Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Patt
Patt
Patt
eBook316 Seiten3 Stunden

Patt

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Stellen Sie sich vor, eine Fee bietet Ihnen an, drei Wünsche zu erfüllen. Kaum haben Sie diese genannt, ändert sie sie ab und nennt Bedingungen. Die Bedingungen scheinen harmlos. Doch da ... stellt sich heraus, dass nicht die Fee die Wünsche erfüllt, sondern dass die Wünscherin sie sich selbst erfüllen muss.
Immerhin hilft die Fee dabei, die richtigen Menschen dafür zu finden (sind schließlich ihre Klienten).

Beim Lösen des Auftrags dieser intriganten Fee begegnet die Protagonistin vielen wilden, engagierten Frauen in der Schweiz, den USA, China.
SpracheDeutsch
Herausgebernet-Verlag
Erscheinungsdatum6. Dez. 2023
ISBN9783957203922
Patt
Autor

Regina Rinaku

Regina Rinaku ist seit dreißig Jahren Business-Analystin und Projektleiterin in vielen Betrieben und Branchen der Schweizer Wirtschaft. Ihre Ausbildung in Verfahrenstechnik und Altorientalistik hat sie zu einer Ruhebewahrerin und Menschenbeobachterin im hektischen Projektalltag gemacht. Stakeholder-Management nennt man das neudeutsch: genau analysieren, wer an einem Prozess beteiligt ist, welche Motive sein Handeln treiben. Pats Handlungsmotive sind komplex, durchmischt von siedendheiß und grabeskalt. Ähnlich durchmischt, aber auf ganz andere Lebensbereiche verteilt, sind die Gefühlsmixturen ihrer besten Freundinnen. »Patt« ist Regina Rinakus fünft-publiziertes Buch. Es erzählt auf vielfachen Leserwunsch von Pat und ihrem Umgang mit dem Goldregen, welcher ihr Leben auf für sie unerwünschte Weise verändert. Wie geht man mit einem Geschenk um, das man nicht haben will? Wenn man sich durch viel zu viel des Guten und gleichzeitigen Katastrophen erst mal völlig bewegungsblockiert, also im Schach-Sinne pattgesetzt fühlt?

Ähnlich wie Patt

Ähnliche E-Books

Fiktion für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Patt

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Patt - Regina Rinaku

    Intro

    Pat und ihre Geschichte ist in Regina Rinakus Werk nicht neu. Sie ist eine der drei Frauen »Im Wandel«. Mit ihrem Goldregen-Sternensegen beginnt Regina Rinakus vorwiegend dialoggetriebene Erstpublikation. Mit Sus nimmermüden Versuchen, Pat das zugefallene Geld zu entlocken und zu verprassen. Pat ist gegenüber Sus Abenteuerlust unerklärlich verschlossen.

    Im Beat San tritt Pat wieder auf. Sie ist es, die dem entlassenen Bankdirektor Beat den Titel San verleiht. Die Zikaden-Flunkereien im Klostergarten am Emei Shan bilden für den immer noch mit sich Kämpfenden ein Wendepunkt in seiner Suche nach innerer Ruhe nach dem gewaltsamen Abbau des mittleren Kaders im Zürcher Bankenmilieu.

    Pat ist am Emei Shan eine flunkereienanstoßende, verspielte Gesprächspartnerin, doch umgibt sie auch ein Hauch von Geheimnis, lauert ganz nahe ihrer Oberfläche, beinahe greifbar Trauer, Glück, Unruhe.

    Beat geht diesem Seelenmix nicht nach, weil ihm sein eigenes Drama nähersteht.

    Sie selber aber kann ihm natürlich nicht ausweichen.

    Das vorliegende Buch taucht in ihr Drama ein.

    Jetzt mal ganz privat: Was würden SIE tun, wenn Sie von einer Fee nach drei Wünschen gefragt würden und die Fee erst nach deren Aussprache die Bedingungen nennen würde?

    Teil 1

    Am Grab

    Ist Ihnen das ehrlich noch nicht passiert? Ich meine, dass Sie an einem Grab standen und dachten: Ich hatte nie die Gelegenheit, dir zu sagen, wie sehr ich dich liebe.

    Aber nun ist’s zu spät, und wer weiß, wie’s geworden wäre, wenn du mich jemals gelassen hättest. Nur schon, dir dies zu sagen. Das Speziellste ist, dass ich dastehe, an deinem Grab. Die Blumen ordne, Moos von deinem Stein kratze, den Namen lese, der fünf lange Jahre lang in mein Herz graviert war – der sich wie ein herbstlich fallendes Blatt sanft, beinahe scheu auf mein Herz gelegt hatte, der sich dort festgeklebt hatte, den ich mir in den Studentenjahren in den Herzmuskel gepresst, gemeißelt, tätowiert hatte, unauslöschbar, unüberwindbar. Den ich in einsamer Jung-Associate-Zeit vor mich aufgesagt hatte wie ein Mantra, wieder und wieder. Pat und Sem, Sem und Pat, ein von den Himmeln gewolltes Paar. Der in glücklicheren oder von Tätigkeit erfüllteren Zeiten etwas abschwoll, doch nie ganz verschwand, der in einsamen und schwierigeren Zeiten wie ein fernes, Wärme versprechendes Feuer leuchtete – dass ich nun da stehe an seinem Grab, ihn lese, den Buchstaben im Stein nachspüre und nichts fühle bei diesem Gedanken.

    Severin Landoldt. Nichts.

    Landoldt Severin. Nichts, absolut nichts.

    Auf besondere Weise entrückt in etwas wie eine Wolke, der Summe der in all meinen Lebensjahren gesprochenen Mantras fühle ich nichts. Jedes Mal, wenn ich an seinem Grab stehe. Praktisch jeden Tag. Steht die Welt still. Fühle ich die Welt, die Zeit nicht mehr.

    Ist es ein Regentag? Wind? Sonne? Schnee? Ich weiß es nicht. Spüre nichts. Mein Herz ist leer. Alles ist vorbei, ist nie dagewesen. Gab es nie für mich. Wird es nie geben.

    Alles erzähle ich an diesem Grab. Erzähle es einem Stein. Bin selbst leer und kalt und der Welt entrückt.

    Meine tägliche leere Zeit an seinem Grab. Dein Grab, nicht sein Grab. Du warst mir stets viel zu nahe, um in dritter Person von dir zu reden. Warst immer ein Teil von mir. Bis …

    Ah – ein Leser. Sorry, hab Sie gar nicht kommen sehen. Dass ich so vor mich hinrede. Ich denke immer, meine beste Freundin Su sei da, und ich könne einfach drauflosreden, wie ich’s mit ihr tue. Tat, bevor sie mir entschwand. »Familie« dachte, dann diese unmögliche Ehe in Erwägung zog, ein willkürlich empfangenes Kind, wenn’s anders nicht ging.

    Su würde jetzt antworten. Würde eine geistreiche, originelle, selbstgefundene und selbstformulierte Weisheit aussprechen, welche diese Mantrawolke, dieses Herz-Tattoo, diese Nichtswolke, diese lähmende Leere verstehen oder nicht-verstehen würde, erklären oder lächerlich machen, verbal niederreißen. Sie würde sagen, sie hätte es von allem Anfang an gewusst. Er sei kein Mensch, der teilen kann, schon gar nicht sich selbst.

    Ich würde weghören, wie immer, ihr nicht glauben. Überzeugt sein, dass ich es schaffe. Einen Weg zu ihm, diesem Stein hier, finden, mit ihm finden. Es fertigbringen, dass er mehr als nur ein Grabstein werde in meinem Leben.

    Sie hätte gelacht, wie immer. Nasenschnaubendes Lachen: »Du machst dir da was Gewaltiges vor.« Immerhin würde sie antworten.

    Stattdessen: neben der Sem-losen eine Su-lose Leere. Ein weiteres Set an Fragen, welches verhallt, weil kein Ohr sie hört, hören kann noch will.

    Ups, noch so ein Gefühl, bei dem ich nichts spüre. Nur einfach diese Leere, diese Leere.

    Eigentlich müsste ich voll sein, übervoll, voller Pläne und Projekte. Müsste den Grabstein hinter mir lassen und meine neue Situation umarmen. Mich von ihr packen lassen. Von Lebenslust schäumen. So wie ich immer auf alle wirke. Müsste sprudeln vor Freude, tanzen vor Glück, mich überschlagen vor Unfassbarkeit. Mir ist das zugefallen, von dem die meisten Menschen nur träumen.

    Tu es aber nicht.

    Bin es nicht.

    Es hat mich erschlagen. So was wie innerlich gelähmt. Die Fülle nach der Leere. Die Aussicht auf ein nie endendes Fest. Sämtliche Türen weit geöffnet. Nach einer kargen Kindheit und einem Erwachsenenleben geprägt einzig von Ehrgeiz und Erfolg, nach einem Start in die Liebe, aus welcher völlig unvermittelt ein traumatisches Fall-Erlebnis, ein Grabstein wurde, ist plötzlich alles möglich. Wirklich alles. Das ganze Alles. Und noch viel mehr. Optionen, viel zu viele Optionen, können Sie sich das vorstellen?

    Ach, was frage ich. Natürlich können Sie nicht. Niemand kann es, weil niemand das erlebt. Ich bin – wie mehrfach aus der Welt katapultiert. Vereinzelt. Alleiner als jemals zuvor, an meinen moosüberwachsenen Stein gefesselt, mehr denn je. Bewegungsunfähig. Patt.

    Wie ein Blitz, eine Gewitterserie von Blitzen, prasselte alles auf mich ein. Stellte sich mir die Frage: Was will ich eigentlich? Was sind meine Träume? Was will ich bewirken in der Welt?

    Während man unten, am Boden der Realität noch so vor sich hinträumt, während man liebäugelt und seine ewig mit Machbarkeiten kämpfende Seele streichelt und tätschelt, hebt man in den Lüften des Nichtmehr-Alltags ab in ein Gestrüpp voller Fragezeichen. Wenn die Grenze der Machbarkeiten plötzlich entfällt. Gravitation ist hilfreich, wissen Sie. Sie stützt. Gravitas, gravitatis, Schwere. Statio.

    Ach. Lieber den Blick wieder senken. Der Boden ist einfacher zu ertragen als die Lüfte.

    Alles, was ich im Moment habe, ist dein Grab. Meine einzige Beziehung. Die einzige Grenze. Das Niegewesensein. Dein völlig überraschender Sprung aus unserer beinahe schon greifbaren Vielleicht-Zukunft. Alles ist möglich, doch nicht, es mit dir zu teilen. Nie war mir sowas beschert. Wieso nicht? Wovor hattest du Angst, Sem? Wo-vor hattest du Angst? Was musstest du um jeden Preis verhindern?

    Hundert Fragen, ein bemooster Stein, der eigentlich gar nicht bemoost, sondern glattgekratzt ist. Ich, davor, flugbehindert. Das ändert sich auch mit dieser Gewitterserie von Goldregen-Blitzen nicht. Du bleibst für alle Ewigkeit dort, wohin du gesprungen bist, auf der anderen Seite des Machbaren. Dort, auf der Seite des Istniegeschehenen.

    Ich habe nach deinem Sprung ohne Trauertage einfach weitergearbeitet. Meinen Arbeitskollegen nichts gesagt, den besorgten Fragen meines Vorgesetzten ausweichend geantwortet. Mir den Schock so wenig wie möglich anmerken lassen. Niemandem etwas davon erzählt, auch nicht und schon gar nicht Su. Ihr die Zeitung mit der Todesanzeige unter einem Vorwand entnommen. Wollte es nicht teilen. Wollte keine schnöden Kommentare über Sem hören. Den sie nie mochte. Den sie von Anfang an aus tiefstem Herzen verabscheute.

    Auf vieles haben uns unsere Schulen vorbereitet, doch nicht, dass das Leben eine so einsame Sache ist. Mein Leben ist die Geschichte einer Frau ohne Liebe. Einer begnadeten, erfolgreichen Frau ohne …

    Ach was. Alles, alles, was ich will, erreiche ich in meinem Leben, und jetzt prasselt zusätzlich noch alles, was ich gar nicht haben will, alles, was ich nie wirklich haben wollte, über mich herab. Doch alles Emotionale bleibt mir verwehrt. Ein eifersüchtiger Überirdischer wacht über mich. Will mich für sich behalten. Nicht für sich, aber behalten.

    Oder ein Toter? Sem? Ist dies deine Art von Liebe? Deine ewige Mitteilung: »Ich schaff’s nicht, mich dir zu schenken, aber andere Vertraute sollst du auch nicht haben?« »Für immer fessle ich dich an meinen Grabstein.« Ist es das?

    Vielleicht sind die Umstände von Sems Tod das Einzige, was die gute Su mir nie aus der Nase wurmen konnte. Sie gehen mir zu tief.

    Es dauerte Monate, bis sie mich fragte, wieso ich eigentlich nie mehr von meinem queren Studienfreund erzähle.

    »Habt ihr euch getrennt?«

    »Ja, getrennt«, nickte ich. Er hat sich von mir getrennt. Mir bleibt nur sein Stein. Aber das antwortete ich nicht, nickte nur, wich ihrem Blick aus.

    »Oje«, sagte sie, »vielleicht besser. Er ist ein verschrobener Typ.«

    War, Su, war, dachte ich. Lächelte sie mit einem verletzten Blick an. Wechselte das Thema, und sie sprang sofort aufs Neue auf. Wohl auch glücklich, der Peinlichkeit zu entkommen. Obwohl sie generell eine ausgesprochene Vorliebe für Peinlichkeiten hat.

    Prima, nicht? Wenn man eine Freundin so gut kennt, dass man ihr sein Allerinnerstes vorenthalten kann.

    »Aber irgendwas ist anders an dir«, kam sie nach einer Weile trotzdem aufs Thema zurück, »irgendeine dunkle Wolke schwebt neuerdings über dir. Wieso teilst du sie nicht mit mir? War ich nicht immer deine beste Freundin? Bin ich dir nicht mehr gut genug für Freundinnengespräche?«

    Da sie nicht lockerließ, erzählte ich ihr eine Geschichte, die nicht mir selbst, sondern zwei Angestellten einer Nachbarabteilung zugestoßen war. Eine Komposition zweier unschöner Angriffe. Der einen hatte ein Arbeitskollege den Ring gestohlen, den sie auf dem Pult liegenlassen hatte, während sie Kaffee holen ging. Er hatte diesen Ring keine Woche später seiner Frau geschenkt, und die hatte öffentlich damit geprahlt. Eine andere schwärzte er mit peinlichen Bagatellen so lange direkt bei der Personalabteilung an, bis sie mit der Begründung »unhaltbares Teamverhalten« entlassen und per sofort freigestellt wurde. Ein Megakameradenschwein, das für seine Aktionen nie Konsequenzen ziehen musste. Die Kombination dieser Ereignisse waren der dramaverliebten Su Unterhaltung genug, dass sie auf ihre sonst so spitzfindige Fragenbohrerei weitgehend verzichtete und mich in meiner Trauer in Ruhe ließ.

    Diese Distanz war mir wichtig, wirklich.

    Mit dieser Lüge halste ich mir allerdings auf, dass sie von meinem Scheingeständnis an über kaum anderes sprechen wollte. Dass ausgerechnet ich, die ewige Streberin, mich aus meinem Superspezialistenjob rausmobben ließ, wollte ihr nicht in den Kopf. Ist ja auch nicht gerade wahrscheinlich. Dass jemand mit diesen plumpen Tricks dies geschafft haben sollte, noch weniger. Ist ja auch nicht besonders glaubhaft.

    Aber meinen Grabstein, den hätte ich nie im Leben mir ihr geteilt.

    Goldregen-Sternensegen

    O.k., Stein beiseite, Su beiseite. Eins nach dem anderen.

    Wie das mit dem Goldregen geschah? Schleichend. Hinterhältig. Sukzessive. Genauso, wie man es eben nicht mag. Aus heiterhellem Himmel überraschten mich die Ereignisse. Schlag auf Schlag. Eine Serie von Unwahrscheinlichkeiten.

    Sobald ich mich von einer freudigen Überraschung gelöst hatte, sobald ich dachte, jetzt ist’s vorbei, ich habe meinen unverdienten Teil erhalten, danke, war nicht nötig, aber nett – folgte der nächste goldregenartige Sternensegen. Das nächste …

    Glückliche Ereignis?

    Sie Träumer.

    Glück ist, was man sich erarbeitet, nicht, was einem zufällt.

    Sie können nicht folgen? Bin ich zu schnell? Soll ich vorne anfangen?

    Okay.

    Es, der Goldregen – über den Sprung erzähle ich ein andermal – begann damit, dass ich im Zug eine Plastiktüte voller Tausenderscheine fand. Längst erzählt und gedruckt.

    Unter der gegenüberliegenden Sitzbank, zu meinen Fußspitzen, lag eine banale, oft gebrauchte Standard-Plastiktüte eines der größeren Kaufhäuser unserer Stadt. Sauber zusammengefaltet um einen eckigen, ungefähr fingerbreiten Inhalt gewickelt.

    Ein Buch, dachte ich sofort, und begann, mir mögliche Titel vorzustellen. Martin Suters Businessclass? Nein, ein bisschen länger und dicker. Jedenfalls ein Sonderformat, nicht recht passend zu den Titeln, die mir in den Sinn kamen. Ich wandte den Blick ab, schaute der dämmernden Landschaft beim Vorbeiziehen zu.

    Doch es half nichts. Die Tüte hatte sich bereits in meine Gedanken gesaugt. Ein Buch. Eine Schachtel. Ein … was-auch-immer, es GEHÖRT jemandem. Jemandem ist sie beim Aussteigen unbemerkt entglitten. Jemand vermisst sie. Man könnte sie dieser Person nachsenden.

    Ich bückte mich, hob sie auf. Ein Teil des Inhalts verrutschte. Also nichts Gebundenes, nichts Geklebtes. Da konnte ich nicht mehr anders. Öffnete sie, warf einen vorsichtigen Blick hinein.

    Schloss sie rasch wieder.

    Unmöglich! Das kann nicht sein.

    Tausender …? Aber … das müssen ja … Dutzende sein! Wer verliert so was, wer lässt so was im Zug liegen?

    Rasch schloss ich die Tüte, wickelte sie um ihren Inhalt, legte sie zurück unter die Sitzbank. Blickte wieder zum Fenster hinaus. Ans Fenster. In mein sich spiegelndes Gesicht. Doppelgesicht. In meine sprachlosen Augen.

    Meine Gedanken rasten. Wer lässt so was liegen? Wer findet so was? Wieso ausgerechnet ich?

    Kann man den Besitzer herausfinden? Sie an ihn zurücksenden?

    Sind sie wirklich echt?

    Ich gab ihr mit der Ferse einen Schubs. Als könnte ich sie damit zum Verschwinden bringen.

    Da verkündete die Lautsprecherstimme den Bahnhof, an dem ich aussteigen musste. Schon begann der Zug zu bremsen. Urplötzlich überfiel mich das Bedürfnis, den Schuh neu zu binden. Ohne zu überlegen, beinahe im Reflex, bückte ich mich. Doch nicht zum Schuh. Hastig, als müsste ich mein eigenes Denken überlisten, zog ich die Tüte unter der Sitzbank hervor, stopfte sie in mein Business-Köfferchen und machte mich zum Aussteigen bereit.

    Stieg aus. Im Kopf nichts als meinen Fund, joggte ich mechanisch, wie betäubt, zum Fahrradstand, suchte mein Rad, schloss es auf, hob es aus der Halterung, befestigte mein Business-Köfferchen, zurrte das Gummiband fest, stieg auf, machte Licht, pedalte die ersten paar hundert Meter.

    Erst als ich das besiedelte Gebiet verlassen hatte, erwachte ich aus dieser pragmatischen Einfach-tun-und-rennen-Dumpfheit. Hielt an, stieg ab – stimmt nicht. Ich springe immer ab, bevor das Rad vollständig stillsteht, laufe die paar Schritte bis zum Stillstand mit. Lehnte mein Fahrzeug gegen die letzte, helle Straßenlaterne, lockerte das Gummiband, öffnete das Köfferchen, entnahm die Tüte, öffnete sie, flippte die Scheine durch, begann zu zählen.

    Zählte fertig.

    Zählte nochmals.

    Hundertsechsundfünfzig. Alles Tausender. Nichts anderes in der Tüte. Kein Notizzettel, kein Visitenkärtchen. Kein Hinweis auf den Eigentümer.

    Wieder zuwickeln, einpacken, ins Köfferchen einsperren, das Köfferchen festzurren, aufs Rad steigen, fertig … heimfahren.

    Wie betäubt.

    Das kann nicht sein.

    Daheim, in der Waschküche, wo ich mich immer umziehe, zählte ich die Scheine nochmals. Ja, sie waren echt. Zeigten normale Gebrauchspuren. Einige sogar auffällig starke. Und ja, sonst war wirklich nichts in der Tüte.

    Aber das haben Sie alles schon gelesen.

    Ich ging weiter wie normal zur Arbeit und hielt die Sache hinter fest verschlossenem Mund verriegelt. Und die Tüte in einem verschlossenen Schrank im hinteren Teil meiner privaten Waschküche. Dort, wo die kaum gebrauchten Rollerblades stehen, die mich beim längeren Fahren drücken. Dort blieb dieser absurde Fund, während ich in den Tageszeitungen auf einen Hinweis auf seinen Verlust wartete. Während ich beim Pendeln die Ohren spitzte.

    Bis Su mir die Geschichte aus der Nase wurmte. Sie hat so eine Art. Nichts bleibt ihr verborgen. Alles durchschaut sie sofort, kommentiert es mit spitz treffenden Worten. »Der Sekundenbruchteil, der dein Leben veränderte«, betitelte sie. Unzutreffenderweise. Aber das wussten wir beide noch nicht. Es war bloß das erste dieser Ereignisse. Lebensverändernd wirkte nur die Abfolge, nicht das Initialereignis.

    Su spann sofort Geschichten zur Herkunft des Geldes. Schenkkreis. Rausch einer Schenkung. Schuldgefühle, Geister. Verliebte sich auf der Stelle in mein gefundenes Geld. Versuchte trickreich, es mir aus der Tasche zu ziehen. Sie schlug vor, es in einem Supercoup zu verprassen, eine Rambazamba-Party zu schmeißen, ein wirklich unvergessliches, historisches Giga-Rambazamba.

    Ihr Alltag in der Bibliothek ist ihr zu öde. Sie träumt von einem Leben als wilde Ballade.

    Ich nicht. Mein Arbeitsleben ist immer spannend und herausfordernd. Ich habe andere Träume. Ich träume von ruhigen Inseln zwischendurch. Stell dir vor, du kannst eine Wohnung einrichten ganz ohne Ikea. Eine Küche ohne dieses Übermaß an stets zu kleinen Einbauschränken, stets zu großen Küchengeräten.

    Doch ich wischte solche Träume weg. Das Geld gehört mir nicht. Ich habe kein Recht, davon zu träumen, es auszugeben. So wand ich mich.

    »Also wellnessen«, warf Su ein.

    Ich zögerte. Lebensveränderungen abrupter Natur mag ich nicht. Insbesondere, wenn sie von außen kommen. Erst recht mag ich nicht mit fremdem Geld wellnessen. Es gibt keinen Grund zu klotzen. Ich bin ein Rationalist. Ein Realist. Möchte es bleiben. Das Geld gehört mir nicht. Jemandem fehlt es.

    Wieso ich die Plastiktüte nicht zur Polizei brachte? Keine Ahnung. Vielleicht, weil alles einfach zu absurd war.

    ***

    Wenige Wochen darauf starb Mama. Ich war die Letzte, die sie noch lebend gesehen hatte, tags davor auf Besuch.

    Papa war im Spital. So war ich es, die alles Administrative erledigte und die Beerdigung organisierte. Papa wurde genau auf die Feier entlassen und war daher etwas reduziert.

    Meine Geschwister veranstalteten die absurdeste Beerdigung, die man sich vorstellen kann. Besoffen sich – mehr mit Obszönitäten als mit Wein, dichteten spontan anstößige Verse und sangen sie in selten einigem Chor.

    Natürlich begann gleich in den folgenden Tagen der Wettlauf, wer aus dem Haus der Eltern die wertvollsten Stücke unbemerkt entnehmen kann.

    Wertvoll? Stellen Sie sich vor, wertvolle Stücke im Haus eines alten Paars, welches viel zu viele Kinder hatte, viel mehr, als es sich leisten konnte.

    »Lasst doch Papa wenigstens, was er zum Leben braucht!«, warf ich gegen alle Seiten ein.

    Nutzlos. Niemand hörte. Als wäre ich Luft, Glas, nichts. Unsere Familie ist so. Ich bin so. Meine Rolle in dieser wilden Horde ist die der Nichtexistierenden. Eine Glaspuppe. Ein Hauch.

    »Du hast leicht reden. Du bist reich. Du hast alles.«

    Reich. Also wirklich. Als sei irgendeine von uns mit mehr als nichts ins Leben gestartet. Hyänen, gierige.

    Als der Sturm vorbei war, ging ich Papa besuchen, stopfte die Löcher. Schaffte ihm das zu einem würdevollen Leben notwendige Entwendete neu an. Also wirklich. Hyänen, gierige.

    Wir wurden zu einem Notariatstermin geladen, noch eine so widerliche Jeder-gegen-jeden-Schlacht. Was hat unsere Geschwisterschar eigentlich zu einer so destruktiven Horde gemacht? Aber versuchen Sie nicht zu antworten, ich will’s nicht wissen. Sondere mich ab wie immer. Kapsle mich ein, wenn ich unter ihnen bin, versuche, fair zu bleiben. Emotionslos fair.

    Jeder von uns erhielt einen Geldbetrag zugesprochen, erstaunlich hoch, hätte nicht gedacht, dass so viel Geld vorhanden sei nach einem Eheleben mit viel zu vielen Kindern. Aber mehr als gedanklich hochrechnen und schauen, dass Papa nicht zu kurz kommt, tat ich an jenem Nachmittag nicht. In der virtuellen Rüstung, die ich familienintern trage, ist nicht viel geistige Bewegungsfreiheit.

    So musste mich die in Andalusien lebende Schwester mehrfach ansprechen, bis ich reagierte. Sie würde das Geld für eine bauliche Maßnahme an ihrer Finca investieren. Ob ich im Frühsommer eine kleine Reise für sie unternehmen könne. Wolle. Eine flüsternde Stimme nahe meinem Ohr, ein Paar ruhig fragende Augen.

    Mein Blick rutschte hinunter zu ihrem Bauch, dessen Wölbung erst sichtbar war, wenn man’s wusste. Im Frühsommer würde er weit größer sein. Ein letzter Schwangerschaftsmonat in der sommerlichen andalusischen Hitze. Sie macht sich das Leben wahrlich nicht leicht.

    Ich überblickte im Kopf den Jahresplan meiner Abteilung, meine verbleibenden Ferientage, die Verteilung der Auszeiten unter den Beteiligten meiner Projekte. Ja, Ende Juni würde gehen. Sagte zu. Detail-Instruktionen bitte bis Ende Mai.

    Sie lachte. »Ach du und deine Projektwelt.«

    Ich hob den Blick in die Hyänenschar. Alle waren bereits daran, das erhaltene Geld wortreich auszugeben. Nicht nur Hyänen, auch kopflos und planlos. Tja, so wird nie was aus euch. So werde ich immer die Habende unter euch sein. »Lieber für Geborgenheit sorgen als für Versorgung borgen« ist und war schon immer mein finanzielles Lebensmotto.

    Sie nennen das Knausrigkeit und schimpfen mich langweilig, kleinbürgerlich, und

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1