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Das absolut perfekte Verbrechen / Unverdächtig / Paris - Brest: Drei Romane in einem Band
Das absolut perfekte Verbrechen / Unverdächtig / Paris - Brest: Drei Romane in einem Band
Das absolut perfekte Verbrechen / Unverdächtig / Paris - Brest: Drei Romane in einem Band
eBook358 Seiten4 Stunden

Das absolut perfekte Verbrechen / Unverdächtig / Paris - Brest: Drei Romane in einem Band

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Über dieses E-Book

Das absolut perfekte Verbrechen
In einer nordfranzösischen Hafenstadt plant die örtliche Gaunerbande den Überfall auf das Casino. Der Plan ist ebenso verrückt wie perfekt & Ein filmischer Roman in Schwarz-Weiß über den Traum vom großen Glück.

Unverdächtig
In der Kulisse eines nordfranzösischen Küstenstädtchens spielt diese hinterhältige Geschichte um Liebe und Geld und Verrat.
Sam und Lise sind ein Paar. Sie arbeitet als Animierdame und schläft am Tag. Er hingegen schläft nachts und verbringt seine Tage vor dem Fernseher. Das Meer ist nicht weit, doch der Traum von einem anderen Leben scheint auf ewig ein Traum bleiben zu müssen. Bis Lises bester Kunde Henri ihr einen Heiratsantrag macht.

Paris - Brest
Im Tonfall eines Geständnisses geschrieben, ist dieser Familienkriminalroman ironisch und elegant. Es geht um viel Geld, um bodenlosen Verrat. Genau und schlicht entwickelt der Autor die Geschehnisse, Figuren und das Bühnenbild seiner Geschichte. Mit wenigen, eindrücklichen Strichen baut er eine atemlose Spannung auf, die eines alten britischen Krimis würdig und zugleich voller Humor ist.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum22. Aug. 2014
ISBN9783803141705
Das absolut perfekte Verbrechen / Unverdächtig / Paris - Brest: Drei Romane in einem Band

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    Buchvorschau

    Das absolut perfekte Verbrechen / Unverdächtig / Paris - Brest - Tanguy Viel

    Tanguy Viel

    Das absolut perfekte Verbrechen

    Unverdächtig

    Paris – Brest

    Drei Romane in einem Band
    Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel
    Verlag Klaus Wagenbach  Berlin

    E-Book-Ausgabe 2014

    ©2001, 2006, 2009 Les Éditions de Minuit, Paris

    ©2014 für diese Ausgabe:

    Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin.

    Alle Rechte vorbehalten.

    Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

    ISBN978 3 8031 4170 5

    Lesen Sie weiter …

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    Ein amerikanischer Roman

    Das Leben war schon mal netter zu Dwayne Koster, und so besieht er sich die Welt nun vorzugsweise von seinem Wagen aus, einem Dodge Coronet aus den sechziger Jahren, und hört dabei Musik von Jim Sullivan. Dieses Buch von Tanguy Viel ist ein Roman hinter dem Roman. Eine hochkomische, sehr unterhaltsame Parodie ebenso wie eine große Hommage an den amerikanischen Roman.

    Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel

    Quartbuch. Gebunden mit Schutzumschlag. 128 Seiten

    Auch als E-Book erhältlich

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    Roman

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    Aus dem Englischen von Barbara Schaden

    Quartbuch. Gebunden mit Schutzumschlag. 128 Seiten

    Auch als E-Book erhältlich

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    Verlag Klaus Wagenbach Emser Straße 40/41 10719 Berlin www.wagenbach.de

    INHALTSVERZEICHNIS

    Das absolut perfekte Verbrechen

    Teil 1

    Kapitel 1

    Kapitel 2

    Kapitel 3

    Kapitel 4

    Kapitel 5

    Kapitel 6

    Kapitel 7

    Teil 2

    Kapitel 1

    Kapitel 2

    Kapitel 3

    Teil 3

    Kapitel 1

    Kapitel 2

    Kapitel 3

    Kapitel 4

    Kapitel 5

    Kapitel 6

    Unverdächtig

    Kapitel 1

    Kapitel 2

    Kapitel 3

    Kapitel 4

    Kapitel 5

    Kapitel 6

    Kapitel 7

    Kapitel 8

    Kapitel 9

    Kapitel 10

    Kapitel 11

    Kapitel 12

    Kapitel 13

    Kapitel 14

    Kapitel 15

    Kapitel 16

    Paris–Brest

    I Mit Blick über die Bucht

    Kapitel 1

    Kapitel 2

    Kapitel 3

    Kapitel 4

    II Drei Jahre später

    Kapitel 1

    Kapitel 2

    Kapitel 3

    III Der junge Kermeur

    Kapitel 1

    Kapitel 2

    Kapitel 3

    Kapitel 4

    Kapitel 5

    Kapitel 6

    Kapitel 7

    Kapitel 8

    Kapitel 9

    IV Etwas über uns

    Kapitel 1

    Kapitel 2

    Kapitel 3

    Kapitel 4

    Kapitel 5

    Kapitel 6

    Kapitel 7

    Kapitel 8

    Das absolut perfekte Verbrechen

    Den Bildschirm über dem Tresen, mit einer Kamera draußen verbunden, damit man sehen konnte, wer hereinkommt, streifte ich oft mit einem zerstreuten Blick, mal aus Langeweile, mal reflexhaft, und auf die Haarfarbe oder die Hautfarbe dessen, der klingelte, achtete ich kaum auf diesem Bildschirm. Aber an jenem Septemberabend wollte es dieser Fernseher mit der Straße als einzigem Programm, wollte es der Zufall, dass mein Blick daran hängen blieb, durch denselben schweren, verräucherten, übel riechenden Mief, und ich sah, wie er ankam, Marin, nach drei Jahren, höchstpersönlich.

    Jener Abend war ein ganz normaler Abend, normale Rauchwirbel, Schatten, leere Gläser. Kein allgemeines Verstummen, nicht einmal der Geräuschpegel senkte sich, nur Augen- und Nackenbewegungen, und die Gespräche fuhren fort. Leise, an ein paar Tischen vielleicht, würde man über ihn reden, aber flüsternd.

    Wir fixierten uns einen Moment, vier starre Augen, zwei erstarrte Gestalten, dann umarmten wir uns. Drei Jahre, sagte er dann doch, und du hast mich nicht ein einziges Mal besucht im Gefängnis. Eine Pause. Na ja, Leute wie dich, antwortete ich, die sieht man nicht gern im Bau. Wir umarmten uns erneut, zwei Cognacs standen zugleich vor uns, wir prosteten uns zu.

    Ich stellte mir den Genuss vor in seinem Mund, das besondere Aroma, das es ihm bescherte, selbst das leere Glas schien er zu bewundern, und er hob die Hand zum Barkeeper, fragte mich mit einem Zwinkern, ob ich noch einen wollte: Immer ja sagen, dachte ich, vor allem heute Abend, denn einem, der gerade aus dem Gefängnis kommt, dem schlägt man nichts ab. Mehrmals legte er mir den Arm auf den Rücken, die massige Hand auf die Schulter, und lächelte mir zu. Wenn wir hätten reden wollen, wir hätten es nicht gekonnt, diese laute Musik, und mein inneres Zittern.

    Manchmal stellte Marin das Glas auf den Tresen und klemmte die Zigarre zwischen den Zähnen fest. Dann fixierte er mich, und er zeigte mit den Fingern die Zahl drei, Daumen, Zeige- und Mittelfinger, er zeigte die Zahl der Jahre an, unerbittlich, drei Jahre, nickte dazu, und seine Augen schienen den Rhythmus zu geben, drei Jahre, seine Brauen gingen hoch, um die Länge zu betonen, wie um den Sinn zu verstärken, die bezifferte Schwere seiner Finger, dann nahm er sein Glas wieder zur Hand, tätschelte mir die Schulter, warf den Kopf in den Nacken mit geschlossenen Augen, so, trunken, müde, nervös. Auf seinen Lippen las ich nochmals die Bewegung dieser Worte: drei Jahre. Und er lächelte die ganze Zeit, und ich erwiderte es ihm, zwang meine Lippen, sich auseinanderzuziehen, er sollte nichts davon wissen, von meinen inneren Nöten, meinem Taumel, diesen Spiralen und Verknotungen unter meinem Schädel, nichts.

    Zwei, drei Cognacs noch vor dem Gehen, vor unserem Aufbruch, und wahrscheinlich wusste ich, was draußen wartete, wahrscheinlich hatte ich es geträumt, ohne mich daran zu erinnern, also, als wir später gingen, war es wie ein eiserner Vorhang, vom Himmel herab auf mich drauf, und mehrere Minuten lang blieb ich am Boden liegen.

    Aber was sollte ich auch tun, mal ehrlich, also ließ ich mich prügeln, fiel fast gleich beim ersten Fausthieb hin, voll ins Gesicht, ich konnte nichts tun, ihn beschimpfen vielleicht, aber ich bin ja nicht wahnsinnig, ich ließ mich prügeln, fertig.

    Der Lichtschein aus der Kneipe, das Halogen, das eine Art Boxring vor dem Eingang bildete, es gleißte schon lange nicht mehr, und Marin hockte sich neben mir hin und sagte mir tief ins Ohr hinein, sagte, ich hätte ihm gefehlt, und er schlug weiter zu, in die Lungen, in den Bauch, und es sei doch schade, seine Familie nicht mal von Zeit zu Zeit zu besuchen, drehte mir den Arm in den Rücken, wir würden das alles vergessen als alte Kumpel, die wir waren, den Ellbogen in die Zähne, wir hätten schließlich noch einiges miteinander vor, danach drückte er die Zigarre auf dem Pflaster aus, wenige Zentimeter neben meinen Haaren, und ging, die Straßen hinauf, bis er im Licht der Dämmerung verschwand.

    1

    1

    Mit den Scheinwerfern wegen des Regens, der Zettel ZU VERKAUFEN, mit schwarzem Filzer geschrieben und mit Klebstreifen im Rückfenster befestigt, ich erinnere mich, man sah ihn im Rückspiegel, und da er durchscheinend war, sah man ihn richtig herum. Den Rückspiegel hatte Marin als Zubehör gekauft, so was kam aus den Staaten, sagte er, und es stand eingeprägt, auf Englisch, »Gegenstände können näher sein, als sie im Spiegel scheinen«, und er sagte, das gefalle ihm, dieser ins Glas eingravierte Satz. Er wollte ihn selbst anbringen, kaum dass wir den Verkäufer verlassen hatten, auf dem Parkplatz schon wollte er ihn anbringen, aber ich fand es dämlich, Zeit damit zu vergeuden an jenem Morgen, wo wir hunderttausend Dinge zu erledigen hatten vor dem Nachhausefahren. Also hatte er bis zum nächsten Morgen gewartet, einem Samstag, wegen des allwöchentlichen Besuchs beim Onkel.

    Auf dem Weg zum Onkel, gen Norden, wenn man von Marin kam, fuhr man natürlich über die Brücke, dann natürlich durch die Stadt, und nach den Boulevards ging es am Meer entlang. Die Straße schlängelte sich oberhalb der Steilküste dahin, an manchen Aussichtspunkten hätte man sich auf der großen Corniche von Monaco glauben können, wegen der zum Meer hin niederstürzenden Kurven, den Abgrund sichtbar unter den Rädern. Aber dafür fuhr er gut, Marins Mercedes.

    Am nächsten Morgen also hatte er den Rückspiegel über der Windschutzscheibe angebracht, dann war er so gefahren, den Blick immer halb im Spiegel, um den Onkel zu besuchen, den bettlägerigen, der Lattenrost unter dem Gewicht des Greises, die Hände hatte er stets auf dem Leib gefaltet. Außerdem war da die Tante, kaum jünger als er, lesend, kein Mensch hat je erfahren, was es in diesem dicken, bordeauxfarben eingebundenen Buch zu lesen gab, aber sie schlug es nur zu, dieses Buch, wenn Marin hinter ihr ihre Schulter tätschelte, die immer offen stehende Tür ließ sich nicht kontrollieren, allein die Schulter der Tante versah den Dienst einer Tür. Wenn er sich nicht beherrscht hätte, dann hätte Marin draufgeschlagen wie ein Berserker. Aber ihr Auge, das der Tante, saß wie ein unerbittlicher Türspion inmitten der Falten, also beherrschte er sich lieber.

    Der Rückspiegel war sehr schnell vergessen, wenn er vor seinem Onkel loslegte, vor der Tante, vor Andrei und mir, loslegte über die Fortschritte der »Jobs«, so sein Wort, »Jobs«, soll heißen, alles, was er angeblich allein zuwege gebracht hatte, es klang ganz so, als hätte niemand in diesem Zimmer je etwas über ihn gehört, als hätte er irgendwann einmal ohne uns agiert, ohne den Onkel, ganz allein, und schon seit langem die Leitung der Geschäfte übernommen.

    Es gab, um die Wahrheit zu sagen, keinerlei Verwandtschaftsbeziehung zum Onkel. Sogar dieser Spitzname, Onkel, verlor sich zu sehr in der Tiefe der Zeiten, als dass man noch gewusst hätte, woher er kam, in diesem Zimmer, dessen einziges Fenster schlecht schloss und klapperte, dann wusste man nie so recht, ob der Wind, ob die Stimme, ob unsere Bewegungen einen Luftzug veranstalteten zum Obstgarten hinaus, in dem nur ein paar Äpfel einsam wuchsen.

    Und Marin rezitierte die Liste der Einkäufe, die Buchhaltung im Detail, die komplette Überschau all dessen, was, so der »Onkel«, den Lebensunterhalt der Familie sichern sollte. Er selbst, Marin, hatte früher mit den Fingern die Anführungszeichen um die Familie in die Luft gezeichnet. Die »Familie«, so musste man das also verstehen, und das Gefühl, dass wir uns zwischen den Anführungszeichen zugehöriger fühlten, als wenn wir eines Blutes gewesen wären, dank des Stolzes, genau dieser Familie anzugehören, mit der krankhaften Notwendigkeit, seinen Platz in ihr zu finden; er vor allem, Marin, der immer an seiner möglichen, jähen, sinnlosen Verbannung herumzudenken schien, auch ohne den geringsten Grund, dass ausgerechnet er fortmüsste. Wenn es einen gab, der das alles hätte aufgeben müssen, dann ich. Aber ich tat es nicht, weder an jenem Tag noch an den Tagen darauf, ich blieb, das ist meine Geschichte.

    Unsere Geschichte ist das, hätte Marin gesagt. Und er würde loszetern, immer noch im Glauben, so den Sorgen des Onkels zu begegnen, der schon seinen Tod erlebte, ebenso rasch, wie er uns kommen sah, und stumm darum flehte, dass nach seinem Tod nichts verändert würde, dass wir auf seinen Ruinen, so suggerierte er, weitermachen würden. Und ich fragte innerlich: weitermachen womit? Dann stand Marin auf, marschierte zum Fenster, versuchte es zu schließen und blieb dort stehen, aufrecht, um den regenfleckigen Scheiben, an denen sein Atem sich neblig niederschlug, zu erzählen, wie nah der Sieg sei, um wieviel wertvoller die Opfer eines jeden von uns, wie undenkbar der Misserfolg, und immer klammerten sich in seinem Rücken seine Arme aneinander. Dann schloss der Onkel die Augen, und er beließ sie so, geschlossen, die ganze Zeit, und es schien, als interessierten wir uns für seine Träume, für die Hinterlassenschaft seiner Träume. Und Andrei und ich gingen hinaus, von Müdigkeit befallen, wie Automaten, und beobachteten durchs Fenster, wie die dunkle, undurchdringliche Silhouette, wie Marin die Lippen bewegte, und ich stellte mir immer noch, hier zwischen zwei Bäumen, die geschlossenen Lider des Onkels vor, der voller Ruhe und Wärme seufzte.

    Er redete immer weniger, der Onkel, kaum, dass er uns in den letzten Monaten überhaupt begrüßte. Sogar als Marin vor einigen Wochen wieder rauskam, an jenem für den Onkel gebenedeiten Tag, an dem Marin seine Strafe verbüßt hatte, die drei Jahre, die er in einer Zelle von drei mal drei Metern abgesessen hatte, sogar an diesem ersehnten Tag hatte der Onkel keine Zeichen von Rührung an den Tag legen, hatte weder weinen noch zittern wollen. Dabei hatte er so auf ihn gewartet, auf diesen Tag, und war schneller gealtert durch das Wissen, dass Marin in diesem heruntergekommenen Gefängnis saß. Aber für ihn hatte das Wort Rührung wohl allen Sinn verloren.

    Er macht das absichtlich, sagte Marin im Wagen, also dass er nicht mit uns spricht, das macht er absichtlich. Und dass er die grässliche Tante uns fast allein begrüßen ließ, dabei sagte die auch kaum was oder beschränkte sich auf grundlegendste Funktionen der Sprache wie »Kaffee?«, »Seid leise, er schläft« oder »Bis Samstag dann«. Diese Tante, dunkel, vertrocknet, spinnengliedrig, deren mit ihm geteilte Behausung ihren beiden Körpern ähnelte, nur feuchter als ihre rissigen Wangen. Denn Strenge, nein, die kann man nicht improvisieren, dachten wir, und Improvisation und Fantasie hatten sie längst verlassen, sie, deren Gesicht, deren Augen- und Lippenbewegungen mehr Macht ausstrahlten als alle Predigten in der Kirche, sie, wenn sie uns jeden Samstag wieder ankommen sah, erstarrte schon angesichts unseres Eindringens.

    Andrei vor allem, Andrei meinte, ihn nerve das mehr als alles andere, und er verweigerte sobald möglich diese öden Besuche, diese ranzigen Samstage, wie er es nannte, wegen der alten Schachtel. Umso mehr verweigerte er sie, als wir immer zu ihnen fahren mussten, nie sie bei einem von uns begrüßen konnten, immer wir in jenes kurz vor dem Verfall befindliche Haus mussten, um trist denselben Tee ohne Zucker kredenzt zu bekommen, dieselben weich gewordenen Kekse, denselben faden Portwein, und dabei immer im Kopf behalten sollten, dass wir Bosse waren.

    Denn wir waren Bosse.

    Marin behauptete also, der Onkel mache das absichtlich, also schlimmer wirken, als er eigentlich war, wie machte er das nur, welches Vergnügen konnte es ihm in seinem hohen Alter bereiten, sich ohne Sinn und Zweck als noch älter zu geben, als noch degenerierter?

    Ich weiß warum, Marin, ich wusste es schon damals, aber ich habe es dir nie verraten.

    Und wir sprachen auch nicht darüber, weder Marin noch ich, im Wagen auf der Rückfahrt, sagten etwas, das erlaubt hätte, dass ein Dritter Zugriff auf uns alle bekommen hätte oder auf die Beziehungen, die wir zueinander unterhielten, oder getrennt, ein jeder von uns, der Onkel, die Tante, Marin, Andrei und ich, und so behielten wir die Verwicklung für uns, die uns in diesen Zustand falscher Gedankenversunkenheit beförderte, in dem die vorsichtig, geizig, immer in jenem Tonfall, der anzeigt, dass man gern noch eine Erläuterung hätte, gesagten Wörter, wo unter diesen Wörtern der unsichtbare Teil des Eisbergs also nur zu erahnen war.

    Oft fingen wir auf Höhe der Mole, fast zu Hause angekommen, wenn wir über die Brücke fuhren, alle wieder zu reden an. Wir redeten, füllten den Wagen mit allem, was wir sahen, spekulierten über die Segelboote auf dem Meer, sagten »das da hinten, das ist Robs Boot, ja es ist Robs, das mit den grauen Segeln, er ist der einzige, der bei so einem Wetter rausfährt«, unter diesem einförmigen Regen, der immer oder fast das Meer punzte, und wir waren uns so einig in der Absicht, das gallige Schweigen zu brechen. In gewissem Sinne atmeten wir auf, als bedeutete die Aussicht auf die vollbrachte Rückkehr, die Überschreitung der Grenze zwischen zwei Hoheitsbereichen, eine Erleichterung – als gäbe es zwischen dieser ganzen, das Gedächtnis des Onkels tragenden Küste im Norden und der ganz anderen, die Marins Universum im Süden umfasste, einen trennenden Meridian und zur Überschreitung dieser Grenze wäre diese alte Brücke übers Meer vorgesehen, hinter der wir uns frei fühlen konnten, oder allein.

    Also hörte ich kaum zu, wenn Marin vor dem Onkel all die laufenden Geschäfte erwähnte, die »Jobs«, wie er sagte, die für unser Überleben in dieser Welt nötig waren, wie der Onkel es nannte. Das hatte er so oft gesagt: unser Überleben. Man muss ja noch ein bisschen überstehen, fügte der Onkel hinzu, loyal bleiben inmitten all dieser Verräter. Dieser Veräter, genau, bestätigte Marin, der rastlos über das knarrende, abgetretene Parkett tigerte, das ein perfektes Echo für seine immer düstereren Worte abgab, für den alternden Onkel, diese Verräter, das war das immer wiederkehrende Wort, das über die trockene, schneidende Seele der Männer in diesen Kreisen sprach, in diesem angeblich finsteren und schmutzigen Milieu der örtlichen Unterwelt. Allerdings gehörten wir selbst ja auch dazu, zur örtlichen Unterwelt.

    Aber wir, wir waren dennoch anders. Wenn wir eines Tages so werden sollten wie die, tönte Marin, wenn wir werden wie die, ich schwörs, dann verpasst mir eine Kugel ins Herz. Denen geht doch jeder Sinn für die Familie ab, sagte er. Aber weil die Zeiten sich ändern, schloss der Onkel, er, dessen Leben, Vermögen, Position auf festen Begriffen von Freundschaft und Loyalität gründeten und der hier eine Aufweichung, da Verrat witterte, überall, sagte er, wie die Zeiten sich ändern, sagte er immer wieder, zehnmal, seufzend, er, der es so müde war, auszutüfteln, zu teilen, zu verhandeln, und uns jetzt beschwor, nicht zu wanken noch zu weichen, lasst nicht locker, sagte er, bis zum letzten Atemzug, sagte er.

    Und dazu unsere Gewöhnung an Listen und riskante Jobs, seit all den Jahren, in denen dieselben Straßen uns an dieselben Orte brachten, ohne dass wir mehr wussten, ob die Sehnsucht in uns tatsächlich dazu passte.

    Die Gewöhnung auch daran, nicht mehr zu wollen, wuchs mit der Menge der »Baustellen«, der »Jobs«, der »Projekte«, die wir für selbstmörderisch hielten und die jedes Mal schrecklicher zu jener anderen so verwandten Gewohnheit beitrugen, unseren eigenen Willen automatisch vor ihm zu ersticken, vor dem Onkel, oder vor seinem Statthalter, Marin. Und die Gewohnheit, dachte ich, die Gewohnheit zerbröselt bisweilen, ohne dass man irgendwelche Risse gesehen hätte.

    Seit Langem schon war uns all das, das Ausführen von Befehlen, die Revolver unter unseren Jacken, die Art und Weise, wie wir auf der Straße gegrüßt wurden und üble Begegnungen hatten, war uns all das über. Überdruss, sagten wir, daran, nachts immer eine Hand in der Tasche zu behalten, für alle Fälle, sagten wir. Es kommt eine Zeit, da träumt man von was anderem. Aber wenn man nicht selbst in einem Steinbruch landen will, wenn man selbst nur einfach überleben will, dann macht man weiter.

    2

    Also war der Glauben, dieses Mal ginge es anders, dieses Mal würden wir’s sein lassen und hätten das sogar Marin gegenüber ausgedrückt, fünf Mal, zehn Mal, in diesem Auto, das uns jeden Samstag vom Onkel zurückbrachte, also war auch der eine Illusion, natürlich, die uns von Kurve zu Kurve schaukelte. Er, Marin, führte wieder vor, wie toll er seinen Wagen fand, den Blick auf die Straße geheftet, schaltend, vom fünften in den vierten, um die Biegungen anzusteuern, die Kutsche flitzen zu spüren und das Lenkrad festzuklammern, als ich sagte, ist doch verrückt, weiterzumachen, Marin, dieser Starrsinn passt eigentlich nicht zu dir, und deine Antwort, zum Glück sei es verrückt, in den Dritten, klammernde Hände, der Motor röhrte wieder auf, denn seit Langem, das ist gewiss, sprachen wir nicht mehr dieselbe Sprache.

    Es gab bei Marin keinen Eingangsflur, wir waren sofort im Wohnzimmer und versuchten, die Vögel nicht zu erschrecken, die beiden zahmen Papageien, die dort lebten, im Wohnzimmer, und losflatterten, sobald sie uns kommen hörten. Marin verhätschelte seine Papageien, und sie beruhigten ihn, sagte er.

    Aber was vor allem beeindruckte, wenn man zwischen die vielen Sessel trat, die Steinwände, vor das Panoramafenster, durch das Licht in den Raum strömte, was beeindruckte, das war der Anblick des Meers schräg unten. Marin führte es stolz jedem neuen Besucher vor, jedem Gast, und alle bestaunten sie die Aussicht und setzten sich fasziniert davor. Wir aber waren es schon gewöhnt, uns konnte das nicht mehr beeindrucken, wir kannten das Meer seit jeher. Außerdem ging der Blick nicht nur aufs Meer, ins Weite, sondern auch auf die kompakte, arbeitsame, rostige Masse der Hafenstadt gegenüber, das war unser Meerblick, oder auch die Hintergrundfarbe. Und dann sahen wir durch das Fernglas, das da auf einem Holztischchen stand, einer nach dem anderen fern die Stadt, den Hafen, und glaubten, alles, was wir damit umfassten, vor allem Marin wollte das glauben, dass alles, was wir dann vergrößert vor der Nase hatten, die Stadt, das Meer, dass uns das gehörte. Kein Wunder, dass er einen rennen hatte, sollte ich später sagen, und dass drei Jahre im Bau ihm nicht genügt hatten.

    Im Park gab es Bäume, die seit Langem da wuchsen, um für die Gediegenheit zu sorgen, nach der er verlangte, und man hätte sie für Wasserpflanzen halten mögen, die sich aus den Banden des Wassers befreit hatten. Da waren seine blauen Sessel, die nach einem Abfluggate aussahen, aber vor diesem Fenster auch wirkten wie in einem Aquarium, immer noch wegen dieser grauen Stadt gegenüber, zu drei Vierteln von den Zweigen der Kiefern schraffiert, erst der Hafen vorn auf der Bühne, dann die Stadt dahinter aufgehäuft, über dem ruhigen Wasser. Wie eine Stadt auf dem Meeresgrund. Wie Marin mal gesagt hat: Wir sind nicht hier, um einen auf Touris zu machen. Und so war es: wie in einem Reisebüro, die blauen Sitze zur Vorbereitung der Abreise und über dem Kopf das Poster mit dem Ziel.

    Dann wandten wir den Blick ab und wussten, es stimmt, wir sind nicht hier, um einen auf Touris zu machen, sondern im Gegenteil alle gemeinsam ganz und gar auf ein Ziel hin gespannt, ein Datum, das unsere Zukunft und unsere Daseinsberechtigung vor sich hertrug: das des nächsten Coups, den er, Marin, beschlossen hatte, angeordnet vom Onkel, aber beschlossen von dir, Marin, des nächsten Coups, der uns einspannte wie ein Schraubstock.

    An jenem denkwürdigen Samstag – der Onkel in seinem staubigen Schaukelstuhl, den wir für ausgemustert gehalten hatten, endlich mal nicht in seinem alten Morgenmantel, gekämmt, wie wir ihn seit Jahren nicht gesehen hatten – begriff ich sofort, dass etwas im Busch war. Sogar die Tante, sonst düster und trocken und hager, deren Felsengesicht uns jede Freundlichkeit versagte, selbst sie entspannte ihre Lippen beim Wangenkuss. Ich weiß noch, als ich sie lächeln sah, hatte ich Zeit, mich zu fragen, ob er vielleicht gestorben war, der Onkel. Aber statt tot war er lebendiger denn je.

    Er sagte: Die Idee ist nicht von mir, er sagte: Die Idee ist von Marin, aber ich billige sie. Marin, erklär es ihnen. Und Marin erklärte es uns, Marin setzte sein Pfaffengesicht auf und erläuterte seine Idee: das Casino, es einfach ausräumen, ich hab nachgedacht im Gefängnis, das würde uns wieder flottmachen. Andrei und ich, wir regten uns nicht, standen wie angenagelt auf dem gebohnerten Wohnzimmerparkett, hörten weiter zu, Marin, der Onkel, wie ein Konzert zu zwei Stimmen, eine Partitur, von beiden notiert, ein einziges Wort kreiste in unseren Schädeln, Casino. Dieses Wort summte in unseren Gehörgängen mehr als ein Ohrwurm, denn wir wussten auswendig, was sich alles unter diesen sechs Buchstaben geduckt hielt: Casino, die Macht des Geldes, die eisernen Fäuste, und die Gesichter der Männer, die mehr als wir auf der Stadt lasteten.

    Eine Razzia, ein Überfall, wenn euch das lieber ist. Und ich fröstelte unter meiner Jacke.

    Wenn das gelingt, fing der Onkel wieder an, wenn das gelingt, dann ist es das absolut perfekte Verbrechen. Und er setzte die Wörter voneinander ab, einzeln, so: das … absolut … perfekte … Verbrechen.

    Wir sagten kein Wort, Andrei und ich, standen stumm da, schienen sämtliche Informationen aufzusaugen (obwohl nur einzel Silben unsere Hirne auftupften: Ca-si-no, aus-räu-men, Ü-ber-leben, Fa-mili-e), mit verschränkten Armen, die unsere Jacken fest-hielten, und hüstelten nur, um die Beklommenheit zu verscheuchen oder etwas, das ihr ähnelte, der Angst vielleicht, etwas, das uns jetzt trennte. Von einer fixen Idee besessen, dachte ich über Marin, ihn, der die ganze Sache allein ausgetüftelt, das alles uns gegenüber mit keinem Wörtchen erwähnt und den Onkel überzeugt hatte, allmählich, indem er sich zu ihm setzte, seine Hand nahm, ihm versprach, ihm garantierte, dass wir ihn überdauern würden, dass die Familie ihn überdauern würde, und später sagte er noch einmal zu uns: Wir werden dafür sorgen, dass sein Name uns alle überlebt. So hast du es geschafft, Marin, ich schwör dir’s, so hast du es geschafft.

    Und der Onkel redete weiter, er fegte den Boden mit Blicken, seine Augen wanderten von rechts nach links und wagten sich nie direkt zu uns, aber in seinem Tonfall war die Gewissheit eingeschrieben, das Fehlen jedes Irrtums oder Risikos, und die wilde Entschlossenheit, sie fertigzumachen, die anderen. Bald, darauf beharrte er, werdet ihr als reiche Männer aufwachen, stolz und glücklich. Und das Wort Casino rumorte in unseren Bäuchen, beim Onkel, im Wagen, auf der Brücke, bei Marin, diese Phantomidee, die meine Lider und meine verschlossenen Lippen bearbeitete, denn es war nichts für uns, das Casino, nichts für solche wie uns. Solche wie wir, Marin, solche wie wir segeln eine Klasse darunter.

    Wir mochten ja Bosse sein, vielleicht war da was in unseren Gesichtern, das Furcht einflößte, und vielleicht gab es mal eine Zeit, da hatte man in der Stadt Angst vor uns, vor unseren gut eingefädelten Übergriffen, unseren schwarzen Jacken, vielleicht hätten wir weiter in den dunklen Vierteln rumkurven und Geld abgreifen können, wenn es in schmutzige Hände geraten war, bloß beim Casino, da konnten wir nur eins tun, nämlich mit gesenktem Kopf dran vorbeigehen.

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