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Kamera.: Mein Leben mit Henrys Vermächtnis
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Kamera.: Mein Leben mit Henrys Vermächtnis
eBook237 Seiten3 Stunden

Kamera.: Mein Leben mit Henrys Vermächtnis

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Über dieses E-Book

Auf unerwartete Weise kommt der fünfzehnjährige Max an eine Kamera, die ein gut verborgenes Geheimnis hütet.
Mit seiner besten Freundin Merle versucht er, sich den immer neuen Herausforderungen zu stellen, die sie mit sich bringt.
Als auch noch ein kleines Mädchen verschwindet und Max diesen mysteriösen Fremden ins Visier nimmt, spitzt sich die Lage drastisch zu.

Wird er es schaffen, den Fall mit Hilfe seiner Kamera aufzuklären?
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum21. März 2023
ISBN9783757834050
Kamera.: Mein Leben mit Henrys Vermächtnis
Autor

Nadine Rostek

Nadine Rostek lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern bei Berlin. Schon früh hat sie ihre Liebe zum Schreiben entdeckt. Die Fotografie kam nur wenige Jahre später hinzu. Beides konnte sie in ihrer Arbeit beim Radio vereinen. Heute widmet sie sich mit viel Herz und Leidenschaft ihrer Familie.

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    Buchvorschau

    Kamera. - Nadine Rostek

    Für meinen heimlichen Helden! Glaube an dich und deine Fähigkeiten. Und sei stolz auf dich. Ich bin es auch.

    Inhaltsverzeichnis

    Veränderungen

    Das große Schweigen

    Das Objektiv

    Die Entdeckung

    Die Neue

    Von Herbstgefühlen und fliegenden Drachen

    Der kann mir nix

    Sind alle Nachbarn verrückt?

    Wo kommen all die Kinder hin?

    Feuerbälle und Glitzerstaub

    Abwärts

    Der Schlüssel

    Schlaf Dämon, schlaf!

    Wie kann das sein?

    Ich werde dich vermissen

    Aber es stimmt wirklich!

    Wenn ich dich in die Finger kriege!

    Mitten in der Nacht

    Das Foto

    Endlich Hilfe

    Aus und vorbei

    Der wahre Alptraum

    Nur die Wurst hat zwei

    Veränderungen

    Seine Zeit nahte mit großen Schritten heran, er war gealtert, gebrechlich. Er musste sie endlich weitergeben, es nicht länger hinauszögern. Sein Körper hatte anderes mit ihm vor.

    Die Knochen schmerzten ihn, seine Gehweise glich einem Balanceakt, einem Drahtseilakt in hundert Metern Höhe. Mit jeder Falte, die hinzukam, jedem Zahn, den er verlor, zeigte sich das Alter in allen Fasern seines Körpers.

    Er hatte einen seiner klaren Momente, saß in einem zu winzigen Zimmer, starrte die kahle Wand an. Nicht ein Bild zierte sie, kein bisschen Farbe war aufgebracht. Sie sah nackt, kühl, alt aus. Sie entsprach genau seinen Empfindungen, spiegelte seine Gefühle wider.

    Draußen verwandelten sich die Blätter an den Bäumen, zogen ihre buntesten Kleider an. Die Welt rüstete sich sorgfältig für die Farbenpracht des Herbstes. In seinem Inneren sah es grau aus. Ausgeblichen, trist. Die letzte Farbschicht lag lange zurück. Mit Wehmut erinnerte er sich an bessere Zeiten.

    Er hatte mit diesem Leben abgeschlossen, es gab nichts mehr zu erledigen. Nur an wenigen Tagen bekam er Besuch, der den Namen im Grunde nicht verdiente, der zu kurz blieb, ihn abfertigte, wie ein Schaffner den Zug. Denn er ähnelte nicht mehr dem Mann aus der Vergangenheit, mittlerweile galt er als zu alt, zu kauzig, zu sonderbar.

    Sein Körper hatte sich verändert, verlangsamt, ließ ihn kraftlos zurück. Früher sprang er die 100 Sprünge mit dem Seil in unter einer Minute. Heute war seine Zeit gekommen. In jeder schmerzenden Bewegung lag der Abschied. In der Krümmung seines einst so stahlharten Rückens das Lebewohl. Er bereitete sich vor. Innerlich wie äußerlich.

    Alles war abgearbeitet und gesagt. Er hielt die Veränderungen nicht mehr auf. Sobald er aufbrach, seine letzte Reise antrat, kamen sie unweigerlich für seinen Urenkel ins Rollen.

    Er hätte ihn gerne davor geschützet, ihm warnend zur Seite gestanden, doch spielte sein Geist gegen die Regeln, die er einst für sich aufgestellt hatte, ließ ihn im Stich, wenn er ihn dringend benötigte.

    Er kaufte sie in den Jahren, in der seine Füße ihn problemlos von einem Ort zum nächsten trugen und er Pläne schmiedete. Zu einer Zeit, in der vieles besser lief, in der er träumte, reiste, die große, weite Welt sah. Alles wollte er festhalten, einfangen und für die Ewigkeit konservieren.

    Es kam anders.

    Er kaufte sich in einem kleinen Laden, betrieben durch einen älteren runzligen Herrn, dieses Zubehör. Der Verkäufer schwatzte es ihm förmlich auf. Damit trat er eine Kette an Ereignissen los, die er nicht vorhergesehen hatte. Für ihn zählte zu der Zeit nur, dass er es für einen Preis erhalten hatte, der deutlich unter dem Wert lag. Was darauf folgte, versetzte ihn umso mehr in Überraschung. Er begriff erst im Laufe der darauffolgenden Wochen, was er sich angeschafft hatte. Es dauerte ein ganzes Jahrzehnt, zu verstehen, was sich dadurch veränderte.

    Er konnte nicht benennen, woher die Veränderung kam, er atmete sie ein wie Luft. Sie durchfuhr ihn so unvermeidbar, wie der Winter auf den Herbst folgte, verdrängte sein Innerstes, schlug Wurzeln in ihm.

    Befremdlich fühlte es sich an, irgendwie beängstigend. Keinem vermochte er es je zu zeigen. Niemandem zu erklären. Bis jetzt.

    Gleichwohl traute er dem eigenen dementen Geist nicht. Nachts beschlichen ihn dunkle Vorahnungen, tagsüber bekam er sie dagegen nie zu fassen. Je kränker das Alter ihn werden ließ, je weniger sein Verstand in der Realität weilte, desto seltener bedachte er seinen Fund.

    Am schwierigsten blieb es, mit gebeugtem Rücken die allerletzten Stufen zu erklimmen. Alles, was er sich vorgenommen hatte, hatte er in die Wege geleitet, hoffte er zumindest. An diesem Abend kämmte er ein letztes Mal sein schütteres Haar, zog sein bestes Sakko an, rückte die zittrig gebundene Krawatte zurecht und setzte sich in seinen Lieblingssessel, er war bereit.

    Stunden später betrat die Nachtschwester das Zimmer, um nach ihm zu sehen, doch da weilte er schon nicht mehr unter den Lebenden.

    ***

    Ihre Zeit lief ebenfalls ab. Sie hörte ihren eigenen Herzschlag, wie das Ticken einer Uhr, die ihr vor Augen führte, wie kurz ihr restliches Leben wäre. Sie wünschte sich zurück, zu allem, was sie kannte, das ihr vertraut war, doch es funktionierte nicht.

    Ihre Beine rührten sich nicht von der Stelle. Nichts an ihr bewegte sich. Mehrfach hatte sie versucht, sich auszustrecken, um zu ertasten, was sie in unmittelbarer Nähe umgab, doch ihre Arme hafteten samt ihres Pullovers wie festgetackert am Untergrund. Nicht einen Millimeter rührte sie sich von dem dreckigen Stück Boden, auf dem sie lag.

    Ihr Hinterhaupt lag auf Beton gebettet. Eine Kante drückte ihr in die Haut. Sie hinterließ einen dumpfen Schmerz. Mit der Zeit war er in ein Kribbeln übergegangen. Jegliches Bewusstsein für ihren eigenen Körper hatte sie verloren. Ihre gesamten Wahrnehmungen waren verblichen wie die Jeans, die sie trug.

    Einzig die in ihr verborgenen Gefühle blieben ihr. Versiegelt, in ihr eingesperrt. Die eisige, körperlose, heraufkriechende Angst, die sie ausfüllte, wie das Blut, das durch ihre Adern rauschte. Die wie wild kämpfte, vor allem gegen die unbändige Sehnsucht nach dem Zuhause, was sie schmerzlich vermisste.

    Sie siechte dahin an diesem dunklen, feuchten, stickigen, verlassenen Ort. Sie roch den Moder, die Fäulnis und ihren Urin. Eine Lache hatte sich mitten zwischen ihren Beinen gebildet. Ein See, der sich weiter ausbreitete, sich in ihre Klamotten fraß. Sie schämte sich, versuchte, wiederholt wegzurücken, wollte es nicht wahrhaben. Das sie in ihren eigenen Ausscheidungen lag.

    Verschleppt an einen ihr unbekannten Ort, erinnerte sie sich weder wann, noch wie sie hierher verfrachtet worden war. Sie wollte hier weg. Das war das Einzige, dessen sie sich sicher war.

    Ihr Zeitgefühl hatte kurz aus der Ferne gewunken und war verschwunden. Tag oder Nacht? Hier unten zählte das nicht. Es herrschte generelle Dunkelheit. Fünf Sekunden, fünf Stunden, fünf Wochen, die Zeitspannen dehnten sich aus wie gefrorenes Wasser. Ihre Kehle brannte, ihre Zunge vertrocknete, schmirgelte wie Schleifpapier die Innenseite ihrer Wangen. Der Durst überlagerte ihre Angst. Wahnwitzig und alles verzehrend.

    Ihr Entführer kam nur in weiten Abständen, um ihr einen winzigen Schluck Flüssigkeit zu reichen. Noch seltener erhielt sie von ihm ein altes, hartes Stückchen Brot. Sie blieb sich selbst überlassen. Lag isoliert und verloren in der Schwärze ihres grausamen Gefängnisses.

    Er betrat oft den Raum, in welchem er sie gefangen hielt. Häufig gab er sich ihr nicht zu erkennen. War einfach da. Sie hörte das geisterhafte Klappern eines Schlüssels, das darauffolgende Scheppern einer Tür. Jedes Härchen auf ihrem Körper stellte sich auf, wenn er sich dicht in ihrer Nähe aufhielt, sie beobachtete, neben ihr kauerte. Unsichtbar.

    Doch sie vermochte nichts dagegen auszurichten. Sie war gefangen in ihrer Starre. Ihr blieb einzig der Blick an die Decke, die sich schwer erkennbar über ihr zeigte und sie regelrecht zu erdrücken versuchte, mit jedem Augenaufschlag.

    Harter, kalter Beton drückte sich in ihren Rücken, hinterließ Spuren. Von unten kroch langsam Feuchtigkeit in die zwei Schichten ihrer Anziehsachen und ließ sie frösteln. Gänsehaut überzog ihren Körper. Sie verstand nicht, was mit ihr geschah. Die Realität lähmte sie, die Zeit stand still und sie mit ihr.

    Jeder Versuch, sich in der Finsternis zu orientieren, scheiterte. Es gab nichts zu sehen, ihr Blickfeld blieb eingeschränkt. Von der einen Kante der Decke zur anderen.

    Sie hatte sich angewöhnt, ihre Augen den Großteil der Zeit verschlossen zu halten. Die Dunkelheit und der kahle Beton, den sie erblickte, sobald sie sie öffnete, ließen sie jedes Mal erneut erschauern. Das ersparte sie sich, indem sie sich hinter ihren brennenden Lidern eine heile Welt herbeisehnte, in der sie morgens mit einem Lächeln im Gesicht am Frühstückstisch saß. Im Kreise derer, die sie liebte und momentan so schmerzlich vermisste. In ihrem Traum führte sie unschuldig und rein ihr Leben, war frei. Sie träumte von einer Welt, in der sie nicht von der Umwelt abgeschnitten in einem Loch lag.

    Doch gänzlich verlassen lag sie nicht in ihrem Gefängnis, rechts von ihr jaulte regelmäßig etwas auf. Dazwischen gab das Tier ein Knurren von sich, alles durchdringend und gefährlich. Sie sah jedoch nichts, hörte nur und erahnte, wie der Hund, keinen Meter von ihr entfernt, dieselben Qualen erlitt wie sie. Das Klirren seiner Kette verriet es ihr.

    In ihren Gedanken kam er zu ihr, kuschelte sich an ihren ausgekühlten Körper. Sie stellte sich bildlich vor, wie streichelzart sich sein Fell sich unter ihren Fingern anfühlte, wenn er sich wärmend und beschützend an sie schmiegte. In ihren Träumen fletschte er wiederholt die Zähne, sobald ihr Peiniger auftauchte, zerriss sein Fleisch. Doch schon wenige Sekunden später kam ihre Angst zurück, vor dem Brummen, das aus den Tiefen seiner Kehle zu kommen schien. Sie wünschte, sie wäre daheim, in ihrem warmen Bett, wachte behütet am nächsten Tag auf. Nichts von all dem hier geschah, es war nur ein viel zu realistischer Alptraum. Doch so jung sie war, sie hatte längst begriffen, dass es für sie keinen Ausweg gab. Es war vorbei.

    ***

    Unterdessen schnüffelte er am Boden. Der Geruch nach Ammoniak drang in seine feine Nase, ließ ihn unter Strom stehen. Tagelang hing er schon an seinen kalten, schweren Fesseln. Ohne Fressen, mit kaum einem Tropfen Wasser. Er war entkräftet, ausgehungert. Wollte Fleisch zwischen seinen kräftigen Zähnen. Zubeißen.

    Hilflos riss er an der Kette, doch sie blieb festgezogen und er hing gefangen an ihr. Ohne die geringste Chance, sich zu befreien.

    Das große Schweigen

    Er fuhr zusammen, setzte sich schlagartig auf und fragte sich, was ihn aus dem Schlaf gerissen hatte. Erst vor einem kurzen Moment war er eingeschlafen, zumindest ließen das seine enorm schweren Augenlider vermuten. Er kämpfte damit sie geöffnet zu halten. Müde gähnend fuhr er sich durchs Gesicht. Erst sechs Uhr am frühen Morgen. Der Wecker auf seinem Nachttisch verhöhnte ihn.

    Mit geschlossenen Augen sank er in seine weichen Kissen zurück, roch den Duft nach frischer Bettwäsche, kühl und samtig berührte sie seine Haut. Er hatte keine Lust aufzustehen, es war Wochenende, für ihn mitten in der Nacht. Er wollte ausschlafen, den Sonntag gemütlich angehen. Kraftlos drehte er sich auf die Seite, zog seine Decke hoch zum Kinn und schob den linken Arm unter das Kopfkissen.

    Er hatte sich gedanklich darauf eingestellt, mindestens zwei weitere Stunden zu schlafen, da hörte er seine Mutter im Flur flüstern: »Wann?«

    Ihre Stimme überschlug sich: »Und wie?« Eine kurze Pause der Stille trat ein.

    »Kann man irgendwas für dich tun, benötigst du Hilfe?« Die Sätze drangen durch das Mauerwerk gedämpft zu ihm. Er reckte den Kopf hin zu seiner Zimmertür, um sie hoffentlich besser zu hören: »Wenn du möchtest, können wir gern vorbeikommen, sag einfach Bescheid.«

    Wieder ein Moment des Schweigens. Die Schritte seiner Mutter entfernten sich von ihm, ihre Stimme klang leiser. Er strengte sich an, sie weiterhin zu hören.

    »Nein, ich wecke ihn nicht, am Sonntag soll er in Ruhe ausschlafen. Es verändert sich dadurch nicht. Ich sage es ihm, wenn er aufgestanden ist. Das ist früh genug«, vernahm er ihre Stimme mit Nachdruck. Sie hatte längst entschieden, wie sie es handhaben würde. Allerdings bildete er sich keinen Reim darauf, worum es inhaltlich bei dem Telefonat drehte.

    In der Ruhe des Morgens hörte er, wie seine Mutter sich vorsichtig fortbewegte.

    »Ja, du auch. Bis dann.« Eine Tür schloss sich.

    Die Stille im Anschluss dröhnte in seinen Ohren. Irgendetwas war geschehen, das hatte er mitbekommen. Langsam schwang er die Beine aus dem Bett, setzte sich auf und beugte sich nach unten über die Bettkante, um seine Socken zu suchen. Die Temperatur in seinem Zimmer stand in Konkurrenz mit dem Kühlschrank, seine Finger zitterten beim Anziehen.

    Er liebte zwar den Übergang von der warmen Jahreszeit zur kalten, wenn die Luft aufklarte, die Welt sich wandelte, dieser Sommer jedoch war so aufregend und packend wie der Höhepunkt eines fesselnden Buches. Er konnte sich nicht vorstellen, wie ihm der Herbst mehr zu bieten hätte. Im Moment erschien er ihm nur unheilvoll.

    In den Sommerferien hatte er die meiste Zeit mit seiner besten Freundin Merle am See verbracht. Gemeinsam feierten sie ihren 15. Geburtstag, wodurch sie endlich genauso alt war wie er.

    Sie waren durch die Gegend gezogen. Beide hatten ihre Kameras ständig im Anschlag. Auf der Suche nach Motiven an den unmöglichsten Orten. Na ja, er besaß keinen eigenen Fotoapparat. Ihm blieb nur die integrierte Kamera in seinem Handy. Er beschwerte sich nicht, das war durchaus ok. Technisch anspruchsvolle Bilder lichtete er damit aber nicht ab. Zu Weihnachten wünschte er sich deshalb eine Spiegelreflexkamera. Bis dahin zog der Herbst mit all seinen bunten Tagen schrecklich langsam an ihm und seiner Handykamera vorbei.

    Nach drei vergeblichen Anläufen quälte er sich endlich in seine Socken. Er suchte den rotschwarz-karierten Pullover, den er gestern unachtsam in die Ecke gepfeffert hatte, und griff ihn sich. Er drückte die Klinke seiner Zimmertür herunter, zwang den linken Arm in den langen Ärmel, zog sich im Flur den Rest des Oberteils über den Kopf und schob umständlich den anderen Arm auch noch hinein.

    In der gesamten Wohnung vernahm man nicht ein Geräusch. Nur in der Küche hörte er seine Mutter leise mit der Kaffeemaschine hantieren.

    »Mama, ist alles ok?«, lautlos öffnete er die Tür und huschte vorsichtig hindurch. Charlotte jonglierte mit den Filtertüten und der Kaffeedose.

    Vor Schreck verstreute seine Mutter Kaffeepulver auf der Arbeitsfläche. Sie drehte sich zu ihm um: »Max, du bist ja wach!« Sie legte ihre Stirn in runzelige Falten und musterte ihn skeptisch, wie er übermüdet und schlaff an die Tür gelehnt stand. Seine blonden Haare hingen ihm wuschelig ins Gesicht, er schob sie gähnend zur Seite. Seine Mutter sagte regelmäßig, er hätte einen riesigen Mund – passt mehr rein beim Essen, war jedes Mal seine verbitterte Reaktion darauf. Auch sonst nahm er den Mund gerne zu voll, zumindest seinen Eltern gegenüber verhielt er sich frech und aufsässig wie ein Kleinkind. Bei anderen benahm er sich hingegen zurück und bekam oft den Mund nicht auf.

    »Ich hoffe, das Klingeln des Telefons hat dich nicht geweckt?«, fragte sie ihn schuldbewusst, wendete ihm den Rücken zu und lief zum Spülbecken hinüber, um Wasser in die vor ihr stehende Kanne zu füllen.

    »Ich hab dich reden hören«, gab er zu.

    »Das war deine Oma«, ihre Miene spiegelte Kummer wider. In ihrem schlabberigen Schlafanzug, nur dicke Wollsocken an den Füßen, mit einem Pferdeschwanz, für den sie vermutlich nie zu alt wurde, stand sie zusammengesunken an der Arbeitsfläche. Die Kaffeekanne hielt sie noch in der Hand.

    »Lass uns kurz drüben hinsetzen«, sagte sie, stellte endlich die Kanne ab, strich ihm kaum wahrnehmbar über den Rücken und schob sich an ihm vorbei, um ins Wohnzimmer zu gelangen.

    »Wieso? Ist irgendwas los?«, Unruhe keimte in ihm auf, er rechnete mit allem.

    Wenn sie verlangte, dass er mitkam, sich mit ihr hinsetzte, gab es entweder eine Zurechtweisung in Hamlet-Länge oder es war etwas passiert.

    Er folgte ihr mit hängenden Schultern ins Wohnzimmer. Unter seinen Füßen bollerte die Bodenheizung, es war mollig warm. Ein krasser Kontrast zu dem Gefühl, was sich in ihm ausbreitete. Kälte nistete sich in ihm ein, ließ sich wie Schneeflocken auf seinen Knochen nieder, durchdrang sie, traf ihn mitten ins Herz. Ihn fröstelte es, weshalb er die Arme um sich schlang, sich tiefer in den Pullover verkroch und hoffte, dass die Wärme an seinen Fußsohlen, es bis hinauf zu seinem Herzen schaffte.

    Kaum hatte er sich gesetzt, die Beine an sich gezogen, hörte er sie sagen: »Henry ist heute Nacht gestorben.«

    Sie strich sich eine lose Strähne aus dem Gesicht, versuchte sie nestelnd wieder in das Haargummi zu schieben. Ihre gesamte Haltung war kraftlos. Jegliche Körperspannung war von ihr abgefallen, wie die Blätter von den Bäumen.

    Auch Max sank in sich zusammen, wie eine Luftmatratze, deren Ventil man geöffnet hatte.

    »Uropa ist tot? Aber«, seine Stimme klang heiser. Er brach ab und versuchte, den Kloß, der sich in seinem Hals gebildet hatte, hinunterzuschlucken. »Wir haben doch gerade erst seine Sachen ins Heim gebracht?« Tief im Magen rumorte es, eine Welle der Übelkeit erfasste ihn.

    Zuletzt hatte er viel zu selten Zeit mit seinem Uropa verbracht, obwohl er ihm als kleiner Junge sehr nahe gestanden hatte. Jeden Sonntag hatten sie gemeinsam gegessen. Er war von ihm verwöhnt und auf Händen getragen worden.

    Seine Mutter hatte ständig gesagt, Henry wäre von Generation zu Generation weicher geworden. Oma Gaby ließ er die volle Härte

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