Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Von Weiten und Zeiten: Kurzgeschichten, Essays, Märchen, Dramolette und Gedichte
Von Weiten und Zeiten: Kurzgeschichten, Essays, Märchen, Dramolette und Gedichte
Von Weiten und Zeiten: Kurzgeschichten, Essays, Märchen, Dramolette und Gedichte
eBook169 Seiten2 Stunden

Von Weiten und Zeiten: Kurzgeschichten, Essays, Märchen, Dramolette und Gedichte

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

"Von Weiten und Zeiten" ist eine Sammlung von Kurzgeschichten, Essays, Märchen, kleinen Theaterstücken und Gedichten mit Bezug zu räumlich und zeitlich fernen Geschehnissen und Erlebnissen.
Zwei Kurzgeschichten behandeln Episoden aus der Gegenwart, die das Leben der Hauptpersonen verändern: Für den Jungen Romo und für die pensionierte Schauspielerin Cynthia reißen Weiten und Zeiten Wunden auf und heilen sie.
Zwei Essays führen in die verlorene Welt einer legendären Wiener Straßenbahnlinie und in die nach dem Ende des Eisernen Vorhangs neu entstehende Welt entlang der Bahnlinie von Wien nach Prag.
Zwei Märchen erzählen, was sich vor langer Zeit an geheimnisvollen Orten im Wienerwald oberhalb von Perchtoldsdorf zugetragen haben könnte.
Zwei kleine Theaterstücke (Dramolette) laden zur Inszenierung ein, nicht nur Regie-Profis, sondern jede Leserin und jeden Leser: Das Stück "Quisi" gehört in die Kategorie "Einpersonenstücke", aber vielleicht nicht ganz – und in die Kategorie "Fantasy" – aber vielleicht auch nicht ganz. Das zweite Stück ist eine Hommage an den Perchtoldsdorfer Komponisten, Regenschori und Lehrer Ambros Rieder (1771-1855).
Zwischen diesen Prosastücken und Dramoletten sind Gedichte eingestreut, die auf ihre Art und Weise von Weiten und Zeiten erzählen.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum1. März 2017
ISBN9783742795472
Von Weiten und Zeiten: Kurzgeschichten, Essays, Märchen, Dramolette und Gedichte

Mehr von Josef Mugler lesen

Ähnlich wie Von Weiten und Zeiten

Ähnliche E-Books

Allgemeine Belletristik für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Von Weiten und Zeiten

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Von Weiten und Zeiten - Josef Mugler

    Romo

    Romo lag in seiner Schachtel auf Gleis 11 des Güterbahn­hofs einer europäischen Großstadt, auf einem Gleis, das niemand mehr zu brauchen schien. Vanessa lag auf dem Sofa des Vier-Sterne-Hotels Interglobal im Zentrum die­ser Stadt. Romo war seinen Eltern davongelaufen. Vanessa war Fred davongelaufen. Beide waren sie auf ihren Wegen steckengeblieben. Irgendwo war die Romo lag in seiner Schachtel auf Gleis 11 des Orien­tierung zu Ende gewesen. Wohin sie auch blickten: über­all Finsternis, keine Sterne, keine Lichtung, kein Wegwei­ser, der neue Orientierung zugelassen hätte.

    Vanessa war erfolgreich. Jeder sagte, dass Vanessa erfolgreich sei. Vanessa selbst glaubte es auch – bis sie die Finsternis umgab.

    Romo war erfolgreich. Er konnte so geschickt Hand­taschen öffnen und nach Geldscheinen schnappen wie keiner seiner gleichaltrigen Freunde. Falsch! Nicht Freunde waren es, sondern Partner und Konkurrenten. Er hatte frühzeitig gelernt, Freunde und Partner und Kon­kurrenten zu unterscheiden. Er wusste auch, dass Partner immer auch Konkurrenten und Konkurrenten manchmal auch Partner sein können.

    Vanessa kannte Fred seit Jahren. Er hatte sich für seine neue Firma von Vanessa eine verführerische Werbung entwerfen lassen. Fred kaufte und verkaufte alles Mögli­che: von kleinen Schmuckstücken bis zu ganzen Firmen und, so schien es Vanessa immer deutlicher, sie selber auch.

    Romo kannte Vanessa nicht. Er hatte sie nur – mit profes­sionellem Blick für sein Geschäft – bemerkt, als sie an sei­nem Stammplatz in der Straße des Fortschritts vorüber­gekommen war. Sie hatte dabei einige Augenblicke nicht auf ihre Handtasche, sondern auf das Handy geachtet, das sie kurz zuvor daraus hervorgezogen hatte. Romo summte leise die Melodie vor sich hin, die er aus dem Handy mitgehört hatte. Er war musikalisch. Vanessa schien ganz auf die Worte, die aus dem kleinen Gerät kamen, zu achten. Sie bemerkte nicht, dass sie ihre Hand­tasche offen ließ, während sie telefonierte. Sie blieb wäh­rend des Gesprächs nicht stehen. Romo konnte nicht an die Tasche heran. Er war überzeugt, dass ihm ein Griff in diese Tasche ein Licht in seiner Finsternis geben würde: Sie würden ihm alle auf die Schulter klopfen und er würde den besten Happen von dem Braten zugeteilt bekom­men, den seine Mutter auf dem Schwarzmarkt gegen die Beute eintauschen würde. Seine Mutter? Würde er über­haupt nach Hause gehen? Dorthin, wo kein Platz für ihn war, wo sie ihn immer wegschickten?

    Romo träumte in seiner Schachtel auf Gleis 11, dem Abstellgleis. Er sog den Duft des Bratens in sich hinein, wie wenn er schon an dem alten Holztisch säße. Er erin­nerte sich, dass er sich früher manchmal wie auf eine Wolke gebettet gefühlt hatte, als die Familie noch beisammen gewesen war. Jetzt gab es das nicht mehr. Ein riesiger, löchriger Verpackungskarton, ein paar Bretter, ein paar Lumpen, ein paar Gefährten der Not waren heute das, was das Überleben ermöglichte. Der Bahnhof hatte viele Abstellgleise. Was andere nicht mehr brauchen konnten und hier abgestellt hatten, bot Unterschlupf, wenigstens für einige Tage oder Wochen oder Monate. Was würde danach kommen?

    Romo wartete in der Straße des Fortschritts. Er wartete auf Vanessa. Auf seinem Stammplatz. Vanessa wartete auf Fred. Im Vier-Sterne-Hotel Interglobal. Fred kam nicht zu Vanessa. Vanessa kam nicht zu Romo, noch nicht. Romo stand allein da, bemerkte nicht, dass dadurch Aron auf ihn aufmerksam wurde. Aron war neu in der Stadt. Seine Eltern hatten ihn losgeschickt, sich in der Stadt nach Arbeit umzuschauen.

    Aron hatte Romo schon einmal beobachtet, wie dieser einem alten Mann eine Zigarettendose aus der Mantelta­sche gezogen hatte. Als Aron versucht hatte, sich aus einer Manteltasche eines Passanten zu bedienen, hieb ihm dieser brutal über seinen Arm, sodass er mehrere Tage zu keiner kontrollierten Bewegung mehr fähig war. In dieser Zeit blieb ihm nichts übrig, als andere zu be­obachten, seinen „Krankenstand wenigstens mit „Marktforschung auszufüllen. Die Konkurrenz war hart in diesen Tagen und besetzte frei gewordene Standorte rücksichtslos – so wie Romo, der nun schon seit einigen Tagen immer wieder an der Straßenkreuzung mit der Bushaltestelle auftauchte, wo bis vor kurzem noch ein anderer Junge seinen Geschäften nachgegangen war. Manchmal entstand ein so dichtes Gedränge, dass Aron ihn aus den Augen verlor, wenn sich Passanten, die die Straße queren wollten, und Wartende an der Haltestelle mischten.

    Romo wartete auf Vanessa. Tage vergingen. Sie kam nicht in diesen Tagen. Vanessa wartete auf Fred. Fred kam nicht in diesen Tagen. Vanessa hatte vor kurzem erst beschlossen, die kleine Garçonnière, in der Fred sie seit einigen Wochen untergebracht hatte, zu verlassen. Sie war in das Interglobal gezogen, nachdem sie die üblichen Zahlungseingänge auf ihrem Konto überprüft hatte. Sie konnte sich das Hotel für ein paar Tage locker leisten. Sie belohnte sich und ihre Geduld mit Fred mit einem Luxus-Wochenende im Interglobal. Sie liebte die mondäne Atmosphäre, die Höflichkeit und die professionelle Auf­merksamkeit, die man ihr entgegenbrachte, wann immer sie einem Bediensteten begegnete. Sie liebte die Gesprä­che an der Bar und am Swimmingpool. Es waren immer Leute aus dem Ausland da. Sie begann, ihre Finsternis zu vergessen.

    Das Gewühl der geschäftigen Passanten, das Getöse des Verkehrs, die Gerüche von Diesel und billigem Speiseöl vom nahen Fastfood-Kiosk, die Gesichter, die Gesten, die Bewegungen der Menschen erzählten Romo tausend Geschichten. Hier konnte er seine Finsternis wenigstens für kurze Zeit vergessen. Er war überzeugt, dass ihm das Schicksal noch eine Chance geben würde. Seine Chance hieß Vanessa: die gut gekleidete Frau mit dem Handy in der Tasche. Würde sie noch einmal vorbeikommen? Würde das Handy wieder läuten? Er schloss die Augen und dachte an den Braten in der Küche und, dass sie ihn diesmal nicht gleich wieder wegschicken würden.

    Vanessa kam am vierten Tag. Aron sah sie früher als Romo. Aron spürte, dass etwas passieren würde. Romos Herz begann wild zu pochen, als er Vanessa erblickte: Also doch die große Chance! Warum pochte das Herz so wild? Er war doch sonst ganz cool bei seinen Streifzügen. Vanessa war nicht irgendeine Gelegenheit, sondern der große Fisch. Aron spürte die Nervosität von Romo. Was ging hier vor? Vanessa kam näher. Romo spannte seine Muskeln an. Wenn nur die Musik aus der Tasche wieder zu trällern begänne! Aber das Handy schlief. „Dann muss ich es eben ohne Musik versuchen!", schoss es Romo durch den Kopf. Vanessa suchte einen Weg vorbei an den Wartenden bei der Bushaltestelle. Die meisten ignorier­ten sie, einige blickten kurz auf, von der Attraktivität der Erscheinung aufgeweckt, sanken aber alsbald wieder zurück in ihre eigene stumpfe Wirklichkeit.

    Vanessa musste nahe an Romo vorbei. Aron ahnte, was Romo vorhatte. Vielleicht konnte er sich nützlich machen, mit seinem halb gelähmten Arm zum großen Coup etwas beitragen. Er stellte sich Vanessa an der einzigen Stelle, wo ein Durchlass durch den Stau an Menschenleibern offen war, entgegen, begann auf sie einzureden, von gro­ßen Gesten begleitet von einer Botschaft zu stammeln, die er ihr im Auftrag eines vornehmen Herrn überbringen sollte. Wenn sie ihn nicht anhöre, würde er um die ver­sprochene Belohnung kommen und sie eine wichtige Be­gegnung versäumen.

    Vanessa befiel eine Erinnerung, durchzuckte eine Hoff­nung und zögerte, wie Frauen zögern, wenn verloren geglaubte Hoffnungen neu aufblitzen. Romo verstand seine Chance. Die Tasche war nicht ganz geschlossen. Es musste reichen. Wenn nur das Handy...! Seine Finger waren auf dem Weg. Da erwachte das Handy. „Doch nicht jetzt!", stammelte Romo. Gleichzeitig fühlten seine Fin­ger das Kuvert. Er packte zu und lief und lief und lief.

    Vanessa schnappte nach Luft, brachte einige Augenblicke keinen Ton hervor, dann brach es aus ihr heraus. „Diebe, Diebe, ich bin bestohlen worden!" Sie blickte in neugie­rige Augen, in abgestumpfte Augen, in fragende Augen, in grinsende Augen. Wo waren hilfreiche Augen, hilfrei­che Arme, hilfreiche Beine? Ihre eigenen Augen, ihre eigenen Arme, ihre eigenen Beine versagten, als sie den Dieb verfolgen wollte. Es war so aussichtslos, hier im Gedränge an der Kreuzung bei der Bushaltestelle.

    „Haben Sie Probleme, Madame?, hörte sie eine Stimme von links unten. Ach ja, da war doch noch der Junge mit der Botschaft! Für Vanessa in diesem Moment der einzige Lichtblick, der Funken einer Chance, irgendwie die Ver­bindung zu dem gestohlenen Kuvert aufrecht zu erhalten. „Hast du gesehen, was passiert ist?

    „Ja, habe ich. Vielleicht kann ich Ihnen helfen? Das klang eine Spur zu professionell. Vanessa hatte sich in ihren Kontakten zu ausländischen Kunden die Fähigkeit erwor­ben, die feinen Unterschiede zwischen professionellem und herzlichem Mitgefühl wahrzunehmen. Das war nicht der Tonfall eines Helfers, sondern der Tonfall eines Kom­plizen. „Du wirst mich zu ihm führen, sonst bist du selbst dran!, stieß sie hervor, während sie sich gleichzeitig mit beiden Händen fest in die dunklen Haarbüschel des Jun­gen vergrub und wie eine Katze ihre hoffnungslos unter­legene Beute in Schach hielt.

    „Was geht hier vor?", sagte eine Stimme – mit Bestimmt­heit und Unauffälligkeit zugleich.

    „Ich bin von zwei Jungen bestohlen worden, der andere ist mit meinem Geld auf und davon. Den hier habe ich! Er muss ein Komplize sein, er hat mich abgelenkt, sodass ich einen Moment unaufmerksam war…"

    „... während der andere sich in ihrer Handtasche be­diente!"

    „Ich weiß nicht. – Doch! Jetzt fiel Vanessa das Handy ein, das genau in dem Moment des Diebstahls einen Anruf an­zeigte. „Das Handy! Aber er kann doch nicht... Er war schon vor dem Anruf da. Wie hat er das gemacht?

    „Kann auch Zufall sein, aber das machen sie jetzt oft so. Wo ein Handy in der Tasche ist, glauben sie mehr zu fin­den. Und recht haben sie!"

    „Wieso wissen Sie das so genau? – Wer sind Sie eigent­lich?" fragte Vanessa, ihre Fassung langsam wieder ge­winnend.

    „Bin Privatdetektiv. Hatte gerade in der Nähe zu tun. Fra­gen Sie nicht weiter! Ich begleite Sie jetzt zum Lokal der Kollegen vom Amt. Dort geben wir den Jungen ab. Bis da­hin kann er sich überlegen, was er aussagen will. Lassen Sie los!"

    Obwohl der Fremde den Jungen bereits seit einigen Momenten mit einem sicheren Griff in Gewahrsam hatte, waren Vanessas Finger immer noch in dem wüsten Haar­schopf vergraben. Nur langsam konnte sie die Verkramp­fung lösen. Sie schaute vorsichtig ihre Fingerspitzen ent­lang. Der Schaden hielt sich in Grenzen, zwei kleine Risse, ein bisschen Lack da und dort abgesprungen. Ärgerlich, aber nicht das eigentliche Problem, wurde ihr langsam bewusst.

    Aron wurde bewusst, dass er seine Haut nur retten konnte, wenn er sich kooperativ zeigte. Zu tief saß er in der Tinte. Nach dem Ablenkungsmanöver auch noch Hilfe anzubieten, war sein Fehler. Das war zu viel Engagement. Das durfte ihm nicht wieder passieren. Damit er bald wie­der eine Chance bekäme, musste er Romo opfern. Der war schließlich sein Konkurrent. Der nutzte ja auch die Schwäche seiner Verletzung aus. Vielleicht hätte er, Aron, wenn er gesund gewesen wäre, jetzt das vielverspre­chende Kuvert.

    Aron ließ sich nach einigem gespielten Widerstand her­auspressen, dass er wisse, wo

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1