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Wo ist Babette?
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eBook300 Seiten4 Stunden

Wo ist Babette?

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Über dieses E-Book

Ein Mädchen in der Bubenklasse eines Gymnasiums! Das war vor fünfzig Jahren noch ein Aufreger, für Georg sogar ein Erdbeben, das seine jugendliche Gefühlswelt durcheinander wirbelt. Doch wie er es auch anstellt, er kommt nicht an diese Babette heran. Kaum in ihrer Nähe, entschwindet sie immer wie ein Phantom – und erscheint wieder unerwartet wie ein Phantom. Georg erzählt uns von seiner Jagd nach diesem Phantom, die sich über mehrere Lebensphasen erstreckt. Seine Erlebnisse handeln von seltsamen Träumen, von unheimlichen Begegnungen, von Experimenten mit Drogen, vom Zauber der romantischen Musik, vom Wiedersehen mit Schulkameraden und von Reisen, die ihn ganz nahe ans Ziel zu führen scheinen. Wo ist dieses Ziel? Begleiten Sie Georg auf seinen Wegen und erleben Sie mit ihm spannende Abenteuer und tiefe Gefühle!
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum15. Jan. 2017
ISBN9783738099379
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    Buchvorschau

    Wo ist Babette? - Josef Mugler

    Prolog

    Ich erzähle dir die Geschichte von einem Phantom. Es ist mein Phantom, nur mein Phantom. Ich teile es mit niemandem. Trotzdem gehört es nicht immer mir. Denn Phantome sind flatterhaft und nicht an Zeit und Raum gebunden. Sie können auftauchen, wann und wo sie wollen. Sie tun das besonders gern, wenn sie nicht erwartet werden. Und sie verschwinden, wenn du sie festhalten willst.

    Phantome können verschiedene Gestalt annehmen. Deshalb kannst du dir nie ganz sicher sein, ob du es immer mit ein und demselben Phantom zu tun hast oder ob es manchmal ein anderes ist. Weißt du, was ein Phantomschmerz ist? Ich weiß es. Es ist nichts da, aber es tut weh. Du glaubst dennoch, dass etwas da ist, das dir weh tut.

    Ich bin mit meinem Phantom nicht allein. Ich kenne viele Phantomgeschichten – von meinen Freunden. Die sind zwar schon lange tot, aber ihre Geschichten leben noch.

    Ernst Theodor, der zu seinen beiden Vornamen gerne auch Amadeus hinzufügte, hatte ein besonders anhängliches Phantom. Es tauchte – wie nicht weiter verwunderlich – immer wieder in anderer Gestalt auf, zum Beispiel als Aurelie, Julia oder Undine. Er verliebte sich jedes Mal Hals über Kopf, sobald es ihm wieder in neuer Gestalt erschien. Jacques erzählte mir davon:

    „Ja, erst die Gestalt und diese Züge… / Doch ihre Züge – welch‘ ein Reiz! / Ich seh sie vor mir so schön / Wie ein Maientag. / Ich folgte ihren Spuren…"

    (Jacques Offenbach, Jules Barbier, Michel Carré: Hoffmanns Erzählungen (revidierte deutsche Fassung Wilhelm Zentner), Vorspiel, Dritter Auftritt)

    Alle Beziehungen zu seinem Phantom, mag es ihm nun, wie in Jacques‘ Erzählungen, als Olympia oder Antonia oder Giulietta erschienen sein, endeten für Ernst Theodor Amadeus in Katastrophen. Wenn ihn nicht immer wieder seine Muse herausgeholt hätte, wer weiß, wüssten wir davon.

    Auch Franz, das ruhelose Genie, rang mit seinem Phantom. Es erschien ihm zuerst als Therese, später als Caroline, dann noch als Josephine. Aber nie konnte er es festhalten. Franz war immer auf Wanderschaft, auf der Suche nach seinem Phantom. Vom Wasser hatte er‘s gelernt:

    „Das hat nicht Rast bei Tag und Nacht, / ist stets auf Wanderschaft bedacht, / das Wasser."

    (Franz Schubert, Wilhelm Müller: Die schöne Müllerin, Opus 25, D. 795, Nr. 1 Das Wandern)

    Eines Tages glaubte er, das Bächlein, dem er gefolgt war, habe ihn an die richtige Stelle geführt:

    „Hat sie dich geschickt? / Oder hast mich berückt? / Das möcht' ich noch wissen, / Ob sie dich geschickt."

    (Franz Schubert, Wilhelm Müller: Die schöne Müllerin, Opus 25, D. 795, Nr. 4 Danksagung an den Bach)

    Wohl schon den Tod vor Augen blickte Franz nochmals auf seine bewahrten Sehnsüchte und verlorenen Hoffnungen zurück, als er seine Gefühle in ein „Notturno" für nicht mehr als drei Instrumente hineinlegte. Das wurde erst von der Nachwelt entdeckt.

    (Franz Schubert: Adagio Es-Dur, Opus posth. 148, D 897)

    Bei Robert tauchten Liddy und Nanni, Christine und Charitas auf und verschwanden wieder. Ob sie nur wechselnde Gestalten seines Phantoms waren, das mit seinen Gefühlen spielte? Robert lernte jedenfalls daraus, mit Musik zu verzaubern, was andere, zum Beispiel Heinrich, mit Worten versucht hatten:

    „Im wunderschönen Monat Mai, / als alle Knospen sprangen, / da ist in meinem Herzen / die Liebe aufgegangen."

    (Robert Schumann, Heinrich Heine: Dichterliebe, Opus 48, Nr. 1 Im wunderschönen Monat Mai)

    Was für Ernst Theodor Amadeus die Muse war, das war für Robert Clara. Sie führte ihn und verließ ihn auch in den dunkelsten Stunden nicht, als sie schon – gegen ihren Willen, wie das eben so ist – eines anderen Phantom geworden war: Johannes setzte alles daran, die dreizehn Jahre ältere Clara festzuhalten. Vergeblich! Und so schrie er seine unstillbare Sehnsucht ohne Worte in die Welt hinaus (Klavierquintett in f-Moll, Opus 34). Das sagt mehr als tausend davon.

    Und erst Richard! Wie mühte der sich mit seinem Phantom ab! In seiner Wirklichkeit begleiteten ihn Minna, Mathilde und Cosima – und wahrscheinlich auch noch andere – auf wichtigen Stationen seines Weges. Für sein Phantom ließ ihn die Muse immer wieder neue Gestalten formen: zum Beispiel jenes Mädchen, das von der Idee besessen war, einem verfluchten Seefahrer die verheißene Erlösung zu bringen:

    „Preis deinen Engel und sein Gebot! / Hier steh ich treu dir bis zum Tod!"

    (Richard Wagner: Der fliegende Holländer, Dritter Aufzug, Schluss)

    Ihm entstand auch jenes andere Mädchen, das geheime Wünsche erraten und erfüllen konnte. Als es gegen den Befehl, aber im Einklang mit dem heimlichen Wunsch seines Gottes handelte, war dieser gezwungen, es zu verstoßen, setzte es aber auf einem Felsen, umgeben von einem Feuerring, aus. Er dachte wohl, sein Phantom auf diese Weise für sich festhalten zu können:

    „Wer meines Speeres Spitze fürchtet, / durchschreite das Feuer nie!"

    (Richard Wagner: Der Ring des Nibelungen, 1. Abend: Die Walküre, Dritter Aufzug, Schluss)

    Eines Tages kam doch ein Furchtloser, der sich die göttliche Braut gewann.

    Am leidenschaftlichsten gestaltete Richard sein Phantom aber wohl in der Gestalt jener irischen Maid, einer Königstochter, der zusammen mit ihrem Entführer ein Liebestrank statt des gewünschten Todestranks eingeflößt wurde. Die daraus entbrannte Liebe steigerte Richard unendlich in

    „unbewusst – / höchste Lust".

    (Richard Wagner: Tristan und Isolde, Dritter Aufzug, Schluss)

    Was blieb Richard von seinem Phantom? Auch er konnte es nie in seiner Wirklichkeit festhalten.

    So war das! Auch mein Phantom konnte ich nie festhalten. Wenn ich mir wieder einmal das Scheitern meiner Mühen eingestehen musste, tröstete ich mich mit den Geschichten meiner alten Freunde. Wie ihnen entglitt mir auch mein Phantom immer wieder. Aber gerade weil ich es nicht festhalten konnte, lebte es immer wieder auf. Es ging nicht in der Gefangenschaft, nicht im Käfig meiner Wirklichkeit zugrunde. Leben als Körper bringt auch tot sein als Körper. Aus diesem Dilemma hätte es keinen Ausweg gegeben.

    Wäre mir daher nur ein einziger Versuch gelungen, mein Phantom festzuhalten, könnte ich dir diese Geschichte nicht erzählen. Dabei war mir mein Phantom mehrmals zum Greifen nahe. Doch ich begriff es immer zu spät und ergriff es nie. Es war in den Momenten dieser Begegnungen in ein gewöhnliches Wesen aus Fleisch und Blut verwandelt. Solange es in meiner Wirklichkeit weilte, erschien es mir unnahbar. Erst wenn es wieder verschwunden war, fühlte ich es nahe. So muss es auch Freund Marcel ergangen sein, der mir erzählte:

    „Manchmal entstand in meinem Schlaf aus einer falschen Lage wie Eva aus der Rippe Adams eine Frau. Während sie aus der Lust hervorgegangen war, die ich erlebte, bildete ich mir ein, dass diese mir erst durch sie zuteil geworden sei. Mein Leib verspürte in dem ihren seine eigene Wärme und drängte zu ihr, ich wachte auf. Die übrige Menschheit war mir dann ferngerückt im Vergleich zu dieser Frau, die ich vor Sekunden erst verlassen hatte; meine Wange war noch warm von ihrem Kuss, mein Leib von ihrem Gewicht zerschlagen. Wenn sie, wie es bisweilen vorkam, die Züge einer Frau trug, die ich im Leben getroffen hatte, setzte ich alles daran, ihr wieder zu begegnen; es ging mir wie denen, die sich auf die Reise begeben, um mit eignen Augen eine Stadt ihrer Sehnsucht zu schauen, und sich einbilden, man könne der Wirklichkeit den Zauber abgewinnen, den die Phantasie uns gewährt. Allmählich verblasste dann ihr Bild, ich vergaß das Geschöpf meiner Träume."

    (Marcel Proust (Übersetzung: Eva Rechel-Mertens): Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Band 1: In Swanns Welt, Teil 1: Combray. Suhrkamp Taschenbuch 644, Frankfurt am Main 1981, S. 11)

    Sobald ich mein Phantom erkannt hatte, verbiss ich mich in den Gedanken, wie ich es in meiner Wirklichkeit festhalten, ihm den Rückweg daraus versperren könnte. So wie es auch Ernst Theodor Amadeus, Franz, Robert, Richard und viele, viele andere versucht hatten. Aber die Hoffnung, dass es doch eines Tages in meiner Welt gefangen sein, sich in meiner Welt verfangen würde und sich nicht mehr losreißen könnte, gab ich nie auf – jedenfalls solange ich denken und mich erinnern konnte. Doch verschwand mein Phantom immer wieder rechtzeitig, bevor die Zerstörung seiner habhaft werden konnte. Es verschwand, um zu leben. Ich gab ihm den Namen Babette.

    Später, nach vielen Jahren der vergeblichen Jagd, blieb mir nichts als dieser Name. An diesen Namen erinnere ich mich. Von allem anderen weiß ich nicht mehr, ob es so gewesen ist oder ob es so gewesen sein könnte. Aber ich tröste mich. So war es auch dem greisen Adson ergangen, von dem mir Freund Umberto erzählte. Ich lese dir hier nur den letzten Satz seiner Aufzeichnungen vor, die er als Mönch im Stift Melk zu Papier brachte:

    „Stat rosa pristina nomine, nomina nuda tenemus."

    (Umberto Eco: Der Name der Rose (Übersetzung: Burkhart Kroeber) Deutscher Taschenbuch Verlag, 3. Aufl. München 1986, S. 635)

    Nur der Name blieb übrig von der Rose von einst, nur die nackten Namen halten wir fest, können wir festhalten.

    Doch lass mich von Anfang an erzählen!

    Frühzeit

    September. Schulanfang. Ein neues Schuljahr beginnt. Was jetzt kommt, ist durchaus nicht ganz fremd und neu. Aber diesmal doch anders: Ich trete in die Oberstufe des Gymnasiums ein.

    Der erste Schultag beginnt mit einer Schulmesse in der Pfarrkirche unseres kleinen Schulstädtchens. Nach und nach trifft man die alten Kollegen und Freunde wieder. Einige fehlen. Werden sie noch kommen? Oder sind sie längst woanders gelandet. Von Hannes weiß ich es. Ein Freund weniger in der neuen Klasse. Was haben wir gelacht! Werden wir je wieder mit derselben Lust lachen können, wenn ein Keil unsere Wege gespalten haben wird?

    Man sieht sich um: Viele neue Gesichter im Klassenzimmer, davon einige flüchtig bekannt: einige von den gemeinsamen Fahrten in der Straßenbahn – die damals einfach Straßenbahn, alltägliche, lustige und lästige, notwendige, selbstverständliche Straßenbahn war – und noch nicht die liebe alte Straßenbahn; andere waren als Rivalen in den Wettkämpfen der jährlichen Schulsportfeste in Erinnerung. Man merkte sich die Gegner, wenn es um die Ehre der Klasse ging. Man kannte sie, die entweder Sieger oder Verlierer gewesen waren.

    Die Neuen sitzen auf der rechten Seite, die Alten, die mit mir aus der Unterstufe aufgestiegen sind, auf der linken Seite, der Fensterseite. Beim Betreten der Klasse hatte es eine Enttäuschung gegeben: Die Wunschplätze hatten die Neuen schon eingenommen. Was nehmen die sich heraus!? Aber sie saßen fest. Man musste sich damit begnügen, was übrig war.

    Dann auch noch die neuen Lehrer, an die man sich erst gewöhnen musste! Sie kannten noch nicht die guten Schüler, zu welchen auch ich bisher gehört hatte. Und sie redeten uns Jungen per „Sie an. Waren wir denn Erwachsene? Die alten Lehrer blieben großteils beim „Du. Die uns seit der ersten Klasse begleitet hatten, sahen in uns „ihre Kinder", nicht anonyme Objekte ihrer Arbeit. Alle, Schüler wie Lehrer rangen um die richtige Einstellung zueinander. Die Positionen wurden neu vergeben, mussten neu erkämpft werden und die Neuen begannen kräftig mitzumischen.

    Am dritten Schultag erschien zum ersten Mal Babette. Ganz links vorne, in der ersten Sitzreihe, leuchteten eines Morgens unendlich lange goldene Haare. Wir alle, die wir dahinter saßen, mussten einfach immer wieder hinsehen. Wir wussten noch nicht, dass wir erwachsen wurden und was wir zu fühlen begannen.

    Keiner von uns getraute sich anfangs, diesem Wesen nahe zu kommen. Vier Jahre lang war kein Mädchen in der Klasse gewesen, geschweige denn so etwas. Mit Argusaugen beobachtete jeder, was die anderen taten. Ich konnte alles beobachten, denn ich saß ganz hinten, in der letzten Reihe. Ich saß immer in der letzten Reihe, denn ich liebte es, alles zu beobachten, ohne selbst dabei beobachtet zu werden. So war ich ganz weit weg von dieser neuen Erscheinung, am Endpunkt der Diagonale, der längsten geraden Strecke durch den Raum. Daran änderte sich auch später nichts, als Babette rechts vorne und ich links hinten saß. Immer war die längste Strecke zwischen uns.

    Dann die erste Annäherung, so aus dem Nichts heraus, mich völlig unvorbereitet treffend: Wie in Trance versteinert stand ich dicht hinter ihr und saugte die Luft aus der Fülle ihrer goldenen Haare tief in mich hinein. Der Duft verzauberte mich. Ich stand regungslos wie das Kaninchen vor der Schlange. Nur meinen Atem spürte ich und sog diese Luft an, wie wenn ich das ganze Wesen in mich hineinsaugen wollte. Der Lehrer bemerkte bald die Versteinerung des Schülers – und dann deren Ursache. Sein Blick traf den meinen und ich ergriff die Flucht. Das Erlebnis nahm ich mit. Das Feuer des goldenen Haars blieb in meiner Netzhaut eingebrannt. Sein Duft blieb der vertraute Begleiter meiner Atemzüge.

    Babette hatte Sommersprossen. Einer wusste zu erzählen, dass sie in Italien, am Meer, damals noch für viele von uns ein Traumziel, gewesen war. Ich hatte das Meer noch nicht gesehen – außer im Kino natürlich. Ich stellte mir vor: Meer, Sand, Wärme, Himmel – und mitten drin Babette! Und wo war ich? Wir waren alle in einer miefigen Schulklasse. Der Regen von draußen würzte die dicke Luft zum Gestank. Und wir sollten nicht träumen, sondern rechnen und übersetzen und die Geschichte lernen und so weiter.

    Neben Babette gab es eine Zeitlang auch noch Jana. Sie wurde einige Wochen später in unsere Klasse gebracht. Jana hatte pechschwarzes Haar und wurde neben die goldblonde Babette gesetzt. Jana war ganz anders als Babette: Sie war – für ihr „zartes" Alter ziemlich stark geschminkt, mit schwarz umrandeten Augen und rotem Lippenstift. Das war damals auffällig, außerhalb der Norm sozusagen. Wir wurden noch nicht mit den Kunstgestalten der Fernsehwerbung bombardiert.

    Was wollte sie damit ausdrücken: Wollte sie aus ihrer Wirklichkeit flüchten? Oder wollte sie uns imponieren? Erkannte sie nicht die Gefahr, in die sie hineinschlitterte? Für die meisten von uns war ihr Andersaussehen Provokation. Die wurde mit Spott, sogar mit Aggression, nicht mit Bewunderung – oder höchstens unbewusst – beantwortet.

    Jana gefiel mir. Nicht so sehr wegen der Schminke, jedenfalls nicht hauptsächlich oder vielleicht auch gar nicht bewusst, jedenfalls nicht gleich. Was war es dann? Heute denke ich, es war die Melancholie, die sie mit sich trug. Sie trug hinter ihrer Schminke etwas Schwärmerisches, eine Hoffnung auf irgendetwas und eine Resignation, weil sie es nicht erreicht, noch nicht erreicht hatte. Natürlich wusste ich nicht, was das war, was sie ersehnte. Und im Kreis der Schulkollegen, in unserer Lust- und Spaßgesellschaft konnte sie damit auch nicht herausrücken. Sie musste sich anpassen und das misslang jämmerlich. Jana war jedenfalls ganz anders als Babette. Babette war unbekümmert, fröhlich, ungeschminkt, angepasst. In der ersten Zeit jedenfalls war sie das.

    Ich traf Jana bald nach ihrem ersten Erscheinen einmal in unserer lieben alten Straßenbahn, die wenig später eingestellt werden sollte. Sie fuhr eine kurze Strecke, stieg also wenige Stationen vor der Endstation zu oder aus.

    Zwischen sieben und acht Uhr früh wurde in der Straßenbahn hart gearbeitet: Es wurden vergessene Hausübungen nachgeholt oder gar abgeschrieben, Prüfungen vorbereitet, die Inhalte der Schultaschen überprüft, obwohl es dann schon zu spät war. Aber man wusste wenigstens, was fehlte, und konnte für den Bedarfsfall über Ausreden nachdenken. Unzählige Kartenpartien liefen auf den Rücken der Schultaschen ab, die auf den Knien balanciert wurden. Mancher hatte auch noch das Frühstück nachzuholen. Die Straßenbahn war ein fahrendes Wohnzimmer.

    Sie war auch eine erste Kontaktbörse zwischen den Geschlechtern, ein Probebetrieb für Gefallen und Gefallen-lassen. Die Jungen schauten sich die Mädchen an, und umgekehrt, manchmal unbemerkt, manchmal offensichtlich. Jede auch nicht verbale Kommunikation wurde registriert. Wer traute sich nicht nur hinzuschauen, sondern auch zu sprechen? Aber was? Und mit welchen Folgen? Aber man gewöhnte sich aneinander. Wer fehlte, ging ab. Später entwickelten sich Freundschaften, sogar bis hin zu ersten Partnerschaften.

    Ich weiß nicht mehr, ob ich darauf abzielte oder ob es sich zufällig ergab, dass ich Jana eines Tages in unserer Straßenbahn traf. Ich wusste, wo sie gewöhnlich einstieg, nämlich ganz vorne. Meine Freunde und ich waren dagegen meist im letzten Waggon. Nun befand ich mich also eines Tages auf der vorderen Plattform und richtig, da stieg sie ein und spendete mir ein Lächeln. Ich war mit ihr allein, allein für wenige Stationen, für wenige Minuten. Das wiederholte sich einige Tage.

    Jana erzählte mir bei diesen wenigen Gelegenheiten, dass sie zu ihrem Vater übersiedelt sei, der hier eine Gastwirtschaft übernommen habe. Ihre Eltern lebten getrennt. Sie sei, da der Vater im Gasthaus zu tun habe, viel sich selbst überlassen, vor allem am Abend, wenn der Betrieb am stärksten war. Sie habe hier noch keine neuen Freundinnen gefunden. Mit uns Jungen komme sie bisher nicht zurecht. Sie wisse aber nicht, warum sie überall auf Ablehnung stoße. Und Babette? Na ja. Die sei auch anders als die Freundinnen in ihrer früheren Schule. Aber mit ihr ginge es so einigermaßen.

    Kein Wunder, dass mich das rührte! In mir regte sich der Wille, ihr zu helfen, sie in Schutz zu nehmen. Ich war in diesen Tagen ganz erfüllt davon. Ich hatte eine Mission. Aber ich scheiterte kläglich. Trotz meines Eifers blieb ich in der Ausführung halbherzig. Meine Versuche, die Jungen in der Klasse Jana gegenüber freundlich zu stimmen, wurden mit Spott und Hohn beantwortet. Dem hielt ich nicht stand.

    Ich getraute mich daraufhin auch nicht mehr, Jana in der Straßenbahn abzupassen. Einerseits stand ich unter ständiger Beobachtung meiner Freunde. Andererseits schämte ich mich, dass ich keinen Stimmungswandel ihr gegenüber zustande gebracht hatte. Sie hätte sicher von mir wissen wollen, was da lief. Sie hatte sicher meine Gefühle für sie gespürt. Und dann wieder meine Zurückhaltung. Vielleicht zerbrach etwas in ihr. Vielleicht hatte ich etwas zerbrochen. Ich hätte ihr nichts erklären können.

    Für die großen Gefühle der Pubertät ließen die klassischen Bildungsfächer wenig Raum: Was konnten Mathematik, Physik, Naturkunde, Latein und Co. in uns bewegen? Nichts! Das war alles fürs Gehirn und rein gar nichts war fürs Herz. Aber irgendwo musste diese gewaltige Energie doch durchbrechen! Der Druck war spürbar, manchmal unerträglich, aber wir wussten es nicht. Wir waren noch „Trommelknaben", die nichts von Liebe wissen und nicht, wie Scheiden tut, wie es in einem bekannten Volkslied heißt. Wir hatten das Liedchen in der Unterstufe ahnungslos geträllert.

    Was Vertiefung des Gefühlslebens versprach, waren die sogenannten musischen Fächer und der Wettkampf im Sport. Leider musste man sich damals in der Oberstufe entweder für Musik oder für Zeichnen, das später einmal bildnerische Erziehung heißen sollte, entscheiden. Eines von beiden kam zu kurz. Ich wählte Zeichnen, nicht zuletzt wegen eines prominenten Lehrers, der damals an unsere Schule gekommen war. Ich hatte schon in der Unterstufe Erfolge mit Graphiken, vor allem Radierungen und Federzeichnungen.

    Dieser Zeichenlehrer war damals berühmt durch seine „imaginären Porträts von bedeutenden Persönlichkeiten der Geschichte, welchen er nie selbst begegnet war. Er ließ uns mit Vorliebe dramatische Ereignisse mit Tusche und Feder gestalten, zum Beispiel „Die Flucht der Tiere oder „Eine Katastrophe oder „Das Ende. Aber einmal gelang es uns, ihn von einem Thema zu überzeugen, das in unsere Gefühlswelt eingedrungen war. Das war in jener Zeit, als Herbert von Karajan an der Wiener Staatsoper eine Neuinszenierung von „La Boheme herausbrachte. Für Regie und Bühnenbilder war Franco Zeffirelli verantwortlich. Es handelte sich um die Übernahme einer Produktion von der Mailänder Scala. Vor der Premiere gab es einen Riesenwirbel, weil der Maestro einen „Maestro Suggeritore, eine Art Subdirigenten oder mitdirigierenden Souffleur von der Scala einsetzte, gegen den die Gewerkschaft protestierte. Die Premiere musste deshalb sogar verschoben werden. Doch der Erfolg war dann überwältigend. Auch wer sich noch nicht für Oper interessierte, wurde aufmerksam. Die Berichte derer, die eine der ersten Vorstellungen miterlebt hatten, motivierten andere. Es war wie eine Kettenreaktion. Babette erlebte eine der ersten Vorstellungen, ich war etwas später dran. Schließlich bestürmten wir unseren prominenten Zeichenlehrer, Bühnenbilder zur „Boheme" entwerfen zu dürfen. Die meisten malten ungefähr das, was sie in der Oper gesehen hatten: nicht sehr originell, aber ein Zeichen für die tiefen Spuren, die dieses Erlebnis in uns eingraviert hatte.

    Auch mir eröffnete diese „Boheme" eine neue Dimension des Fühlens. Ich fühlte viel, aber verstand wenig. Der Text des Gesungenen war mir unbekannt. Eine Inhaltsangabe im Programmheft war die einzige Informationsquelle. Ich kannte nicht die Bedeutung der Passage

    „O soave fanciulla, o dolce viso / di mite circonfuso alba lunar / in te, vivo ravviso / il sogno ch'io vorrei sempre sognar!"

    („Du entzückendes Mädchen, reizendes Antlitz, / umflossen von des Mondes mildem Licht, / in dir erleb ich

    ein lange schon ersehntes Traumgesicht!")

    (Giacomo Puccini, Giuseppe Giacosa, Luigi Illica (Übersetzung: Hans Swarowsky: La Bohème, Erstes Bild)

    Ohne Verstehen konnte ich fühlen, durch und durch drang mir diese Musik direkt ins Herz, wie wenn sie keinen Umweg über das Gehirn gemacht hätte. Das Sehen und vor allem das Hören waren genug, um mich eine Geschichte, die Geschichte, die sich mir eröffnete, miterleben zu lassen.

    In der Wiener Staatsoper gab es immer auch um die fünfhundert Stehplätze. Die waren sehr preiswert. Das Stehplatzpublikum bestand aus einem festen Stamm und gelegentlichen Besuchern. Kein Wunder, dass das Stammpublikum, in dem es nicht wenige gab, die fast täglich die abendliche Vorstellung besuchten, über beides: besonderes Wissen und besonderes Gespür verfügte. Ich war nur gelegentlich dabei. Aber die Faszination des „Gesamtkunstwerks Oper hatte mich ergriffen, ohne dass ich über „Wissen verfügte. Einmal hörte ich ein paar Worte einer jungen Frau mit, die eindeutig dem Stammpublikum zuzurechnen war:

    „…Da geht der Mann hin zu ihm und sagt: ‚Sie sind sicher der Karajan. Ich wohn' da gegenüber und hör' die ganze Zeit die Musik. Ich versteh' zwar gar nix davon. Aber ich muss Ihnen sagen, das ist sooo schön.‘ Und der Maestro schaut ihn an und sagt: ‚Sie müssen gar nichts von Musik verstehen, Hauptsache, Sie spüren sie. Sie haben mir jetzt eine große Freude gemacht‘…"

    (http://members.chello.at/hedda.hoyer/Saisons/Erinnerung_2008.htm)

    Musik spüren! Das war es. Ich hatte mich nicht zum Musikunterricht gemeldet, weil ich dort nicht Musik zu spüren bekommen hätte – das wusste ich aus dem Musikunterricht der Unterstufe des Gymnasiums – , sondern die Musik zerlegt worden wäre: in Atome, in Systeme, in Strukturen.

    Statt Musik verstehen zu lernen, versuchte ich, selbst Musik zu „machen". Meine Versuche reichten vom Klavier über die Blockflöte, die in der Schule allen Kindern nahegelegt worden war, bis zur Klarinette. Mit Freunden gründete ich sogar eine Band, die kurioserweise sowohl ländliche Musik als auch Popmusik spielte. Wir spielten einige Male zum Tanz auf.

    Es kostete mir große Mühe, um einigermaßen solche Töne hervorzubringen, die mir selbst gefielen. Meist aber gefiel mir gar nicht, was ich mit meinem Instrument anstellte.

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