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Die Rebellenprinzessin
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eBook484 Seiten6 Stunden

Die Rebellenprinzessin

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Über dieses E-Book

Als Evangeline MacKay beginnt, einen mysteriösen Jungen zu sehen, ahnt sie noch nichts von der Wende, die ihr Leben nur wenige Tage später nimmt. Unfreiwillig findet sie sich plötzlich in einer Welt voller Magie – als Todfeindin einer tyrannischen Königin. Verbündete gewinnt sie bei einer Gruppe Widerstandskämpfer, die in ihr die lang prophezeite Retterin sehen. Doch als Alpträume beginnen, Evangeline zu plagen, wissen selbst ihre engsten Vertrauten keinen Rat. Schon bald muss sie sich eingestehen, dass hinter den blutrünstigen Bildern mehr steckt als erwartet. Und dass alle Wege sie zu der Frau führen, der zu begegnen Evangelines Tod bedeutet.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum3. Nov. 2018
ISBN9783742717344
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    Buchvorschau

    Die Rebellenprinzessin - Anna Rawe

    Prolog

    Kein Zurück. Die Wahrheit sang in seinem Herzen und trieb ihn tiefer und tiefer in den Wald. Unter seinen Pfoten knackten Zweige und aus dem Unterholz drang vereinzeltes Rascheln. Er hörte das panische Fiepen einer Maus und den Flügelschlag der Eule, die sich in diesem Moment auf sie stürzte. Er roch Blut. Seine Sinne waren so scharf, dass es ihn nahezu um den Verstand brachte. Mit aller Kraft drängte er die Dunkelheit zurück, die sich seiner Gedanken zu ermächtigen drohte. Er musste sich konzentrieren. Seine Pfoten federten auf dem weichen Moos, als er in einen Trab verfiel. Wieder und wieder rief er sich die Worte seiner Mentorin in den Geist.

    Es ist eine Gabe, Conan. Die Götter haben dich erwählt.

    Er schnaubte und grub seine Krallen tief in die weiche Erde. Seinetwegen hätten die Götter jeden anderen für ihre undurchsichtigen Pläne erwählen können. Jemanden, der es darauf anlegte, ein Held zu sein. Jemanden, der nichts Besseres zu tun hatte, als dieser Bestimmung zu folgen. Einfach irgendjemanden.

    Aber sie haben sich für dich entschieden, hörte er Tilly ein weiteres Mal betonen, Und egal, wie sehr du dich sträubst, deinem Schicksal kannst du nicht entkommen.

    Wie immer hatte sie auch in diesem Punkt Recht behalten. Seine Gabe hatte sich weder unterdrücken noch ignorieren lassen und war anders als eine Erkältung auch nicht von allein verschwunden. Stattdessen hatten seine Versuche, vor dieser Bestimmung wegzulaufen, ihn nur tiefer ins Elend gestürzt. Und nun blieb ihm keine Wahl mehr.

    Sein zweiter Körper war ihm noch immer fremd. Es bereitete ihm Unbehagen, die Muskeln seiner Hinterläufe zu spüren und zu wissen, dass jede ihrer Kontraktionen ihn schneller laufen lassen konnte, als er in menschlicher Gestalt jemals gelaufen war. Er mochte es nicht, wie der Wind sein Fell zerzauste, wenn er rannte. Vielleicht – ja, vielleicht – hätte sich all das auch wie Freiheit anfühlen können. Doch dazu hätte er diese Gabe als einen Teil seiner Selbst akzeptieren müssen – und dafür war er nicht bereit. Erst recht nicht, nachdem sie ihm alles genommen hatte.

    Ein weiteres Mal drängte das Böse sich in sein Bewusstsein. Der Hunger nach Blut überrollte ihn, bevor er den Hirsch gewittert hatte. Alles in ihm schrie nach Jagd, seine Muskeln vibrierten voll ungeahnter Kraft, während die Vorstellung, seine Fänge in das warme Fleisch zu schlagen, erregte Schauder durch seinen Körper jagte. Auf leisen Pfoten näherte er sich dem Tier. Das Böse wisperte. Worte der Verlockung, Worte von Blut und Tod. Es sang, es rief, es zog ihn näher und näher, bis er kaum mehr wusste, was er tat. Noch ein Schritt und es würde ihn verschlingen, würde jedes winzige Stück seiner Selbst unter einen Bann stellen, den er nicht zu brechen vermochte.

    Nein. Mit aller Willensstärke hielt er dagegen. Seine Krallen hinterließen tiefe Spuren in der Erde, als er sich zwang, zurückzuweichen. Sein Atem ging schwer und er spürte, wie Schweiß an seinem Körper hinabrann und sein Fell durchnässte. Schritt für Schritt kämpfte er sich weiter, während die Stimmen in seinem Kopf an Kraft verloren.

    Schließlich verstummten sie ganz. Der Geruch des Hirsches lag noch immer deutlich zwischen den anderen Düften des Waldes, doch nicht länger spürte er das Pulsieren des Blutes oder den Drang, seine Zähne in den empfindlichen Hals des Tieres zu schlagen. Zögernd setzte er eine Pfote vor die andere, bis er sicher war, tatsächlich wieder Herr seiner Sinne zu sein. Dann jagte er in kräftigen Sprüngen davon.

    Als er die Lichtung fand, nahte die Dämmerung bereits. Die Steine waren teilweise von Moos und Flechten bewachsen und es brauchte einen Moment, bis er den Kreis ausgemacht hatte, den sie bildeten. Langsam trat er zwischen ihnen hindurch und näherte sich der Mitte, während sein Blick die Umgebung musterte. Im Mondschein sah die Lichtung bleich und kalt aus. Schwarze Baumriesen umzingelten den Kreis von allen Seiten und streckten ihre langen Arme nach ihm aus. Es schien, als wären alle Geräusche unter einem Mantel tiefer Stille verschwunden. Seine empfindliche Nase, die sonst jeden noch so schwachen Duft anderer Lebewesen wahrnahm, fand in der klaren Luft kaum mehr als den Geruch des Waldes. Er war allein, so vollkommen allein wie er seit seiner ersten Verwandlung nicht mehr gewesen war.

    Tu es. Die Stimme seiner Mentorin war klar. Du musst sie finden, Conan. Eure Schicksale sind miteinander verbunden wie die Fäden eines Spinnennetzes.

    Er kannte seine Aufgabe. Langsam erhob er den Kopf und stieß den ersten Ton hervor.

    Das tiefe Grollen, das seine Kehle verließ, hatte nichts mit den Worten gemein, die sein Verstand wiederholte. Es waren fremde Worte. Worte, deren Klang er nie zuvor gehört hatte und der doch so selbstverständlich in ihm sang wie ein Kinderlied. Magie.

    Er spürte das Flimmern in der Luft und ahnte, dass es soweit war. Der erste Stein begann, bläulich zu glimmen. Mit jedem Wort, das er sprach, vervielfachte sich das Leuchten, bis auch die nebenstehenden Steine erstrahlten. Ringsum wurde der Kreis nun von gespenstischem Leuchten erhellt. Sein Herz schlug so schnell, dass ihm schlecht wurde, doch er hielt nicht inne. Das tiefe Grollen, das seine Worte nach außen trug, schwoll nur noch an, bis das Licht um ihn so gleißend war, dass er die Augen zu Schlitzen verengte.

    Sein Knurren verwandelte sich in ein tiefes, wölfisches Heulen und als der letzte Ton verstummte, schoss Licht in Kaskaden durch den Wald. Die Luft explodierte und flog ihm in kleinen Fetzen um die Ohren. Seltsame Kräfte rissen an ihm, während der Wirbel aus Sturm und Licht ihn verschlang.

    Das war das Ende. Und der Anfang.

    Kapitel 1

    Strahlende Herbstsonne fiel durch die großen Glasfenster und tauchte das kleine Café in warmes Gold. Obwohl der Oktober dieses Jahr für kanadische Verhältnisse warm ausfiel, sah ich zahlreiche Menschen mit dicken Winterjacken und großen Schals draußen vorbeieilen. Schnell hierhin, schnell dorthin. In einer Stadt wie Calgary musste alles schnell gehen. LKWs und gelbe Taxis drängten sich auf den Straßen. An manchen Tagen war der Verkehr hier so dickflüssig wie Sirup, der die schnurgeraden Straßen zwischen den Hochhäusern verklebte. Ich schüttelte den Kopf. Was für eine absurde Vorstellung. Meine kleine Tagträumerin, nannte Mom mich immer, wenn ich mal wieder der Welt um mich herum mehr Beachtung schenkte, als dem Gespräch, das wir gerade führten.

    „Ein Latte Macchiato mit extra viel Schaum für das geheimnisvolle Mädchen am Fenster." Die Bedienung grinste breit, während sie das Glas abstellte. Sie war in ihren Zwanzigern, eine kurvige Frau mit rosa Wangen und kleinen Grübchen – der Typ Mensch, den man einfach mögen musste.

    „Du bist neu hier, nicht wahr?, fragte sie, „Ich habe dich schon einige Male im Café gesehen. Ich bin Carly.

    „Evangeline, stellte ich mich vor, „Und ja, wir sind erst vor einigen Wochen hergezogen.

    Carly lächelte zufrieden. „Das habe ich mir schon gedacht, erklärte sie, „Du klingst nicht wie eine Kanadierin. Eher … irgendwie britisch?

    Sie sah mich fragend an.

    „Schottland, bestätigte ich, „Eine Kleinstadt an der Ostküste, nahe Edinburgh.

    Carly war gerade in Begriff, zu antworten, als nach ihr gerufen wurde. Entschuldigend hob sie die Hände. „Tut mir leid, ich muss wieder an die Arbeit. Ihr Blick fiel auf meinen Kalender, der vor Hausaufgaben, Referaten und Terminen fast überquoll. Ich hatte nicht geahnt, dass der Umzug so viel nachzuholendes Unterrichtsmaterial bedeuten würde. „Wie es aussieht, hast du ja auch noch einiges vor dir.

    Ich nickte. „Leider, ja."

    „Das wird schon, meinte Carly lächelnd, „War jedenfalls schön, dich kennenzulernen. Ich bin sicher, man sieht sich mal wieder, nicht wahr?

    „Auf jeden Fall."

    „Bis dahin." Sie winkte leicht, bevor sie sich umdrehte und zurück an die Arbeit ging.

    Ich löffelte einen kleinen Berg Milchschaum von meinem Kaffee und warf einen Blick aus dem Fenster.

    Da sah ich ihn.

    Die Hände in den Taschen seiner Jeans lehnte er an der Wand des gegenüberliegenden Gebäudes und starrte mich so offen an, dass ich erschauerte. Sogar aus dieser Entfernung konnte ich die Farbe seiner Augen erkennen – ein strahlendes Blau, das perfekt zu seinem hellen Haar passte. Etwas wild und sehr blond, wirkte es in der klaren Oktobersonne fast wie ein Heiligenschein, der seine feinen Gesichtszüge umrahmte. Er konnte höchstens ein paar Jahre älter sein als ich. Und noch immer sah er zu mir herüber. Zweifellos zu mir.

    Ein Geräusch ließ mich aufschrecken. Auf dem Display meines Smartphones erschien eine neue Nachricht. Maggie.

    „Bin in einer Stunde daheim, dann können wir skypen."

    Eilig entsperrte ich das Display und antwortete.

    „Okay. Bis dann."

    Es konnte nur Sekunden gedauert haben. Doch als ich wieder aufsah, war der Typ verschwunden. Die Wand gegenüber war leer, der blonde Haarschopf wie vom Erdboden verschluckt. Bei dem Versuch, die Straße weiter hinunterzusehen, hätte ich fast noch meinen Kaffee umgestoßen. Er war einfach weg.

    Ich schüttelte den Kopf über mich selbst. Jetzt fing ich schon an, paranoid zu werden. Geistesabwesend trank ich einige Schlucke, während ich erneut versuchte, mich in die Bio-Aufgaben zu vertiefen. Ich machte mir einige Notizen, Skizzen, blätterte durch das zerlesene Buch, das ich vor ein paar Wochen bekommen hatte – doch die blauen Augen wollten einfach nicht aus meinen Gedanken verschwinden. Lächerlich, wie tief man sich doch in Tagträume stürzen konnte, nur um lästigen Hausaufgaben zu entkommen.

    Ich schüttelte den Kopf. Das hier wurde so nichts mehr.

    In einem Schluck kippte ich den restlichen Kaffee hinunter und packte das Notizbuch und meinen Kalender ein.

    Noch immer in Gedanken verließ ich das Café und machte mich auf den Heimweg.

    *****

    Wir hatten ein Haus am Stadtrand gekauft, nahe dem Elbow River, in einem der reicheren Viertel. Sienna Hills war eines dieser kleinen Wohngebiete mit Vorgärten, typisch-amerikanischen Holzhäusern in glänzendem Weiß und riesigen Pick-ups in den Einfahrten, wo die Gebäude ordentlich nebeneinander aufgereiht standen und alles irgendwie gleich aussah.

    Unser Haus machte dabei keine Ausnahme – abgesehen davon, dass es schon ein bisschen heruntergekommen war.

    „Es hat Charme, sagte Dad immer, wenn das Thema aufkam, „Und sobald wir uns etwas eingelebt haben, werde ich das Dach ausbessern und die Fassade neu streichen. Eine andere Farbe kann Wunder wirken, wisst ihr?

    Die Haustür war abgeschlossen und ich brauchte einige Minuten, um den Schlüssel aus meiner hoffnungslos überfüllten Tasche zu fischen. Mit einem ohrenbetäubenden Quietschen schwang die Tür schließlich doch noch auf.

    Der Flur dahinter war ein einziger Hindernisparcours aus vollen Umzugskartons, halb aufgebauten Möbeln und jeder Menge Krimskrams, der seinen Platz in unserem neuen Haus noch nicht gefunden hatte. Ich kämpfte mich bis zur Treppe durch, auf der Ced bereits sein Spielzeug ausgebreitet hatte. Man musste höllisch aufpassen, um nicht auf eine Ansammlung spitzer Lego-Steine zu treten oder auf einem Kuscheltier auszurutschen. Entgegen aller Erwartungen schaffte ich es dennoch heil bis in mein Zimmer, wo ich meine Sachen abstellte und einen Blick auf die Uhr warf. Zehn vor fünf. In einigen Minuten würde Maggie anrufen.

    Sie war meine beste Freundin seit ich denken konnte.

    Eigentlich hieß sie Marjorie, doch sie fand, der Name passte nicht zu ihr. Solange ich sie kannte, stellte sie sich deshalb überall nur als Maggie vor. Maggie, die Plaudertasche mit der Neugier eines Kleinkindes und dem ansteckendsten Lachen, das ich kannte.

    Mit dem Notebook auf den Knien machte ich es mir schon einmal in meinem Bett bequem.

    Seit ich weggezogen war, skypten wir mindestens einmal pro Woche, meist stundenlang. Ihr schienen nie die Themen auszugehen – sei es nun der neuste Klatsch aus unserer Schule, die Errungenschaften ihres letzten Shopping-Trips oder ihre Träume von der Zukunft. Ihre Erzählungen gaben mir das Gefühl, immer noch dort zu sein, daheim in Schottland, und mit ihr gemeinsam am Pier zu sitzen und über das Leben zu reden, wie wir es früher oft gemacht hatten.

    Maggie hatte diese Art an sich, die Dinge leicht zu nehmen. Sie sagte, was sie dachte und machte sich nie Gedanken darüber, was andere davon hielten.

    Auch heute sprachen wir wieder fast zwei Stunden miteinander.

    Maggies Katze hatte vorgestern Junge bekommen, drei kleine Kätzchen, jedes nur so groß wie Maggies Hand.

    „Sie sind noch blind und taub und sehen aus wie Mini-Kobolde, mit diesem feuerroten Fell, meinte Maggie lachend, „Und in zwei, drei Wochen werden sie unser Haus in Schutt und Asche legen.

    Ich grinste. „Tja, dann musst du wohl Schadensersatz und Unterhalt von dem Kater fordern, der für dieses Chaos verantwortlich ist."

    Maggie lachte auf. „Apropos Chaos, meinte sie dann, „Weißt du, wer seit gestern ganz offiziell vergeben ist?

    „Sag bloß! Ich schlug die Hände vors Gesicht. „Ridley ist unter der Haube?

    Maggie nickte vielsagend. Stephan Ridley war an unserer Schule ein Jahr über uns gewesen. Ein Rugbyspieler mit Adoniskörper, dazu gar nicht mal wenig Köpfchen – der Traum eines jeden Mädchens.

    „Ein Jammer, bemerkte Maggie, „Wenigstens eine wilde Knutscherei auf dem Schulhof hätte doch drin sein dürfen.

    Ich schmunzelte. Typisch Maggie. Sie würde ihre Unabhängigkeit noch jeder festen Beziehung vorziehen.

    „Und, wer ist die Glückliche?"

    Maggie verzog die Lippen. „Ashley Cummings, verkündete sie dann, „Aber wenn du mich fragst, hält das sowieso nicht lange. Immerhin sind die zwei einfach …

    Innerhalb weniger Minuten befanden wir uns mitten in einer Diskussion über Beziehungen und unsere Vorstellung des perfekten Partners. Wie jedes Mal, wenn wir auf dieses Thema kamen, folgte auch heute wieder Maggies Frage danach, ob ich irgendwelche süßen Typen kennengelernt hätte.

    „Komm schon, irgendeinen muss es doch geben, bohrte sie, „Ich habe kanadische Models gegoogelt und ganz ehrlich – die würdest du nicht von der Bettkante stoßen.

    Ich gab bloß ein Brummen von mir, während meine Gedanken erneut zu dem seltsamen Typen vorm Café schweiften. Die blauesten Augen, die ich je gesehen hatte. Unten klirrte ein Schlüsselbund an der Tür.

    „Eline? Das war Mom. „Eline, Schatz, bist du daheim?

    „Ich bin oben. An Maggie gewandt, zuckte ich die Schultern. „Ich muss Schluss machen. Wir hören uns morgen, okay?

    „Okay. Maggie grinste. „Bis dann.

    Schritte trampelten die Treppe hinauf und kamen den Flur entlanggeflitzt. Ich konnte gerade noch das Notebook in Sicherheit bringen, dann flog Ceds dunkler Schopf direkt auf mich zu und warf sich in meine Arme.

    „Eline, Eline!, rief er dabei, „Du errätst nie, wo wir heute waren. Sanft strich ich ihm die Strähnen aus den schokoladenbraunen, großen Kinderaugen und beugte mich zu ihm herunter. „So?, fragte ich schmunzelnd, „Wo wart ihr denn?

    „Bei der Feuerwehr, verkündete er stolz, „Wir haben einen echten Feuerwehrmann getroffen und sind mit dem großen Feuerwehrauto gefahren. Das mit der langen Leiter und dem Blaulicht. Ich durfte sogar beim Feuerlöschen helfen. Die anderen hatten alle Angst, aber ich habe das Feuer gelöscht. Ich bin ein mutiger Junge, hat der Feuerwehrmann zu mir gesagt, ich lasse nichts anbrennen. Jetzt konnte ich nicht anders. Lauthals brach ich in Lachen aus.

    „Was ist?, fragte Ced und sah mich verwirrt an, „Warum lachst du?

    Ich schüttelte bloß den Kopf. „Nicht so wichtig, sagte ich und strich ihm über den Kopf, „Klingt, als hättest du heute eine Menge Spaß gehabt.

    Er nickte und seine dunkle Mähne wippte im Takt. „Und wir haben dir auch was mitgebracht", meinte er, ganz hibbelig vor Freude, „Mom hat gesagt, du freust dich ganz bestimmt, wenn wir was von Mario’s Maccaroni holen."

    Ich sprang auf. „Ihr wart bei Mario’s? Ehrlich?"

    Er nickte erneut und seine kleine Hand zupfte an meinem Pullover. „Komm schon, Eline. Ich habe Hunger. Und Mac’n’Cheese schmecken nur …"

    „… wenn sie schön warm und käsig sind." Eine von Dads Alltagsweisheiten, die sogar Ced mit seinen sieben Jahren auswendig kannte. Er liebte diese Nudeln genauso wie ich.

    Lachend folgte ich ihm die Treppe hinunter bis in die Küche. Mom war bereits dabei, den Tisch zu decken. „Hey, Große, begrüßte sie mich, während Ced ungeduldig um den Tisch herumsprang, „Wie war dein Tag?

    Ich zuckte nur die Schultern und holte Besteck aus einer der Schubladen. „Nichts Besonderes. Schule eben. Aber ich habe vorhin mit Maggie geskypt. Sie lässt euch Grüße ausrichten."

    Mom lächelte. Sie kannte Maggie schon seit wir beide noch in Windeln durch die Gegend gekrabbelt waren. Beste Freundinnen für immer und ewig.

    „Wie geht es ihr denn?, fragte Mom, „Lynette erwähnte letztens, sie hätte sich für die Uni beworben?

    Ich nickte. „Journalismus in Aberdeen, erklärte ich, während ich das Besteck verteilte, „Ihre Noten reichen dafür allemal. Aber das Ergebnis bekommt sie erst in ein paar Monaten.

    Es war unser gemeinsamer Traum gewesen. Ein Studium in Aberdeen, eine kleine Wohnung, gemütliche Filmabende im Winter und lange Sommertage am Strand.

    Begleitet vom wohlbekannten Rascheln der Papiertüte packte Mom das Essen aus und verteilte es auf die einzelnen Teller.

    „Ich will extra viel Käse, Mom, viel Käse bitte!", bettelte Ced, der unruhig auf seinem Stuhl herumrutschte.

    „Aber du musst auch aufessen, Schatz, bestand Mom, den vollen Teller in der Hand, „Versprichst du das?

    Ced nickte so inbrünstig, wie nur Siebenjährige es konnten.

    „Also gut." Schmunzelnd stellte Mom den Teller vor ihm auf den Tisch und holte dann auch ihren und meinen.

    Wie so oft in letzter Zeit waren wir nur zu dritt zum Abendessen. Dad blieb nicht selten bis neun in seinem Büro an der Universität. Sein neuer Job in der Forschungsabteilung für Mikrosystemtechnik war auch der Grund unseres Umzuges hierher gewesen. Ich erinnerte mich noch genau, wie er vor zwei Monaten verkündet hatte, er hätte ein Angebot aus Calgary bekommen, einen gut bezahlten Job an einer der renommiertesten Universitäten von Kanada. Nächsten Monat ziehen wir um, hatte Mom daraufhin angekündigt. Und dabei war es geblieben. All meine Proteste, doch bleiben zu dürfen, waren vergeblich gewesen.

    Und so saßen wir schließlich hier, Mom allein mit Ced und mir. Ced plapperte noch immer fröhlich von seinem Schulausflug und Mom gab sich alle Mühe, nach dem zehnten Durchlauf immer noch interessiert zu wirken. Meine Gedanken schweiften inzwischen vier Wochen in die Vergangenheit.

    Ich hatte die ganze Nacht bei Maggie verbracht. Wir hatten keine Sekunde geschlafen. Aufgeregt hatten wir in ihrem Bett gelegen und in der Dunkelheit über meine Zukunft diskutiert.

    „Was soll ich denn bloß machen, wenn du nicht mehr da bist?", hatte Maggie gefragt, „Physik wird sterbenslangweilig sein ohne dich. Und mit wem soll ich in der kleinen Nische in der Cafeteria sitzen und Hot or not spielen? Ich hörte sie neben mir schniefen. In meinen Augen brannten Tränen. „Gott, ich werde dich so vermissen, Ell.

    Ich griff nach ihrer Hand. Fest verschlang ich meine Finger mit ihren. „Ich werde dich auch vermissen, Mags", flüsterte ich mit zitternder Stimme.

    Am nächsten Morgen hatte uns das Taxi zum Flughafen gebracht. „Versprich mir, dass du einmal die Woche anrufst", hatte ich ihr zugeflüstert, während sie mich umarmte.

    „Mindestens, kam Mags‘ Antwort direkt an meinem Ohr, „Und außerdem sehen wir uns zu Weihnachten schon wieder. Es sind nur vier Monate bis dahin.

    Ich nickte und rang mir ein schiefes Lächeln ab.

    „Irgendwie werden wir das schon schaffen", meinte Maggie so optimistisch wie eh und je.

    „Eline? Eline! Eine Hand fuchtelte vor meinem Gesicht herum und katapultierte mich zurück an den Tisch. „Hm?

    „Ich wollte bloß wissen, ob du Nachtisch willst?, fragte Mom, während sie die Teller stapelte, „Wir haben noch etwas Schokoladeneis und Blaubeeren von gestern. Wie auf Kommando riss Ced seine Arme in die Luft. „Ich will, ich will, ich will."

    Mom lachte. „Ist ja gut, Ced, du bekommst gleich was. Eline?"

    Ich schüttelte den Kopf. „Nein danke, ich bin satt." Mit einem entschuldigenden Lächeln stand ich auf.

    „Ich muss noch lernen", erklärte ich, „Aber Mario’s war eine fantastische Idee. Ihr seid echt die Besten."

    Ced grinste. „Klar sind wir das."

    Kapitel 2

    Da war er wieder.

    Strahlend blondes Haar und funkelnd blaue Augen, deren Blick sich direkt in mich bohrte. Der Blick, der mir seit Tagen folgte.

    Zuerst dachte ich, mein Verstand würde mir Streiche spielen, als ich ihn am Montag nach unserer ersten Begegnung wiedersah. Lässig lehnte er an der Glaswand der Bushaltestelle vor meiner neuen Schule, dieselbe Jeans und denselben durchdringenden Blick. Noch bevor ich realisieren konnte, dass er tatsächlich dort stand, nur einen Steinwurf entfernt, riss ein vorbeifahrender Lastwagen die Haltestelle aus meinem Blickfeld.

    Sekunden später waren beide verschwunden. Den Lastwagen erkannte ich ein Stück die Straße hinunter, doch den Typ mit den blauen Augen hatte der Erdboden verschluckt, genau wie an dem Tag im Café.

    Ich sah ihn danach noch einige Male – vor meiner Schule, vor dem Café, an einem Samstag in der Mall und ein einziges Mal sogar in der Nähe unseres Hauses. Keine einzige dieser Begegnungen konnte man wirklich als „Begegnung" bezeichnen. Vielmehr war es ein kurzes Aufblitzen, ein sekundenlanges Erscheinen und das darauffolgende Verschwinden, kaum, dass ich ihn wahrgenommen hatte. Ich war mir nicht einmal sicher, ob er überhaupt existierte, denn bevor ich jemanden auf ihn ansprechen konnte, hatte er sich wieder in Luft aufgelöst.

    Als ich ihn an diesem Nachmittag im Café erneut dort stehen sah, fackelte ich nicht lang. Wenn ich wirklich verrückt wurde, wollte ich jetzt sofort die Bestätigung. Ich ließ alles stehen und liegen und stürmte aus dem Café. Dank der großen Glasfront musste ich ihn dabei nicht einmal für den Bruchteil einer Sekunde aus den Augen lassen.

    Jemand schrie meinen Namen, als ich rücksichtslos quer über die Straße rannte. „Evangeline!"

    Es war nur ein kurzer Laut, vier Silben, doch aus einem Impuls heraus drehte ich mich um. Carly stand vor dem Café, kreidebleich und fassungslos. „Was um Himmels willen machst du denn da?"

    Erst jetzt bemerkte ich, dass ich ihn aus den Augen gelassen hatte, nur für den Bruchteil einer Sekunde.

    Ich wirbelte herum.

    Niemand. Er war weg. Die Straße hinauf und abwärts keine Spur von ihm. Ich hatte ihn schon wieder verloren.

    „Verdammt."

    Wie konnte ein einzelner Mensch sich so schnell bewegen?

    Wurde ich denn tatsächlich verrückt? Halluzinationen gingen doch mehr als weit über meine bisherigen Tagträumereien hinaus.

    Aber wie konnte dieser Typ sonst einfach so auftauchen und wieder verschwinden, innerhalb von einem Augenblick?

    „Evangeline! Atemlos kam Carly neben mir zum Stehen. „Was in aller Welt ist denn passiert? Du siehst aus, als wärst du einem Geist begegnet.

    Stumm schüttelte ich den Kopf. Dann fiel mir ein, dass sie Recht haben könnte. Ich wurde verrückt. Ich begann, Geister zu sehen.

    „Du hast mir einen Riesenschreck eingejagt, weißt du das?, plapperte Carly inzwischen weiter, „In einem Augenblick sitzt du seelenruhig am Fenster und dann – bam – springst du auf und rennst mitten über die Straße. Dir hätte sonstwas passieren können!

    Ich sah sie an. Carly, die vollkommen echte, sich um mich sorgende Bedienung. Und ich beschloss, dass es reichte, wenn ich allein von diesen seltsamen Begegnungen wusste.

    „Es geht mir gut, sagte ich, „Ehrlich. Es ist … ich dachte nur, ich hätte jemanden gesehen. Eine Verwechslung. Mit gehobenen Augenbrauen sah sie mich an. Sie glaubte mir nicht. Zeit für den Rückzug.

    „Ach, eigentlich ist es ja auch egal." Schulterzuckend drehte ich mich um und wollte gerade die Straße überqueren, als Carly meinen Arm packte.

    „Du hast was verloren", sagte sie und streckte mir einen winzigen Brief entgegen.

    Ich schüttelte den Kopf. „Der gehört mir nicht. Lass ihn liegen."

    Doch Carly dachte gar nicht daran. „Natürlich gehört er dir, protestierte sie, „Es steht schließlich dein Name drauf. Schau. Mit einer Handbewegung hatte sie ihn umgedreht und hielt ihn mir so dicht unter die Nase, dass die geschwungenen Buchstaben mich vom Papier aus ansprangen wie wütende Tiger. Evangeline MacKay. Carly hatte recht.

    „Ich weiß ja nicht, was du wirklich hier drüben wolltest …, murmelte sie, „… aber du solltest ihn nehmen. Und wenn du reden möchtest, egal worüber … Ihre letzten Worte gingen im Straßenlärm unter.

    „Schon okay", sagte ich und nahm den Brief schließlich doch.

    Er brannte auf meiner Haut, ungeöffnet, voller Antworten, die herauswollten, herausmussten. Dieses kleine Stück Papier hatte etwas mit ihm zu tun, da war ich mir sicher. Es bewies, dass ich nicht verrückt war.

    Plötzlich war jede Sekunde, die ich hier draußen stand, eine Sekunde zu viel. „Lass uns zurück nach drinnen gehen", drängte ich ungeduldig. Der Brief brannte und brannte lichterloh in meiner Hand.

    Carly kam meinem Vorschlag nur zu gern nach. Die neugierigen Blicke der Gäste und Mitarbeiter des Cafés verfolgten mich, klebten auch Minuten nachdem ich wieder auf meinem Platz am Fenster saß, noch an meinem Rücken. „Eigenartiges Mädchen, hörte ich sie reden, „Vielleicht geistig verwirrt. Ein Trauma. Hätte draufgehen können. Bei dem Verkehr. Was sie da drüben wollte? Ist einfach so aufgesprungen. Wirklich eigenartig.

    Der Brief lag direkt vor mir. Vorsichtig berührte ich die geschwungenen Buchstaben meines Namens. Alles in mir schrie danach, das Papier zu öffnen, auseinanderzufalten und die Antworten wie eine Landkarte vor mir auszubreiten. Wer war dieser blonde Kerl und woher wusste er, wer ich war? Was wollte er von mir? Wie schaffte er es, innerhalb von Sekunden zu verschwinden?

    „Was steht drin?" Ich hatte nicht bemerkt, dass Carly auf den Hocker neben mir gerutscht war. Erschrocken riss ich den Kopf hoch, fast, als hätte sie mich bei etwas Unerlaubtem ertappt.

    Dabei war es nur der Brief, der geheimnisvolle Brief, der meinen Namen trug.

    „Entschuldige, schob Carly sofort hinterher, „Ich wollte dich nicht stören. Du hast nur ziemlich … naja, mitgenommen ausgesehen und da dachte ich –

    „Ich habe ihn noch nicht geöffnet", platzte ich völlig unerwartet heraus. Auch Carly wirkte überrascht, denn einige Momente lang sagte sie gar nichts, sah mich bloß forschend an.

    „Ich sollte wohl langsam gehen, verkündete ich schließlich, „Mom wird sicherlich bald heimkommen und ich habe Ced versprochen, mit ihm LEGO zu spielen.

    „Klar, natürlich. Carly nickte, doch sie wirkte irgendwie eigenartig. „Wir sehen uns ja sicherlich morgen wieder.

    „Ja, bestimmt, entgegnete ich knapp, während ich meinen Mantel überstreifte und den Brief in meine Tasche gleiten ließ, „Bis dahin.

    Ich hatte es plötzlich wahnsinnig eilig, das Café zu verlassen. Der seltsame Blick, mit dem Carly mich seit meiner – zugegeben nicht ganz ungefährlichen – Aktion bedachte, war mir unangenehm und der Brief lauerte noch immer ungeöffnet in meiner Tasche.

    „Bis morgen, verabschiedete Carly sich mit einem Lächeln, „Und pass auf dich auf, ja?

    Ich nickte bloß und nahm meine Tasche. „Bis morgen."

    Ich spürte ihren Blick noch Sekunden, nachdem ich das Café verlassen hatte. Besorgt und irgendwie auch mitleidsvoll hatte sie ausgesehen – als wäre ich ein kleines Kind, das sie davor bewahren musste, irgendeine Dummheit zu machen. Pass auf dich auf. Wirkte ich denn tatsächlich so mitgenommen? So zerbrechlich?

    *****

    Ich sah aus dem Fenster.

    Vor meinen Augen verschwamm die Welt da draußen zu einem unscharfen Aquarell aus wirbelnden Farben. Wenn ich die Lider ein wenig verengte, konnte ich die Gischt spritzen sehen, das tiefblaue Meer, das krachend gegen die kreidebleichen Felsen schlug. Manchmal träumte ich, ich wäre wieder dort, würde an den Klippen sitzen, die Füße in der Luft baumelnd und dem tosenden, schäumenden Lied des Meeres lauschen. Für einen kurzen Moment war alles wieder wie früher. Wenn ich tief atmete, konnte ich sogar das Salz riechen, den Wind auf meiner Haut spüren, der mein Haar zerzauste.

    Dann schlich sich plötzlich ein anderes Bild in meinen Tagtraum. Der Brief brannte wie Feuer in meiner Hosentasche und vor meinen Augen verwandelten sich die Klippen in den modernen Gebäudekomplex meiner neuen Schule. Die spritzende Gischt erstarrte innerhalb von Sekunden zu einem betonierten Schulhof und als ich hinuntersah, traf mich ein Blick aus blauen Augen. Er stand mitten auf dem Hof, die Arme verschränkt und die Miene selbst aus dieser Entfernung noch fordernd, als wüsste er, dass ich den Brief noch immer nicht geöffnet hatte.

    Ich schüttelte den Kopf und zwang mich, den Blick abzuwenden. Dennoch tasteten meine Finger in der Hosentasche nach dem kleinen Umschlag. Ich hatte nicht vorgehabt, ihn zu öffnen. Ehrlich gesagt, hatte ich sogar mit dem Gedanken gespielt, ihn zu verbrennen. Immerhin konnte es mir egal sein, was darinstand. Ich hatte keine Zeit für irgendwelche Spielchen und außerdem …

    „Evangeline?"

    Als ich aufsah, traf mich Mr. Delanys vorwurfsvoller Blick.

    „Was ist das?", fragte er und deutete auf meinen Tisch. Meine Augen folgten seiner Hand, bis die Spitze seines Fingers auf meinen Block traf. Mein Stift lag nach wie vor quer über der unbeschriebenen Seite.

    Verwirrt hob ich den Kopf. „Was …?"

    Mr. Delany stemmte die Hände in die Hüften. „Du willst mir nicht erzählen, du könntest die Stoffwechselprozesse einer Zelle aus dem Gedächtnis herbeten, oder?"

    „Ich … Hilflos zuckte ich die Schultern. „Nein.

    „Also, warum sehe ich keine Mitschriften?"

    Verlegen schwieg ich. Hinter meinem Rücken hörte ich den Kurs murmeln und wispern. Mr. Delany beugte sich näher zu mir.

    „Du bist keine schlechte Schülerin, Evangeline, sagte er dann, „Ganz im Gegenteil. Ich denke, du könntest sogar einen Abschluss mit Bestnoten schaffen.

    „Aber …"

    „Kein Aber. Mr. Delany deutete auf meinen leeren Block. „Ich erwarte, dass du zumindest in meinem Unterricht auch die Voraussetzungen dafür legst. Wenn ich dich noch einmal dabei erwische, wie du aus dem Fenster starrst …

    „Tut mir leid, murmelte ich schnell, „Kommt nicht wieder vor.

    Er schüttelte bloß den Kopf. „Das will ich auch nicht hoffen. Und jetzt fang endlich damit an, das Schema abzuzeichnen. Ich brauche den Platz an der Tafel."

    Erst, als er mir wieder den Rücken zuwandte und sich zurück zur Tafel begab, wagte ich es, auszuatmen. Dann griff ich nach dem Stift und machte mich daran, das Schema in meinen Block zu skizzieren, während ich mir schwor, noch heute Abend diesen Brief zu verbrennen.

    *****

    Ich lauschte meinen eigenen Atemzügen. Im Haus war schon vor Stunden Ruhe eingekehrt. Das Display meines Smartphones tauchte den Raum in unheimliches Licht. Ein Uhr.

    Entschlossen warf ich die Decke zurück und setzte mich auf. Dann öffnete ich die Nachttischschublade und holte den kleinen Umschlag und ein Feuerzeug hervor, das ich aus einer der Küchenschubladen entwendet hatte. Ein letztes Mal drehte ich das Papier zwischen den Fingern.

    Genug. Seit anderthalb Tagen trug ich diesen bescheuerten Umschlag nun schon mit mir herum wie eine tickende Bombe. Es war geradezu lächerlich, vor allem, weil ich mich nach wie vor weigerte, ihn zu öffnen. Meine Finger kribbelten und ein Teil von mir hätte das Papier am liebsten in Fetzen zerrissen, um herauszufinden, was das alles sollte, doch meine Vernunft erinnerte mich auch dieses Mal daran, dass ich keine Hand an die verklebte Lasche legen sollte.

    Stattdessen hob ich das Feuerzeug. Je weniger ich wusste, desto einfacher wäre es, diese Sache zu vergessen. Mit einem leisen Klicken erwachte die Flamme zum Leben. Langsam hielt ich den Umschlag über das züngelnde Feuer.

    „Nicht." Ich fuhr auf und unterdrückte einen Schrei. Das Feuerzeug rutschte mir aus der Hand, während ich instinktiv ans andere Ende des Betts hechtete. Meinen Rücken gegen die Wand gepresst starrte ich den Jungen an. Kein Zweifel. Sein Haar strahlte selbst im Schein meiner Handytaschenlampe noch wie Flachs und die blauen Augen verfolgten mich bis in meine Tagträume.

    „Was willst du?" Ich bemühte mich, ruhig zu bleiben. Das Letzte, was ich jetzt noch gebrauchen konnte, waren meine Eltern, die um ein Uhr nachts einen fremden Kerl in meinem Zimmer fanden. Ganz zu schweigen davon, dass ich nicht erklären konnte, wer er war oder wie er hier hereingekommen war.

    „Lies den Brief." Seine Stimme war entschieden und sein Blick ließ nicht für eine Sekunde von mir ab.

    „Ich werde ganz sicher nicht tun, was – "

    „Lies. Den Brief." Er trat einen Schritt näher und ich presste mich fester gegen die Wand.

    „Wer bist du? Meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern und ich verfluchte mich selbst dafür, dass ich so wenig Selbstbeherrschung aufbrachte. Den Jungen schien es wenig zu interessieren. Anstelle einer Antwort deutete er auf das kleine Stück Papier in meiner Hand. „Lies es.

    Dann wandte er mir den Rücken zu und verschwand. Wortwörtlich.

    Ungläubig starrte ich auf die Stelle, an der er noch Augenblicke zuvor gestanden hatte. Nichts. Als hätte er sich einfach in Luft aufgelöst. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, während ich mich langsam an die Bettkante schob. Lange Schatten durchzogen mein Zimmer und die Bäume vor meinem Fenster ächzten im Wind. Vorsichtig schlüpfte ich in meine Schlappen und stand auf. Noch bevor ich den Lichtschalter erreicht hatte, wusste ich, dass er nicht mehr da war. Die Präsenz anderer, die man unterbewusst immer spürte, war verschwunden. Der Blick durch mein hell erleuchtetes Zimmer bestätigte das Gefühl – ich war allein.

    Dennoch streifte ich durch den Raum, überprüfte meinen Schrank und sah unter dem Schreibtisch nach, bis ich schließlich das Licht wieder ausschaltete und ans Fenster trat. Auch draußen war keine Spur von dem seltsamen Jungen zu sehen. Der Garten lag still in der Kälte der kanadischen Nächte, nur die Zedern wiegten sich in der Brise. Ich verharrte eine Weile, die Nase gegen das kühle Glas gepresst, bis meine Gedanken sich beruhigten.

    Es war völlig unmöglich, dass dieser Junge tatsächlich hier gewesen war. Niemand konnte einfach so auftauchen und wieder verschwinden, ohne auch nur den Hauch einer Spur zu hinterlassen. Ich musste halluziniert haben. Gut möglich, dass ich mir in all der Müdigkeit nur etwas eingebildet hatte. Ich seufzte und war bereits dabei, zurück in mein Bett zu kriechen, als mein Blick auf den Brief in meiner Hand fiel. Ich zögerte noch einen Moment, doch die Neugier war überwältigend. Mit einem flauen Gefühl im Magen zerriss ich den Umschlag und faltete den Zettel auseinander. Die wenigen Worte, die in säuberlicher Handschrift das weiße Papier bedeckten, warfen jedoch mehr Fragen auf, als sie beantworteten.

    Range Road 35.

    Überquere das Feld auf der linken Seite.

    Folge dem Weg bis zum Ende.

    Dort wirst du Antworten erhalten.

    Komm in zwei Tagen. 4 Uhr. Allein.

    Frustriert knüllte ich den Zettel zusammen. Ich würde ganz

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