LUME LUME
Von Nino Vetri und Andrea Camilleri
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Buchvorschau
LUME LUME - Nino Vetri
Buch
MIR HAT SCHON IMMER ein rumänisches Lied gefallen, das Lume Lume heißt. Mit seinem schönen Crescendo von Stimmen und Bläsern. Ich habe gedacht, es wäre doch schön, es zu spielen. Aber ich kenne den Text nicht. So wie er gesungen wird, hört er sich so sehnsüchtig an, fast herzzerreißend. Ich habe im Wörterbuch wenigstens den Titel gesucht. Lume: Welt, Leute.
Also müsste Lume Lume Leute Leute heißen. Oder Welt Welt. Oder Welt Leute. Oder Leute Welt. Oder es ist womöglich eine Art von Genitiv. Also könnte es Leute der Welt sein. Oder die Welt der Leute.
Leute der Leute oder Welt der Welt würde ich ausschließen. Obwohl …
Ich lass mir jetzt den Text von meinen rumänischen Nachbarn aufschreiben, hab ich überlegt, dann kann ich das Lied spielen oder auch unter der Dusche singen.
Lumeeee! Lumeee!
Meine rumänischen Nachbarn sind vier an der Zahl. Drei Jungs sehe ich spät nachmittags, wenn sie dreckig und voller Zement zurückkommen, und dann abends, wenn sie ausgehen und auf drei Meilen nach Shampoo riechen, mit den guten Klamotten an und dem Handy in der Hand. Der vierte kümmerte sich um einen Jungen im Rollstuhl, für den die Familie keine Zeit hat.
Dieser Junge, also der im Rollstuhl, hat sich bei einem Theaterkurs angemeldet. Der Rumäne, der Claudio heißt, begleitet ihn.
Claudio hat mich vor ein paar Wochen zu einem Vorspiel des Jungen eingeladen, um den er sich kümmert.
Und zu meiner großen Überraschung habe ich gesehen, dass er ebenfalls auf die Bühne tritt. Und er schiebt nicht etwa nur den Rollstuhl. Zu zweit spielten sie eine Rolle. Irgendwie ein Mittelding zwischen einem Puppenspieler samt Puppe und einer mythologischen Figur mit zwei Köpfen, vier Beinen und zwei Rädern. Und wenn der Junge im Rollstuhl, der auch Probleme mit dem Sprechen hat, einen Satz nicht zu Ende bringen konnte, griff Claudio ein, und der andere verrenkte sich mächtig, um ihn anzusehen, als wolle er sagen: ja, genau das wollte ich sagen.
Ich wollte auf dem Treppenabsatz auf die Rumänen warten. Mohammed kam aus seiner Wohnung, mein Nachbar aus Bangladesch.
Ich habe ihn nach den Rumänen gefragt. Er wusste nichts. Jedes Mal fragt er mich: dein Vater, wie geht’s ihm? Die Mädchen gut? Die Frau? Deine Mutter? Dann alles okay. Salam aleikum!
Ich wollte zurück in meine Wohnung, um was zu essen, ich habe Mohammed eingeladen. In Ordnung, hat er gesagt.
Am Tisch habe ich gesehen, dass er heimlich das Besteck mit einem Tuch abputzte. Er war ein bisschen peinlich berührt und hat mir gesagt, das ist nicht hygienisch, und hat dabei auf die Gabel geguckt. Wir essen mit den Händen, ist hygienischer.
Mit den Händen hygienischer?
Ja, hat er mir erklärt, weil jeder seine Hände ordentlich mit Seife wäscht. Dann packen wir das Essen auf einen Teller in der Mitte des Tisches mit einem Löffel, den aber niemand in den Mund nimmt. Dann legt jeder das Essen mit dem Löffel auf seinen Teller und isst mit den sauberen Fingern. Bei der Gabel dagegen weiß ich nicht, wer sie vorher benutzt hat …
Ist auch wieder wahr …
Dann sind wir zum Rauchen wieder auf den Treppenabsatz gegangen und haben auf die Rumänen gewartet. Wenn du sie nicht siehst, merkst du nicht mal, dass sie zu Hause sind, so leise sind sie. Du Glücklicher! sagt ein Freund von mir, dessen Nachbarn Schlagzeuger aus Brasilien sind.
Mohammed ist Moslem und sehr gläubig.
Wenn er über Politik redet, präsentiert er einem Ideen, die irgendwie fantastisch und schrecklich gleichzeitig klingen.
Iran und die Vereinigten Staaten, findet er, sind heimliche Verbündete. Zwei imperialistische Mächte, die die Welt unter sich aufteilen wollen. Iran hat den Amerikanern den Irak überlassen. Im Gegenzug will Amerika, dass Iran Israel in Ruhe lässt, aber dafür gibt er ihm: Syrien, Jordanien, Libanon und den gesamten Balkan! Warum also unterstützen die Vereinigten Staaten die albanischen Moslems? Das Attentat auf die beiden Zwillingstürme, sagt Mohammed und flüstert fast dabei, haben die Juden und die Serben gemacht! Um Amerika eine Warnung zu verpassen!
Wenn ich die politischen Theorien Mohammeds höre, bleibt mir der Mund offen stehen. Eine Welt, aufgeteilt in islamische Fundamentalisten und christliche amerikanische Neopuritaner!
Ohne irgendein Mittelding!
In der Zwischenzeit ist die Tür von Signora Licata halb aufgegangen.
Signora Licata habe ich noch nie ganz gesehen.
Sie hat einen übergewichtigen Neffen, der ihr den Einkauf bringt und dabei auf der Treppe keucht. Sie lässt ihn hinein, schließt die Tür und redet auf ihn ein. Man versteht die Worte nicht, aber der Ton ist immer vorwurfsvoll.
Ja, ja, Tante, antwortet der übergewichtige Neffe dann immer und keucht.
Von ihr kenne ich das halbe Gesicht und die halbe Stirn, verdeckt von halb roten, halb weißen Haaren.
Hat etwas Geometrisches.
Dann ist Mohammed nach Hause gegangen. In der Zwischenzeit ist eine junge Französin heraus gekommen, die ab und zu ein Zimmer im Haus mietet und dann eine Weile hier wohnt.
Ich gehe spazieren, hat sie zu mir gesagt, kommst du mit? Wir sind zum Markt gegangen, sie geht gern auf dem Markt spazieren.
Der Markt war voller Gerüche und Farben, wie immer, und voller Leute.
So viele Leute! habe ich gesagt. Lume Lume!
Das heißt Leute, Welt. Das ist ein rumänisches Lied, habe ich gesagt.
Aber vielleicht heißt es auch Leute der Welt, hat die Französin gesagt … oder Welt der Leute …
Ja, ich weiß, habe ich geantwortet, das habe ich auch schon gesagt.
Auf dem Markt war ein Filmteam von Italienern aus dem Norden dabei, Aufnahmen zu machen. Sie hatten einen Typen abgestellt, um den Leuten, die vorbei kamen, Anweisungen zu geben.
Guckt nicht in die Kamera, sagte er, guckt nicht in die Kamera!
Nur, dass dadurch dann alle mit dem Blick die Kamera suchten, in die sie nicht gucken sollten. Welche Kamera? fragten sie. Und sie suchten sie mit dem Blick.
Der Regisseur regte sich furchtbar auf.
Das geht doch nicht, alle gucken in die Kamera …
Sagte er.
Darauf haben sie beschlossen, die Leute einige Minuten festzuhalten, mit dem Ergebnis, dass sie einen leeren Markt filmten, ohne Leute, ohne Lume Lume. Es waren sogar Touristen aus dem Norden dabei. Sie waren ganz weiß. Lichtdurchlässig. Leuchtend. Wie verzaubert vor einem roten Haufen von Tomaten.
Wer weiß, dachte ich, ob es für sie gut riecht oder stinkt.
Der Markt ist voller Sachen aus Afrika! sagte die Französin, die in Afrika gewesen war. Sieh’ mal diese getrockneten Fische, sagte sie, die habe ich in Afrika gegessen. Sieh’ mal den Ingwer, daraus macht man einen erfrischenden und aphrodisisch wirkenden Energiedrink.
Ich habe ihn dann probiert. Ja gut, erfrischend ist er, angenehme Nebenwirkungen habe ich nicht gespürt.
Wir haben uns draußen hingesetzt und ein Bier getrunken. Ein Zigeuner mit seinem Akkordeon kam vorbei. Ich habe ihn gerufen, kennst du Lume Lume? Das ist ein rumänisches Lied.
Ja, hat er gesagt.
Einen Euro.
Ich habe ihm einen Euro gegeben, er brachte sich in Position, er konzentrierte sich, indem er den Kopf zurücklegte.
Lumeee! Lumeeee!
Ich habe eine Gänsehaut gekriegt, und die Tränen kamen mir auch noch …
Hörst du nicht? sagte ich zu der Französin, Lume Lume!
Dann haben wir ihn gebeten, sich