Was wir nicht sehen: Erzählungen
Von Mara Stadick
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Über dieses E-Book
Drei Begegnungen von Fremden unter ungewöhnlichen Bedingungen mit offenem Ausgang. Und jedes Mal stellt sich die Frage: Wie nah können sich zwei Menschen unter solchen Voraussetzungen kommen? Und wie nah wollen sie sich kommen?
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Buchvorschau
Was wir nicht sehen - Mara Stadick
PROLOG
Es lebten einmal ein König und eine Königin. Sie hatten drei schöne Töchter. Die jüngste Tochter war so schön, dass jeder, der ihrer ansichtig wurde, sie anbetete wie die Göttin Venus persönlich. Diese maßlose Übertragung himmlischer Ehren auf ein sterbliches Mädchen versetzte die wahre Venus in glühenden Zorn. Sie rief ihren Sohn Amor zu sich und befahl ihm dafür zu sorgen, dass sich dieses Mädchen, deren Namen Psyche war, in den niedrigsten und erbärmlichsten aller Männer verliebe.
Da alle Welt Psyche nur verehrte, es aber aufgrund ihrer überirdischen Schönheit niemand wagte um ihre Hand anzuhalten, suchte ihr Vater ein uraltes Orakel auf und erbat einen Gemahl für sie. Das Orakel befahl ihm, das Mädchen auf einen steilen Gebirgsfelsen zu stellen, damit ein Drache sie sich als seine Braut holen könne. In großer Trauer und unter heftigem Klagen gehorchten Psyche und ihre Eltern dem Orakelspruch.
Aber statt des Drachens kam Zephyr, der Herr der Winde, und brachte Psyche, auf Anweisung Amors, der selbst ihrer Schönheit erlegen war, zu einem im Wald verborgenen Schloss. Bereits in der ersten Nacht legte sich der unbekannte Gemahl zu dem Mädchen und machte sie zu seiner Gattin. Die Nächte in dem Wald waren so dunkel, dass Psyche ihn nicht sehen konnte, und vor Tagesanbruch war er entschwunden. Nacht für Nacht suchte Amor Psyche auf, doch vor dem Morgengrauen verschwand er jedes Mal, so dass sie ihn nie zu Gesicht bekam.
Psyche lebte während dieser Zeit alleine auf dem Schloss. Lediglich den Besuch ihrer Schwestern gestattete Amor, um ihre Einsamkeit zu mildern. Er warnte sie aber, sie dürfe sich nicht von ihnen verleiten lassen herauszufinden, wer er sei. Die Schwestern kamen und erkannten, dass sie schwanger war. In ihrem Neid redeten sie Psyche ein, dass sie einen Drachen zum Bettgefährten habe, der ihr wegen seiner furchtbaren Gestalt nie bei Tageslicht gegenübertrete und der sie irgendwann verschlingen werde. Aus Angst um ihr ungeborenes Kind und um sich selbst, befolgte sie den Rat ihrer Schwestern und legte sich für die nächste Nacht eine Öllampe und, zu ihrer Verteidigung, ein Messer neben das Bett. Als in dieser Nacht ihr Geliebter eingeschlafen war, beleuchtete sie ihn und erblickte kein Ungeheuer, sondern den schönen Körper des geflügelten Amor. Psyche, von Liebe überwältigt, merkte nicht, wie ein Tropfen des heißen Öls auf Amors Schultern fiel. Der Gott erwachte daraufhin, fühlte sich betrogen, flog weg und ließ Psyche untröstlich zurück.
Venus erfuhr bald davon, dass ihr Sohn ihre Befehle missachtet und stattdessen mit Psyche ein Kind gezeugt hatte. Voller Wut machte sie sich auf die Suche nach dem Mädchen. Als sie diese endlich in ihrem Versteck gefunden hatte, trug sie ihr auf, verschiedenste lebensgefährliche Aufgaben zu erledigen. In seiner Angst um Psyche vergaß Amor seine Kränkung und eilte ihr zur Hilfe. Nachdem er es geschafft hatte, sie vor dem Tod zu retten, erbat er von Jupiter die Erlaubnis, Psyche trotz ihrer Sterblichkeit zu heiraten.
Der oberste Gott hatte aufgrund ihrer großen Liebe Nachsicht, erteilte die Erlaubnis und machte Psyche unsterblich. Diese gebar Amor eine wunderschöne Tochter, welche den Namen Voluptas (Wollust) erhielt.
(nach Apuleius)
DATE IM DUNKELN
Tristan: dein name ist mir ein rätsel. er ist so kurz und anders. was verbirgt sich dahinter?!
Sam: finde es heraus!
Tristan: gut. dann beginne ich mit einer einfachen frage: bist du eine frau?
Sam: ich denke ja.
Tristan: du bist dir nicht sicher?
Sam: wer kann sich schon sicher sein, wer er ist?! als kind sah ich aus wie ein junge.
Tristan: und wie hast du so gelebt als mädchen, das wie ein junge aussah?
Sam: gut eigentlich. ich musste mich nirgendwo einsortieren und habe getan was ich wollte. Viele haben mich damals für ein wenig verrückt gehalten.
Tristan: und wie lange ging das so?
Sam: eigentlich die ganze schulzeit über. erst danach begann ich langsam wie eine frau auszusehen.
Tristan: und dann bist du normal geworden, ohne verrücktheiten?
Sam: naja, was heißt schon normal?! ab und zu hatte ich auch dann noch seltsame einfälle.
Tristan: was für einfälle?
Sam: oh, verschiedenes ... manchmal hatte ich ideen, die ich ausprobieren wollte ... oder träume.
Tristan: was für träume waren das?
Sam: ich hatte zum beispiel eine zeitlang immer wieder den gleichen traum: ich stehe mitten in einer menschenmenge und merke plötzlich, wie alle vor mir zurückweichen und mich anstarren... ich weiß aber nicht warum ... bis mir auffällt, dass ich nackt bin ... splitternackt.
Tristan: ich glaube das träumen die meisten menschen irgendwann einmal. und du wolltest ausprobieren, wie sich so etwas im wirklichen leben anfühlt?
Sam: ja. aber in dem moment, in dem ich mich darauf einließ, war es nicht mehr das wirkliche leben ... es kam mir vielmehr selbst wie ein traum vor ... oder eben wie ein anderes leben als mein eigentliches.
Tristan: aber du hast es tatsächlich mal gewagt? nackt aus dem haus zu gehen?
Sam: so gut wie nackt zumindest. ich war mit meinem damaligen freund auf ein fest eingeladen. das war in kassel, dort habe ich früher studiert. es war sommer. ein bekannter von ihm, jemand mit reichen eltern, feierte im schlosspark seinen geburtstag. mehrere hundert leute waren eingeladen. überall waren weiße tücher, tausende von kerzen flackerten wie glühwürmer in den bäumen … ein sommernachtstraum!
Tristan: erzähl mir mehr von dieser nacht!
Sam: einen tag vorher war ich in der stadt und lief an einem spielzeugladen vorbei, der körpermalfarben im schaufenster hatte. ich dachte, dass das schön sein müsste, sich selbst zu bemalen. mein körper als kunstwerk. ich habe die farben gekauft.
Tristan: verstehe. du warst nicht ganz nackt, weil du dich bemalt hast? woher kam dieser außergewöhnliche einfall, so zu diesem fest zu gehen?
Sam: als ich zu hause die farben ausprobierte, dachte ich, wenn man schon ein bemaltes kunstwerk ist, dann muss man auch unter die menschen gehen und dieses kunstwerk zeigen. also rief ich abends meinen freund an und bat ihn, am nächsten tag schon eine stunde vor dem fest zu mir zu kommen.
Tristan: du wolltest dich von ihm bemalen lassen?
Sam: ja. er war zwar kein künstler, aber er studierte kunstgeschichte und hatte ein wenig talent.
Tristan: und hat er es tatsächlich getan?
Sam: ja. er fand es amüsant, ein kunstwerk aus mir zu machen. vielleicht hat er es sich anfangs nicht so genau überlegt. vielleicht glaubte er nicht ganz, dass ich tatsächlich so auf das fest gehen wollte. später fand er das dann jedenfalls nicht mehr lustig.
Tristan: feigling!
Sam: stimmt. das war auch unser letzter gemeinsamer abend. ich habe ihn zwar überreden können, mit mir gemeinsam zu dem fest zu fahren. aber er wollte, dass wir getrennt hineingingen und kündigte an, dass er so tun werde, als kenne er mich nicht. und das hat er dann auch durchgehalten.
Tristan: du arme.
Sam: ach, das war schon in ordnung. es sollte ja meine eigene erfahrung sein.
Tristan: und wie hast du dich dann schließlich gefühlt an dem abend?
Sam: ich fühlte mich befangen, aber auch schön. ich schillerte in allen farben. wie ein schmetterling: schön, leicht, aber auch sehr verletzlich. und ich hatte angst. ich fürchtete, dass mich die menschen auslachen könnten. aber das wäre nicht das schlimmste gewesen. dann hätte ich immer noch davonfliegen können. viel mehr angst hatte ich davor, dass mich jemand berühren könnte. ich wusste, wenn jemand mich berühren würde, wäre das mein tod. dann würde ich nie mehr fliegen können. in den ersten minuten auf diesem fest malte ich mir aus, wie sich die menschen auf mich stürzen, mich zu fangen versuchen, schrill lachend dreist nach mir grabschen, mir zwischen die beine fassen, auf den po klatschen, meine brüste quetschen … aber es passierte nichts. gar nichts.
Tristan: sie mieden dich?!
Sam: nein, das würde ich nicht sagen. sie sahen mich an. ich fühlte ihre blicke. sie verfolgten mich. aber es war kein anstarren. es waren vorsichtige blicke. alle wichen vor mir zurück, machten mir platz. jeder hielt einen gewissen abstand zu mir. und irgendwann hatte ich keine angst mehr. ich war einfach nur noch stolz auf meinen schillernden körper.
Tristan: schade, dass ich damals nicht dabei war. ich stelle mir vor wie du durch den park schwebst, wie die luft deine haut streichelt, wie du getragen wirst von den blicken der menschen dort, die keinerlei verachtung ausdrücken, sondern nur bewunderung. das war sehr mutig von dir!
Sam: ach, ich weiß nicht, ob das wirklich so mutig war.
Tristan: ich finde schon, dass es mut erfordert, sich anderen menschen auf eine solche weise auszusetzen. menschen können grausam sein. wenn sie deine angst riechen, dann fallen sie wie wilde tiere über dich her.
Sam: na dann habe ich wohl glück gehabt, dass ich nicht aufgefressen wurde! jetzt bin ich aber müde. ich glaube ich muss mich verabschieden. bist du öfter hier? sprechen wir uns wieder?
Tristan: darauf setze ich all meine hoffnungen! wie wäre es morgen abend, um die gleiche zeit?
Sam: gut. ich versuche es.
Tristan: ich freue mich darauf! einen schönen abend noch, schillernder schmetterling!
Sam: danke, dir auch! wie sagt man beim chatten? auf wiederschreiben?
Tristan: und auf wiederlesen!
Susanne schaltete den Computer aus. Es war mal wieder spät geworden. Sie griff nach ihrer Jacke, zog sie an und schloss alle Druckknöpfe. Nachdem sie noch einmal überprüft hatte, dass keiner offen geblieben war, stellte sie ihren Schreibtischstuhl umgekehrt auf den Tisch, sah sich um und verließ zögernd das Zimmer. Sie ging den langen Gang entlang und warf dabei einen Blick in jedes der Büros, an denen sie vorüberkam, und die alle mittlerweile leer waren. Als sie beim Nachtportier vorbeiging, grüßte sie ihn mit einem fast nicht feststellbaren Nicken. Dann verschwand sie durch die Drehtür. Der Fahrradsitz war nass – sie hatte vergessen ihn abzudecken, was sie sehr ärgerte – und der Wind pfiff unter ihren Rock. Es war ganz schön kalt für Anfang September.
Sie trat in die Pedale, denn sie wollte schnell nach Hause. Sich auf ihrem Sofa mit einem Buch in die Decke kuscheln. Susanne empfand das als einen unglaublichen Luxus: machen zu können, wonach einem gerade der Sinn stand! Seitdem sie mit achtzehn zu Hause ausgezogen war, war es dieses Privileg, das sie sich immer wieder vor Augen hielt, wenn sie begann an ihrem Leben zu zweifeln. Das war etwas, was ihr niemand mehr nehmen konnte. Sie konnte essen was sie wollte. Sie konnte ins Bett gehen, wann sie wollte. Sie konnte lesen, solange sie wollte. Sie konnte aussehen, wie sie wollte, reden oder nicht reden, was sie wollte ... ein Leben in absoluter Freiheit.
Der Wind ärgerte Susanne. Er wehte ihr eine Haarsträhne immer wieder ins Gesicht. Sie warf sie mit einem energischen Kopfschwung nach hinten und strich sie hinters Ohr. Susanne hatte schulterlange, glatte, blonde Haare, die sie meistens in einem Pferdeschwanz festband, der ihre Gesichtszüge strenger wirken ließ, als sie eigentlich waren. Unter ihrer