöglich. Benommen legte Ethan den Arm vor die Augen, um sich zu schützen vor dem fliegenden Sand, dem sengenden Licht und der Angst, zu fallen.

    »Wej!«, schrie er. »Wej! Die Rohre! Können wir nicht durch die Rohre nach unten fahren?«

    »Wir gehen nicht nach Port Eggerton hinein, mein Lammauge.«

    »Aber ich muss mich bei der Kriegswaffe melden!«

    »Du meldest dich hinterher!«

    Und der vielleicht-alte Bluter der Knaben führte ihn fort von den Fallrohr-Terminals, weg von der steilen Treppe und über ein sich weit ausdehnendes Plateau. Sie kämpften sich gegen den Wind zu einem Felskamin hinter dem Scarlet Sky Depot, das jetzt wie eine schimmernde Blase-in-einer-Blase-in-einer-Blase hinter ihnen lag, und hier stiegen sie durch den weiten, zerklüfteten Kamin hinunter in die Stille.

    Auf einem Felsensims hielten sie inne, und Ethan Dedicos sah nichts als dunkelrotes Felsgestein ringsumher, über sich vielleicht den Himmel, unten facettenreiche Klippen, die aus bodenlosem Nichts heraufragten. In dem weiten Felskamin bebte er mit einer Ruhe so seltsam wie ein schläfriger Rausch.

    »Was tun wir?«

    »Wir warten, Ethan Dedicos.«

    »Warum warten wir hier, Wej?«

    »Weil wir abgeholt werden, und weil du kein Freundgesicht sehen sollst, ehe du geblutet bist. Du sollst auch nicht an die Erde denken, oder an Reisen mit dem Sondenschiff. Jetzt sorgen wir, mein Volk in den Salzgärten.«

    »Und das Bluten - was muss ich tun?«

    »Überleben natürlich.« Der Weise Alte kicherte. »Wir spielen alte Spiele auf Arachne.«

    Und der vielleicht-alte Bluter der Knaben kauerte sich auf dem Felsensims nieder, so dass sich seine braunen Gewänder aufblähten, und seine burgunterroten Hände hingen über seine Knie wie die Kadaver von gehäuteten Kaninchen. Er hörte auf zu reden, und die Dunkelheit stieg an den zerklüfteten Klippen herauf. Ethan lehnte sich an die kalte Felswand, betrachtete Wejs Spinnenkrone und wartete.

    Und sein Alleinsein ließ ihn erstarren.

    Auf der anderen Seite des Plateaus, unten in dem roten Talbecken, waren Leute wie er. Nicht bloß vom Winde verbrannte Weise Alte, nicht bloß die Verheißung schrulliger Spinnhirten, hochmütig in ihren Gärten aus Salz und Sandstein.

    Ungeduld brannte in Ethan Dedicos wie eine verborgene Zündschnur.

    Dann stieg aus den Tiefen des Felskamins eine goldene Kugel zu ihnen herauf, umgeben von einem rotierenden, orangerot leuchtenden Ring. Von diesem Ring ging ein Summen aus, das musikalischer war als ein Sirenengesang. Der ganze Canyon leuchtete, als die Kugel emporstieg.

    »Wej!«

    »Das Nukleoskaph aus Gartenheim. Es holt uns ab.«

    »Ein solches Fahrzeug! Ich hatte nicht gedacht...«

    »Die Spinnhirten von Gartenheim sind keine Barbaren, Ungebluteter.«

    Summend verharrte das Nukleoskaph neben ihnen. Der strahlend gelbe Ring glitt aufwärts und schwebte wie ein Halo über der Kugel und nicht mehr wie ein Gürtel um ihre Mitte. Eine Luke erschien, und eine Rampe schob sich wie eine silberne Zunge auf sie zu. Der Wej S'al begab sich an Bord des Nukleoskaphs, ohne sich um den Abgrund zu kümmern, der unter dem Laufsteg gähnte. Zögernd folgte ihm Ethan Dedicos, den Blick auf die Dunkelheit im Innern der summenden Kugel geheftet.

    Dann war er drinnen, und die heulende Rauheit Arachnes erschien plötzlich Lichtjahre weit entfernt. Neben dem vielleicht-alten Bluter der Knaben sank er in einen tiefen Ledersessel, der die Farbe mediterraner Weintrauben hatte. Der Sessel drehte sich, aber an den runden Wänden des Nukleoskaphs gab es außer seidenen Draperien nichts zu sehen. Direkt über ihren Köpfen war ein stilisiertes Emblem angebracht, das eine von oben betrachtete Spinne darstellte.

    Als der Laufsteg sich zurückgezogen hatte und die Luke geschlossen war, konnten der Mann und der Junge nicht mehr hinausschauen. Allein - in einem gigantischen Atom.

    Kurz darauf setzten sie sich in Bewegung. Eine unirdische Musik dröhnte in ihren Ohren.

    »Wej, das ist ein wunderbares Ding, dieses Fahrzeug. Hättest du es nicht zum Scarlet Sky Depot kommen lassen können? Musste ich erst über hundert Felsblöcke in die Tiefe klettern, um eine Fahrgelegenheit nach Gartenheim zu bekommen?«

    »Das Nukleoskaph gehört den Spinnhirten, nicht deinen Draußleuten drüben in Port Eggerton. Ein Geschenk von Glaktik Komm und der Kriegswaffe, aus alter Zeit. Du kletterst nicht gern, wie?«

    Ethan fragte: »Bringt es uns nach Gartenheim?«

    »In die Nähe, in die Nähe. Einige letzte Kilometer werden wir zu Fuß geben müssen; wir müssen die Klippen hinuntersteigen, die es umgeben.« Wej S'al lachte. »Aber nur, weil ich gern klettere, laufe, wandere. Und deine Füße, Lammauge? Wie wird es ihnen ergehen?«

    Ethan schwieg.

    Schon nach wenigen Minuten, so schien es, hielt das Nukleoskaph an. Es schwebte wahnwitzig summend in der Luft und fuhr seine Rampe aus, damit der vielleicht-alte Mann und der Knabe aussteigen konnten. Die beiden traten hinaus in Nacht und Kälte und standen auf einem brutalen Felsensims. Hinter ihnen schloss sich das Nukleoskaph und versank golden schimmernd im Abgrund; es verschwand wie eine Münze in einem Wasserbecken. Oben am Himmel glitzerten spöttisch die Sterne.

    »Komm mit mir, Ethan Dedicos.«

    Über Felsvorsprünge und unebene Sandsteintreppen kämpften der Wej S'al und der Junge sich talwärts. Endlich erreichten sie eine Salzebene und ließen die steile Felswand hinter sich. Im Licht der Sterne, und wieder ungeheuerlich allein, wanderten sie über die leere, weiße Fläche. Sie wanderten die ganze Nacht hindurch. Als der Morgen die Yardangs zu röten begann, die endlich hier und da in der Wüste erschienen (groteske, plastisch geformte Felsblöcke, die aussahen wie die Werke eines wahnsinnigen Bildhauers), sichteten sie schließlich Gartenheim.

    »Da«, sagte Wej. »Züchtige deine Füße nur noch ein wenig mehr, mein Liebling Ethan.«

    Im zarten Licht des Morgens sah Ethan Dedicos die Salztürme, die den zentralen Tafelberg von Gartenheim umringten: Gartenheim, eine Ansammlung von gelben Syntheplan-Zelten, die sich in einer Mulde zwischen den ringsum aufragenden, weißen Säulen aneinanderschmiegten. Es waren vierzig oder fünfzig solcher Zelte, ausnahmslos recht groß. Die sie noch überragenden, ringsumher emporstrebenden Pfeiler waren von Arachnes Winden mit Löchern wie mit Arabesken überzogen worden. Es war eine Traumstadt, doch sie war grausam und real wie verwitterter Fels.

    »Wie könnt ihr hier draußen leben?«, fragte Ethan.

    »Nirgendwo anders wären wir lieber. Seit dreihundert Jahren gibt es Spinnhirten in Gartenheim. Im Anfang wurden sie von Glaktik Komm unterhalten, doch sie leben noch immer hier, wie unsere eigenen Arachniden. Und jedes Jahr sendet uns die Kriegswaffe fadenklammernde Neo-Sterner zum Bluten. Solche wie dich, Lammauge.«

    »Warum hat sich Glaktik Komm hier als Patron betätigt, Wej? In den alten Zeiten?«

    »Jemand muss sich um die Spinnen kümmern, sagten sie. Mussten sie fernhalten vom neuen Depot. Ihr Speichel enthält ein furchtbares Virus, das beinahe alle Arten lebender Zellen befallen kann, ein Virus, gegen welches die Arachniden selbst im Laufe der Evolution immun geworden sind. Wir sollten die Lauernden Witwen studieren, sagten sie, es sollte Leute geben, die sie beobachten und ihre Gifte vernichteten. Die ersten Wissenschaftler, die sie beobachteten, erfanden die Synkörper, die du in deinen Adern hast, Ethan Dedicos, auf dass dein Blut sternimmer und sternüberall leuchtend bleibe. Die Spinnhirten von Gartenheim sind die Kinder derer, die den Synkörper erschufen, die Kinder der Draußleute, die die Krankheit für alle Zeit vernichteten.«

    Inzwischen waren sie nahe genug gekommen, um zwischen den gelben Zelten Leute zu erkennen.

    »Warum müsst ihr jetzt noch hierbleiben?«, fragte Ethan. »Warum muss überhaupt jemand in dieser wütenden Wüste aus Salz bleiben?«

    »Um die Spinnelinge heimzurufen, mein Junge, um sie nach Gartenheim zurückzusingen, wenn sie auf ihre Ballonfahrt gegangen sind.«

    Ethan erinnerte sich verschwommen. »Geschieht das nicht nur einmal im Jahr?«

    »Das schon, aber wir lieben unsere langbeinigen Bestien. Sie sind gedankenhell wie du oder jede andere fadenklammernde Männerknospe in der Kriegswaffe. Wir bleiben, weil wir zu ihnen gehören, weil wir die Sprache der Spinnhirten und der Lauernden Witwen sprechen.«

    »Ihr redet mit ihnen? Und versteht, was sie sagen?«

    »Reden mit ihnen, gurren zu ihnen, singen unseren Spinnelingen den Heimruf von Gartenheim. Die Lauernden Witwen sind auch ein Volk, mein ungebluteter Dedicos.«

    Ethan schwieg. Sie mischten sich unter eine Schar burgunderroter Leute, die sich zwischen den Plastikgebäuden umherbewegten. Einige dieser Leute grüßten den Wej S'al wortlos, indem sie ihre Finger wie Spinnenbeine tanzen ließen. Die Sonne war jetzt vollends aufgegangen. Ihr seltsames Licht übersprühte Leute, Zelte und Steine gleichermaßen. Ethan fühlte sich verloren, allein den langen Schatten, die sich von den prächtigen Salzsäulen herniederkräuselten: lieblich, sinnlich, unheimlich.

    Vor einem Zelt blieben sie stehen. Die Plastikfassade öffnete sich ein Stück, und eine Frau, dunkler noch als die roten Weine aus Jerez, trat hinter der gelben Klappe hervor und stellte sich ihnen in den Weg.

    Der Junge sah, dass dies nicht eine vielleicht-alte Frau war. Dies war fleischgewordene Antike. Ihr Haar war rot und strähnig. Ihre Albinoaugen starrten aus einem karmesinbraun gefleckten Gesicht, über das die Zeit ein feines Netz von Runzeln gespannt hatte. Sie war in braune, sackartige Gewänder gehüllt. Eine Hexe, wirklich und wahrhaftig, dachte der Junge. Und die Hexe bog den Kopf nach oben, damit sie ihn aus ihrer gekrümmten Haltung sehen konnte.

    »Allo, N'tee Swain«, sagte sie zu dem Wej S'al. (Eine Stimme wie die hohen Töne einer äolektischen Flöte.) »Ist dies der Knabe, den du uns bringst, auf dass wir ihn zum Bluten aussetzen?«

    »Ethan Dedicos ist es«, antwortete Integer Swain, und dann fügte der Bluter der Knaben hinzu: »Dies ist die Furchthelferin der Witwe, Ethan. Umarme sie wohl.«

    Der Sternenträger-Neophyt umarmte sie. Zu seiner Überraschung strömte sie keinerlei Geruch aus, obgleich das Fleisch ihres Gesichtes sich dicht vor seiner Nase befand. Dann wich sie zurück. Albinoaugen in einer runzligen Maske verdrehten sich, um ihn anzuschauen.

    »Tritt ein, Ungebluteter. Frühstück für dich. Dann hinauf auf die Spitze von Gartenheim, um die Lauernden Witwen und ihre Kindschaft zu sehen.«

    Sie betraten das große Zelt und aßen Sandheuschrecken aus irdenen Schüsseln. Ethan bemerkte eine Vakuumpumpe in der Mitte des Zeltes - ein funkelnder Chrommechanismus, mit dem man Wasser aus den Tiefen einer Planetenkruste zutage fördern konnte. Seltsam, ein solches Gerät in den Händen dieses Semi- primi-Volkes zu finden. Die Furchthelferin der Witwen brachte ihm eine Schale mit Wasser, und ihre Flötenstimme hallte wider unter dem weiten Syntheplan-Zelt.

    »Es regnet niemals über Gartenheim, und auch nicht über den Ebenen des Meeresgrundes dahinter. Sterben würden wir Spinnhirten, wenn Glaktik Komm uns die Pumpe fortnähme.«

    »So ist es«, bestätigte Wej. »Die Lauernden Witwen und die Heuschrecken haben ihre eigenen Methoden, Wasser zu gewinnen, aber die Pumpe ist die unsrige. Blutet unsere Knaben, und behaltet unsere Pumpe, sagen sie.«

    »Und ihr esst nichts als Sandheuschrecken?«

    »Nein, nein«, antwortete die Furchthelferin. »Das wäre eine eintönige Kost. Nein, wir essen auch die ermordeten Gatten des Spinnenvolkes, Eiersäcke, Merkumolen vom Meeresgrund und unsere eigenen Toten, wenn der Tod sie denn ereilt.« Die Furchthelferin lachte in dünnem Falsett. »Mich wird man wohl bald verspeisen, denke ich.«

    Dedicos, der Ungeblutete, erkundigte sich nicht weiter nach der Nahrung der Spinnhirten.

    Sie traten hinaus in das gleißende Licht des heißen Morgens - die Furchthelferin, der Weise Alte und der Knabe. Gemächlich begaben sie sich über die Pfade zwischen den gelben Zelten zu einer natürlichen Treppe, die durch Schluchten aus Salz auf den Gipfel von Gartenheim führte. Von dort sah man wie von einem weiten, unebenen Dach auf die Ebene des Meeresgrundes hinaus, die man von der Stadt unten in der Mulde aus nicht sehen konnte, da die ringsum stehenden Säulen den Blick versperrten.

    Bevor sie aber das Dachplateau erreichten, blieben sie zu verschiedenen Malen an Talrändern stehen, die sich in das Felsgestein schnitten und in denen Spinnhirten über ihre Schützlinge wachten und den Lauernden Witwen aus gehorsamer Kehle ihre Lieder sangen.

    »Schau sie an mit deinen Lammaugen, mein Junge.« Wej streckte die Hand aus. »Dort unten wirst du das Volk sehen, das achtbeinig und geisterhaft in unseren Herzen wohnt.«

    Und so schaute er hinunter in ein fahles, grasloses Tal, und er sah einen burgunderfarbenen Knaben seines Alters, der im lieblichen Patois von Gartenheim für eine Schar gespenstischer, stelzenbeiniger Damen sein Lied sang. Fünfzig oder sechzig Lauernde Witwen - große, weiße Schönheiten, deren Leiber beinahe transparent waren - bewegten sich federnd durch das Tal, und der Spinnenhüter war mitten unter ihnen. Ethan wollte seinen Augen nicht trauen. Sie waren so groß wie Elefanten.

    Hin und wieder beugte der burgunderrote Knabe sich nieder, um das farblose Haar auf den Bäuchen seiner Damen zu streicheln, und gelegentlich blies er gar wollüstig über das windempfindliche Pelzhaar auf ihren Beinen. Wenn er dies tat, bäumten die Damen sich auf, schwenkten die Vorderbeine auf und ab, und ihre Kiefer öffneten sich - aber es war nicht Angst oder Ärger, was sie dazu veranlasste, sondern eher genussvolle Erregung. Der Gesang und der Atem des Knaben hatten eine fast sexuelle Wirkung auf sie, ohne indes zu jenem endlichen Resultat zu führen, mit dem sie sich ihrer Spinnengatten für alle Zeiten entledigten. Der Knabe wurde nicht gefressen.

    »Können sie seinen Gesang hören?«, fragte Ethan. »Ich dachte, Spinnen hätten kein Gehör.«

    »Auf Arachne«, erwiderte die Furchthelferin, »auf Arachne hören sie. Sie hören.«

    Ethan Dedicos war hypnotisiert von dem Schauspiel. Der Wind, der durch sein Haar fuhr, rief fruchtlose Regungen in seinen Lenden hervor. Und dann erblickte der burgunderfarbene Knabe in der Schlucht die drei, die auf ihn herabschauten, und er winkte ihnen mit seinen lockeren Fingern in der charakteristischen Gebärde der Spinnhirten zu.

    »Klagesang Hold«, sagte die Furchthelferin. »Ein meisterlicher Rührsänger.«

    Sie gingen weiter. Sie schauten hinunter in andere Täler, beobachteten andere Spinnhirten beim Rührgesang, sahen den stelzbeinigen Riesinnen beim Tanze zu. Und Ethan Dedicos fühlte die Hitze des Planeten in sich wie ein unerfülltes Verlangen.

    Dann hatten sie das Dachplateau von Gartenheim erklommen und schauten hinaus über die Ebene des Meeresgrundes, die sich endlos bis zum Horizont erstreckte. Und darüber hinaus, dachte Ethan. Ein heftiger Wind wehte hier, aber doch nicht so hart wie zuvor auf dem Plateau beim Scarlet Sky Depot. Man musste nicht schreien, um sich verständlich zu machen.

    »Morgentags setzen wir dich auf der Ebene aus«, sagte die Furchthelferin.

    »Was?« Ethan schaute auf ihr scharfes Profil hinunter.

    »Dort beginnt das Bluten, wie du weißt«, erklärte Wej. »Aber wir beginnen erst morgen.«

    »Was muss ich dort draußen tun?«

    »Zu uns zurückkommen, Süßling«, flötete die Furchthelferin der Witwen. »Zu uns zurückkommen mit Blut an den Händen - angetan mit der Haut des Erwachsenen.«

    »Allo, Baby Tranchlu!«, rief Wej plötzlich. Er winkte einem Mädchen von sieben oder acht Jahren zu, das eben auf dem Pfad an der anderen Seite des Tafelbergs erschienen war und jetzt über die vom Winde zernarbte Fläche auf sie zukam.

    Das Mädchen hatte ein breites, orientalisches Gesicht, das von einem zaghaften Malventon überhaucht war. Vor sich her trieb es eine Herde von Spinnelingen, die so farblos waren, dass es schien, als wären sie aus Glas. Ihre Größe betrug ein Drittel von der jener tänzelnden Damen, die sie in den Salztälern gesehen hatten, aber immer noch waren sie ebenso groß wie Baby Tranchlu selbst. Kleine Kinder noch, bewegten sie sich auf splitterdünnen Beinen voran, unbeholfen wie neugeborene Füllen, und nur die Widerhaken unter ihren Füßen verhinderten, dass Arachnes Winde sie davontrugen.

    Ethan trat zurück, als das kleine Mädchen und seine Spinnelinge näherkamen. Am liebsten wäre er in den Himmel des Planeten gestürzt und dort ertrunken.

    »Komm her, Tranchlu. Sag allo zu dem Neosterner dieses Sommers, der hergekommen ist, um geblutet zu werden.«

    »Allo«, sagte Tranchlu.

    Ihre Spinnelinge, neun oder zehn an der Zahl, stolperten um die vier Menschen herum und schwenkten forschend ihre Maulwerkzeuge. Pedipalpen, eine Kombination aus Händen und weichen Zähnen, diese Maulwerkzeuge - eine eigentümliche Mischung. Baby Tranchlu starrte Ethan an.

    Die Furchthelferin fragte, zu Tranchlu gewandt: »Bringst du diese Kindschaft für den Wind, kleines Mädchen?«

    »Diese sein Erstlinge«, antwortete Tranchlu. »Mehr dann morgentags. Weißer Sommer wir haben. Sie gehen fliegen.«

    »Wir haben Altweibersommer«, übersetzte Wej. »Die Spinnelinge zerstreuen sich. Die Tranchlu hier mit sich führt, werden den Wind schon heute erproben, doch morgen sollen Tausende auf ihre Ballonfahrt gehen. Viele werden sterben. Jedes Jahr fliegen tausend Spinnlein, und ein Knabe wird geblutet.«

    »Geh zu«, sagte die Furchthelferin. »Treib sie fort, fluxe Schnieke.«

    Baby Tranchlu vollführte einen schlenkernden kleinen Tanz und sang in jenem rhythmischen Patois, das Ethan nicht verstand. Sie drehte sich, wirbelte in einer Pirouette um ihre Achse und tanzte über die Hochebene zu einer Stelle, wo mehrere Salztürme in den Himmel ragten. Die Spinnelinge folgten ihr, stelzenbeinig und gläsern in der Sonne glitzernd.

    »Sieh, wie es geht«, sagte Wej zu Ethan.

    Die Spinnelinge erkletterten wie auf den Befehl des kleinen Mädchens die zernarbten Felsen, mit ihren Haftfüßen gegen Wind und Schwerkraft ankämpfend. Ethan legte den Kopf in den Nacken, um ihnen zuzusehen. Die Spinnelinge klammerten sich in halsbrecherischer Weise an die Felstürme und drehten sich langsam im Kreise, während sie seidige Fäden absonderten, die im Winde wehten. Die Spinndrüsen unter ihren Leibern produzierten mehr und mehr dieser glitzernden Stränge, mehr und mehr. Und immer mehr.

    Der Himmel hing blass, karmesinrot, in einem Netz aus Kristall - Farbe, gefangen in einem Spinnennetz.

    »Da gehen sie hin, Tranchlu!«, rief Wej.

    Und die langbeinigen Kinder, die sich noch immer an ihre himmlischen Nabelschnüre klammerten, erhoben sich von den Felsen. Sie wurden aufwärts gezogen wie Fallschirmspringer, die rückwärts auf die Tür eines unsichtbaren Flugzeuges zuspringen. Ethan hatte das Gefühl, einen Film zu sehen, der rückwärts lief. Höher, höher, höher schwebten die Spinnelinge.

    »Aber wohin fliegen sie?«, fragte Ethan. »Da draußen ist die Ebene des Meeresgrundes - und sonst nichts.«

    »Da draußen ist ganz Arachne«, versetzte der vielleicht-alte Mann.

    »Was wird aus ihnen?«

    »Einige sterben, einige kommen zurück. Niemand vom Volk der Lauernden Witwen lebt irgendwo anders als hier in Gartenheim.«

    »Warum müssen diese Kleinen dann überhaupt hinaus? Warum müssen sie sich in alle Winde zerstreuen, wenn sie dann nur sterben oder doch zurückkommen?«

    »Weißer Sommer ist, mein Lammauge«, antwortete der Wej S'al. »Sie fliegen hinaus.«

    Und als Baby Tranchlus Kinder sich am fadenbespannten Firmament verloren hatten, machten der Weise Alte, die Furchthelferin und Ethan Dedicos sich an den Abstieg, und sie begaben sich über die Pfade des Salzgarten-Tafelbergs hinunter zu den gelben Zelten in der Mulde.

    Der Wind erstarb, der Nachmittag verstrich, und die Nacht stieg herauf wie eine dunkle Jungfer mit Kerzen in den Händen. Sie aßen und redeten. Dann legte Ethan sich zwischen den Körpern murmelnder Spinnhirten nieder, schloss die Augen und schlief seinen ersten Schlaf auf Arachne. Während er schlief, berührte der vielleicht-alte Mann sein Gesicht und wisperte: »Ich liebe die Knaben, die ich blute. Vergiss das nicht, Lammauge.« Ethan hörte nichts als ein orangegelbes Summen. Schlaftrunken drehte er sich auf die andere Seite.

    Und er erwachte auf der Ebene des Meeresgrundes.

    Er sprang auf. Die Sonne stand schon am Himmel. Er drehte sich im Kreis. Wohin er auch schaute: Weiß weiß weiß weiß.

    »Wej!«

    Es gab nicht einmal ein Echo. Nur ein totes Wort, das aus seinem Munde fiel, und ein Hauch von Wind. Die Wüstenluft verschluckte das Wort, und er wusste nicht mehr, ob er überhaupt etwas gerufen hatte. Die Sonne starrte glühend auf ihn herab.

    »WEJ!«

    Wieder und wieder drehte er sich um. Es war unmöglich, so allein zu sein. Wie hatten sie ihm dies antun, ihn hierher schaffen können? Doch nur mit dem Nukleoskaph. Er erinnerte sich an das Summen. Sei getrost. Sei getrost. Er kniete nieder und betrachtete den Boden des Meeresgrundes, doch er sah keine Spuren, keine Fußabdrücke, keine verräterischen Rillen auf der harten, weißen Fläche. Er stand auf. Wieder drehte er sich um. Nirgends konnte er eine Landmarke entdecken. Wo war sein Weiser Alter?

    »WEJU, DU BURGUNDER-BASTARD!«

    Das war es, das Bluten. Sie hatten ihn in Gartenheim mit einer Droge betäubt und dann hier draußen sich selbst überlassen. Die Furchthelferin der Witwen hatte ihm erzählt, wie es sein würde. Und Wej hatte gesagt: »Überleben. Wir spielen alte Spiele auf Arachne.«

    Ethan Dedicos war ein Neo-Sterner der Kriegswaffe, und Neo-Sterner wurden geblutet. Also gut. Er würde mitspielen. Er würde nachdenken, er würde sich stellen, er würde laufen. Nur zu. Was hatten sie ihm gegeben, auf dass er damit spiele? Welche Überlebenswerkzeuge hatte er zur Hand?

    Ethan Dedicos schaute sich an und begann zu zählen:

    - Die silberblaue, augenscheinlich nahtlose Uniform, in der er auf Arachne angekommen war: leicht, unzerstörbar, wetterfest.

    - Ein gekrümmtes Messer, schwer, mit feingearbeitetem Griff, gefährlich.

    - Zwei schmale Zylinder mit Wasser, die wie Patronen in dem Gürtel staken, in dem er auch das Messer gefunden hatte; ein Vorrat für vielleicht zwei Tage.

    - Weiter nichts als seinen Verstand.

    »Wej!«, brüllte er. »Wej, wie kannst du der Bluter der Knaben sein, wenn du deine Schutzbefohlenen mit dieser Aufgabe alleinlässt?«

    Ironie der Namensgebung. Grausamkeit des Vertrauens. Ethan Dedicos, erfüllt von Zweifeln an seiner eigenen Seele, drehte sich

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