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Dropout: Roman
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eBook404 Seiten5 Stunden

Dropout: Roman

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Über dieses E-Book

Ingmar war mal wer in der Provinz. Er hatte Geld, Familie, eine eigene Firma. Heute mit fast Mitte 50, hier in Berlin, hat er nichts mehr. Nicht mal eine Wohnung oder Lust aufs Leben. Doch sein Hippie-Freund Tobi träufelt ihm nach und nach Kraft und Zuversicht ein. Oder auch mal MDMA. Ein mysteriöser Anruf schickt die beiden mit Tobis französischem Wagenburg-Buddy Pierre auf einen absurden Roadtrip quer durch Europa – Tobis seit Jahren verschollener Vater, ein kauziger Wissenschaftler, steckt in der Klemme. Für Ingmar scheint eine andere Zeit anzubrechen. Er stellt sich sogar seiner egomanen Vergangenheit, die sein eigenes Schicksal und das vieler anderer gegen die Wand fuhr. Aber seine Schmerzen im Bauch werden immer heftiger, Blut husten kann auf Dauer einfach nicht gesund sein...
In Dropout lässt Fabian Giese die Vater-Sohn-Beziehungen der drei Protagonisten aufeinanderprallen. Aber auch gegenwartspolitische Themen wie toxische Männlichkeit, Rassismus und Turbokapitalismus verwebt er mit dichter und direkter Sprache zu einer turbulenten Erzählung, die immer wieder die Grenzen zwischen Realität, Traum und Trip verschwimmen lässt.
SpracheDeutsch
HerausgeberOmnino Verlag
Erscheinungsdatum24. März 2023
ISBN9783958942455
Dropout: Roman

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    Buchvorschau

    Dropout - Fabian Giese

    Dropout

    Für Alessia

    Impressum

    Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

    http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    Lektorat / Korrektorat: Ralf Diesel

    Grafisches Gesamtkonzept, Titelgestaltung, Satz und Layout: fototypo.de

    ISBN: 978-3-95894-244-8 (Print) / 978-3-95894-245-5 (E-Book)

    © Copyright: Omnino Verlag, Berlin / 2023

    Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen und digitalen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten.

    Inhaltsverzeichnis

    Kapitel 1

    Kapitel 2

    Kapitel 3

    Kapitel 4

    Kapitel 5

    Kapitel 6

    Kapitel 7

    Kapitel 8

    Kapitel 9

    Kapitel 10

    Kapitel 11

    Kapitel 12

    Kapitel 13

    Kapitel 14

    Kapitel 15

    Kapitel 1

    Alle Viere von sich gestreckt lag er da. Wie ein Schneeengel, der aufgegeben hat, weiter mit den Flügeln zu schlagen. Leerer Blick.

    „Wenn es doch Schnee wäre, dachte er sich, „dann könnte ich einfach meine Augen zumachen. Einschlafen.

    Aber es war einfach nur Dreck, der von unten an ihn ransuppte. Dreck und Staub des Hochsommermolochs, dessen parasitärer Bewohner er war. Dreck und Staub, den der kurze, aber heftige Gewitterschauer in graue, miefende Matsche verwandelt hatte.

    „Von wegen Sommerregen duftet immer so frisch", grummelte er vor sich hin.

    Der modrige, leicht beißende Gestank zog sogar ihm merklich in die Nase. Und das, obwohl er mittlerweile mehr als abgehärtet war, was unangenehme Gerüche betraf. In der U-Bahn wechselten wegen ihm die Menschen angeekelt das Abteil, ihre Blicke beschämt zu Boden oder aus dem Fenster raus gerichtet. Verübeln konnte er es ihnen nicht. Hätte er früher nicht anders gemacht. Aber dieser Fakt änderte nichts daran, dass es einfach wehtat – auch wenn er sich das nicht eingestehen wollte. Seine Klamotten umschlackten ihn, sonst immer völlig verkrustet und seit Wochen nicht gewaschen, jetzt komplett durchnässt. Sie zogen ihn nochmal mehr zu Boden. So wie das von ihm runtertriefende Wasser einer brackigen Brühe entsprach und dabei eine ungewollte Teilreinigung vollzogen wurde, hatte er das Gefühl, dass seine gesamte Rückseite die doppelte Menge an zivilisatorischer Ursuppe gierig einsog. Er war ein dreckiger unbedeutender Tropfen im ursprünglichsten aller Kreisläufe – von Staub zu Scheiße zu Staub zu Scheiße zu Staub und immer so weiter.

    Der Dreck war über die Monate zum Panzer geworden. Versuche, ihn abzulegen, waren zwecklos. Das Gewicht drückte erbarmungslos auf die Schultern. Bucklig kam er mittlerweile daher. Und dabei war er vor drei Wochen gerade erst 52 geworden. Dem Klischee nach für Männer eigentlich das beste Alter. Etabliert, abgesichert, erfolgreich, faltiger als in den Zwanzigern, aber immer noch attraktiv genug, um bei Weihnachtsfeiern Werkstudentinnen und bei Messebesuchen Hostessen abzugreifen.

    Er war am Ende. Sein Leben ein sinnloses Dahinsiechen. Früher hatte er sich in seinem Hochmut Unsterblichkeit gewünscht. Heute wäre er froh, sterblicher zu sein. Seine Welt: ein emotionaler Kühlschrank.

    „Kann bitte jemand die Tür zumachen, damit endlich das Licht ausgeht?"

    Er blinzelte hektisch. Ein Tick, der vor geraumer Zeit über Nacht gekommen war. Abrupte und unkoordinierte Verschlusszeiten für abertausende triste Bilder, die sich Tag für Tag auf seiner Netzhaut einbrannten. Er selbst hatte keine Lust, in diesem Museum der Retrospektive umherzuwandeln. Was so viele in dieser Stadt auf ihrem yuppieesken Selbstfindungstrip verzweifelt versuchten, gelang ihm tatsächlich problemlos: im Augenblick zu leben. Also, nicht wirklich leben. Eher dahinvegetieren. Aber das, was hinter ihm lag, und noch viel mehr das, was folgen sollte, spielte für ihn keine Rolle mehr. Gedanken an die Vergangenheit verursachten Schmerz (die Phase der Selbstkasteiung hatte er hinter sich), also hatte er sich selbst so konditioniert, Erinnerungen an die gute alte Zeit innerhalb von Sekundenbruchteilen verpuffen zu lassen. Nun war er schon an dem Punkt des Vergessens angelangt. Blasse Nebelschwaden hingen irgendwo da hinten in den Wirrungen seines nur noch an vereinzelten Stellen behaarten Kopfes, traurige Büschel verfilzter Haare hingen herab wie Trauerweiden. Aber auch diese wattigen Episoden seines alten Ichs würden bald restlos verschwunden sein. Und wie gesagt, noch extremer war er mit allem Zukünftigen. Wenn er nur an das Wort Zukunft dachte, musste er verbittert auflachen, was meist in röchelnd-rasseligem Husten resultierte.

    „Wie dumm sind die Leute da draußen eigentlich alle? Denken, dass alles, dem sie Zukunft voranstellen, höher, schneller, geiler bedeutet? Zukunftsvision, Zukunftsforscher, zukunftsweisend … immer nur Fortschritt, anhäufen, mehr, mehr, mehr. Keiner bleibt auf der Strecke. Und wenn doch, hat er’s nicht anders verdient. Schwach oder dumm oder faul oder einfach nur Pech oder alles davon."

    Diese ethisch-philosophisch angehauchten Abhandlungen konnten ihn ewig beschäftigen. Ab und an wuchsen sie zu Streitgesprächen aus, er duellierte sich mit sich selbst, brabbelte und plapperte unentwegt vor sich hin, schob die Ärmel seines Sweatshirts mit den ausgeleierten Bündchen hektisch über die Ellenbogen. Nach zwei Sekunden das gleiche Spiel, weil sie wieder runtergerutscht waren. Rote Striemen auf den Unterarmen – immer dieses Kratzen mit seinen ungeschnittenen, schorfig-rauen Fingernägeln. Dabei hüpfte er eine nur ihm bekannte Choreographie, die mit zunehmender Diskussionsintensität immer wilder wurde. Jedes Mal, wenn es zu solchen Ausbrüchen an sehr belebten Ecken, wie dem Alexanderplatz oder dem Hermannplatz, kam, bildete sich um ihn herum eine ovale Freifläche, unsichtbar abgekordelt zu den dutzenden Passanten, die um seinen Dunstkreis herumflossen, die Köpfe schüttelnd, die Augen verdrehend. Das war kein Kunstprojekt, das aufrütteln sollte. Das war ein Theaterstück in unzähligen Akten, das das Leben geschrieben hatte – mit Blut, Schweiß, Tränen, Speichel, Sperma. Das Publikum war ihm eigentlich egal. Es störte ihn aber, dass niemand außer ihm Position bezog, sich auf eine Seite schlug, mit einstieg in den verbalen Schlagabtausch. Hier ging es um was! Hier wurden gerade die tatsächlichen Grundfesten unseres Daseins auseinandergenommen! Wie konnte das allen so scheißegal sein?! Alles dumme Lämmer, die allem und jedem hinterhertrotten, was nur im Ansatz Status, Anerkennung, Befriedigung, Ablenkung versprach. So, so lange war er einer von ihnen gewesen, aber das lag jetzt hinter ihm. Diese Ignoranz brachte ihn auf die Palme, trieb den Puls in die Höhe. Die Adern an seiner Schläfe traten pochend hervor, Schweißperlen rannen die Stirn herunter, brannten in den eh schon stark geröteten, trockenen Augen.

    Für das Ende dieser brachialen Performances gab es eigentlich nur zwei Szenarien: Entweder sank er irgendwann komplett erschöpft in sich zusammen und schlief komatös ein. Oder die netten Herrschaften in Blau kamen vorbei, verwiesen ihn des Platzes, redeten auf ihn ein, packten ihn letztendlich unwirsch, sodass die Knochen knackten, und warfen ihn ohne Umschweife in eine karge Zelle, in der es nicht mehr gab als eine dünne Plastikmatte und kaltes Licht. Ein Loch im Boden fürs Nötigste. Blutige Knöchel waren nach jedem dieser Aufenthalte normal. Der Schorf hatte gar keine Chance, zu aschfahler Haut heranzureifen. Ein ums andere Mal landete er krachend auf den weißen Kacheln. So schnell, wie die wässrig roten, kryptischen Krakeleien an der Wand nach seiner Freilassung abgewischt wurden, so schnell geriet er jedes Mal in Vergessenheit bei den Beamten vor Ort. Nach ihm wurde der nächste Verrückte abgeliefert, die Zellentür hätte gut eine Drehtür sein können. Empathie: Fehlanzeige. Bürokratische Wahrung der öffentlichen Ordnung. Da war kein Platz für Einzelschicksale, die solche Verhaltensweisen eventuell hätten erklären können. Nach Stechuhr und Regel 35b Absatz schieß-mich-tot wurde verfahren. Völlig egal, ob es sinnvoll war. Hauptsache Kollege Bürstenschnitt konnte einen Haken dahinter machen, die x-te Beschwerde, das x-te Vergehen in seiner Akte vermerken, um dann beruhigten Gewissens zum Abendbrot mit Bierwurst und Spreewaldgürkchen zu fahren.

    Der Regen und die Wolkenwand, die kurzzeitig apokalyptisch anmutete, hatten sich verzogen. Das unschuldig strahlende Blau bot ihm eine Leinwand, auf der seine verdreckten Finger Endlosschleifen zogen. Aber nichts blieb hängen. Er malte weiter, abwesend, dennoch irgendwie fasziniert von der Weite in seinem Blickfeld. Plötzlich tauchte eine ausgestreckte Hand vor seinen Augen auf. An der Hand hing ein Typ, den er kannte. Dieses schlitzohrige Grinsen war einzigartiger als sein Fingerabdruck: Tobi – ein, wenn man Ingmar fragte, auf Pilztrip hängengebliebener Mittvierziger, der durch die Parks Berlins schwebend göttliche Liebe „spreadete" und Anglizismen jenseits von Gut und Böse verwendete, weil er sich vor zehn Jahren mal für ein paar Wochen in einer hawaiianischen Kommune verlustiert hatte und ihn die Vibes seitdem nicht mehr losließen. An und für sich war er aber ein dufter Typ.

    „Ey, Ingo! Was machst du für weirden Stuff hier? Das nenn’ ich mal ’nen Schlamm-assel", hechelte Tobi ihm entgegen, krakelig lachend.

    Tobi hatte ein Faible für Wortspiele, für die sich 99 Prozent seiner Mitmenschen schämen würden. Außerdem konnte Tobi es sich einfach nicht in seine in esoterischen Sphären verlustierende Birne packen, dass er Ingmar hieß. Nicht Ingo. Aber was bedeutete das schon, eigentlich war’s völlig egal. Ingmar oder Ingo. Beides Kacknamen. Zu Anfang hatte er noch versucht, ihm Eselsbrücken zu schaffen:

    „Na: Ingmar. So wie Ingmar Bergman."

    „Ah, war das nicht der, der schon sieben Mal aufm Mount Everest war und – so funny! – Bergmann heißt?"

    „Nein, das ist ein ziemlich berühmter … ach, ist doch auch latte. Vergiss es!"

    Trotzdem hatte er Tobi irgendwie ins Herz geschlossen. Oder eben in das, was die letzten Jahre des Selbsthasses übriggelassen hatten. Tobi war ein aufrechter Kerl. Vielleicht nicht mehr der Hellste. Aber grundehrlich. Er log tatsächlich nie. Dem hatte er abgeschworen. Einfach so. Damals, als er zum zweiten Mal nackt auf LSD durch den Grunewald tanzte und alteingesessene Seniorinnen in Allwetterjacken bei ihrem samstäglichen Nordic-Walking-Stammtisch die Schamesröte in die gebotoxten Gesichter trieb. Zum einen, weil er schrecklich schief Schlager aus den späten Fünfzigern trällerte. Zum anderen, weil sein Gemächt tatsächlich eben jenen Namen verdient hatte und selbst Poolboy Pedro aus Guadalajara, der im vergangenen Sommer bei Claudia und ihren Mädels reihum gegangen war, nicht hätte mithalten können. Das Gemächt baumelte, während Tobi taumelte. Und in den kindischen Untiefen seines innersten Ichs blickte er in einen Spiegel, in dem ein mit pinker Dauerwelle aufgehübschtes Krokodil zu ihm meinte, dass lügen ja sowas von bourgeois sei und er deshalb doch bitte zukünftig davon abrücken solle. Tobi und das Krokodil gaben sich ein High Five und damit war ‚der Deal done‘. So hatte ihm Tobi eines nasskalten Novemberabends davon vorgeschwärmt. Für Ingmar war es die einzige Konstante, die in seinem Leben übriggeblieben war: Tobi, der immer die Wahrheit sagte. Ein letzter kleiner Strohhalm auf dem sonst restlos niedergemähten Feld, auf dem einst die prächtigsten Illusionen blühten. Und genau deshalb konnte Ingmar diesem bärtigem Waldschrat (so bezeichnete er ihn still und heimlich für sich) nicht im Geringsten böse sein, als er ihn eben aus der fahrigen Himmelspinselei ge-eyt hatte.

    Tobi zuttelte eine schon ziemlich vergilbte Einkaufsplastiktüte aus der Seitentasche seines Sommerparkas, faltete sie säuberlich auf, als wäre es ein edler Flokati, und platzierte dann seinen Hintern darauf, um nicht wie Ingmar die Schlacke des unbegrasten Parkgrunds in die Kimme gepresst zu bekommen. Natürlich im Schneidersitz. Ingmar richtete sich schwer ächzend auf. Seine Sitzhaltung glich einem Sack Mehl, den man achtlos in die Ecke gepfeffert hatte. Und bei jeder Bewegung des Oberkörpers dieser dumpfe Schmerz im Brustkorb, weit ausstrahlend, ohne dass er das genaue Zentrum ausmachen konnte. Tobi streckte ihm ein erstaunlich kühles Sterni hin.

    „Seine verdammt hässliche Jutetasche hat also auch positive Seiten, dachte sich Ingmar. „Hoffentlich verstecken sich da noch mehr von der Sorte …

    Sie prosteten sich zu, ein erster tiefer Schluck, es prickelte nicht im Bauchnabel, aber die Kehle runter. Da erst merkte Ingmar, wie lange er wohl nichts mehr getrunken hatte. Der Wunsch nach Flüssigkeit lag gleichauf mit dem Wunsch nach Alkohol. Er musste sich zusammenreißen, die Flasche nicht mit wenigen großen Schlucken zu leeren. Auch Tobi waren Ingmars gierige Augen nicht entgangen.

    „Sachte, sachte, Dude. Ohne bewussten Genuss sind wir doch nix anderes als asselige Kellerasseln, right?"

    Zur Veranschaulichung ließ er einen Käfer mit schimmerndem Panzer vom Boden auf seine Finger krabbeln und betrachtete ihn anschließend aus nächster Nähe.

    „Findest du nicht auch, dass allein schon diese Gedanken Fluch und Segen zugleich sind? Also dass wir Menschen die einfach so haben, gar nicht ohne können, unser Hirn ständig rotiert und alles mit einem Sinn versehen will? … Ingo? Ingo! Listen to me!"

    Wenn ihm jemand nicht zuhörte, konnte Tobi echt schnell salzig werden. Dann schnaubte er affektiert, was seiner Echauffiertheit eher komödiantischen Charakter verlieh, als dass es beim Gegenüber für erhöhte Aufmerksamkeit sorgte. So war es auch der Hauch eines süffisanten Grinsens, den Tobi auf Ingmars Gesicht erhaschte.

    „Ey, du bist echt ‘n ass! Bier einheimsen, aber keine Manieren hier mit deinem Buddy. Du bist mir einer …", raunzte Tobi.

    „Ja ja ja, komm mal runter, brummte ihm Ingmar entgegen. „Ist nicht so mein Tag. Hab’ scheiße geschlafen. Und kacken war ich seit zwei Tagen nicht mehr. Backsteine im Bauch.

    Er zog seinen Pulli hoch, um wohl zu zeigen, dass dem auch so war. Tobi sah nichts außer einen ausgemergelten Rumpf mit Schmerbauchansatz.

    „Äh, ok, sorry. Wenn ich das gewusst hätte. Will dich ja nicht nerven. Dachte nur, dass du vielleicht ein bisschen …"

    „Komm, lass gut sein, passt schon", fiel Ingmar ihm ins Wort.

    Er wusste, wenn sich hier einer entschuldigen musste, dann er. Einen Freund wie Tobi hatte er eigentlich gar nicht verdient. War er tatsächlich so was wie ein Freund? Konnte nicht sein. Mit ihm würde sich doch keiner ernsthaft abgeben wollen. Er war ein Stück Abfall, nicht mehr, nicht weniger. Ausgekotzt vom Erfolgsroulette, den ganzen Einsatz auf die falsche Zahl gesetzt. Und schon fuhr Ingmar eine weitere Runde in der Selbstmitleidsachterbahn, hoch und runter, immer schneller, Looping nach Looping, im Magen rumorte es kräftig, Säure stieg ihm in die Speiseröhre. Er spülte die Übelkeit zackig mit Bier runter. Der letzte Schluck schmeckte fahl. Das Prickeln war weg, welch’ Analogie auf sein Leben, sinnierte er in sich rein. Seine dürren Knochen schlotterten.

    „Du, ich würde jetzt mal wieder lossteppen. Irgendwelche plans hab’ ich für heute Abend noch keine gemacht. Willste dich mit mir treiben lassen?"

    Dabei machte er wellenartige Bewegungen mit seinen zu den Seiten ausgestreckten Armen, wiegte den Kopf hin und her und setzte einen Hundeblick sondergleichen auf – aber eher à la dahergelaufener Mischling im letzten Lebensabschnitt und nicht als kindchenschematisch für Entzückung sorgender Vorzeigewelpe.

    „Ich würde auch erst mal in mein Crib gehen, um mir was hinter die Kauleiste zu heften. Hab’ zu viel gekocht, und bevor ich’s rausschmeißen muss. Komm schon, gib dir einen Ruck", Tobi versetzte ihm einen fast liebevollen Schulterschubser.

    „Oooh maaan, okeee … bevor du noch ewig rumnervst!"

    Es war ihr kleines, nur ihnen bekanntes Ritual, und obwohl es so offensichtlich war, spielten sie beide ihre Rollen nach all diesen Monaten weiterhin sehr überzeugend. Ingmar, der sich nur nach ewiger Bettelei überreden ließ, mitzukommen, und sich dabei nichts sehnlicher wünschte, um nicht allein zu sein. Tobi, der ein feines Gespür hatte, sich über Ingmars Verhalten maßlos hätte aufregen können, es aber unterließ, da ihm bewusst war, welche Ankerfunktion er für Ingmar hatte. Im echten Leben, also in dem Leben, in dem bei Ingmar alles nach Plan gelaufen war und er dabei schön geschmeidig in der Spur lief, hätten sie sich never ever kennengelernt. Da war sich Tobi sicher. Ihre Bubbles hätten sich voneinander abgestoßen, für einen kurzen Augenblick wären die Hüllen vielleicht aneinander gerieben worden, ohne dabei den anderen überhaupt wahrzunehmen. Und dann dachte das Schicksal sich: So, den Ingmar schnapp’ ich mir mal, zeig dem, was ’ne Harke ist. Große Nadel, schützende Bubble ade. In Stein gemeißelte Gewissheiten und kristallklare Träume, die zerbröckelten und zerplatzten.

    Tobi schnappte sich Ingmars Hand, zog ihn hoch, klopfte auf dessen T-Shirt rum, was aber nicht wirklich half. Nass und dreckig war es nach wie vor. Den alten Bundeswehrrucksack über die Schulter geworfen, schlurfte Ingmar, nur nach außen hin missmutig dreinblickend, aber innerlich himmelhoch jauchzend, diesem liebenswerten Hippie-Klischee hinterher. Die nassen Socken in den zerschlissenen Adidas-Tretern waren kein Vergnügen. Das Resultat nach einem guten Kilometer: Blasen auf den Blasen, die auf den Narben der vorangegangenen Blasen munter vor sich hin schmerzten. Früher genoss er im Freundeskreis einen Ruf als passionierter Wanderer. Wenn jemand auf der Suche nach herausfordernden und unbekannten Trekking-Touren in den Dolomiten oder im gerölligen Gebirge Teneriffas war, dann rief man Ingmar an, der ausführlichst Auskunft gab und gerne auf seinen Blog verwies. Laeuftbeimir.de. Die Besucherzahlen hatten sich in Grenzen gehalten. Wahrscheinlich lag es am Umlaut, der bei der Eingabe der URL insbesondere legasthenische Wanderer völlig überforderte. Oder der zu große kompetitive Charakter seiner Auffassung von Wandern. Es ging nämlich vor allem darum, immer schneller zu sein als die anderen, die Tour noch länger und kraftraubender zu machen, als Sieger aus dem Ganzen hervorzugehen – die Schönheit der Natur spielte zum Beispiel nur noch eine untergeordnete Rolle. Das war was für Frauen.

    Seit sein Leben eine 180-Grad-Wende absolviert und ihm dabei den ausgestreckten Mittelfinger in die Harnröhre gerammt hatte, hasste er es zu laufen, vom Wandern ganz zu schweigen. Das war halt echt so ein Ding für Reiche. Wandern. Sinnbefreites Rumlatschen, weil man es sich leisten konnte. Schon mal einen Goldminenarbeiter aus Mali dabei erwischt, der sich an seinem freien Tag des Monats die Walkingstöcke schnappte und mit einer flotten Melodie auf den Lippen losstiefelte? Wohl kaum. Mit all diesem Groll im Kopf, mit diesem zunehmend klaren Blick auf die Verhältnisse in seinem Kiez, dieser Stadt, dem Land, den drumherum befindlichen Ländern, den anderen Kontinenten verbitterte Ingmar immer weiter. Wir sind alle gefickt – und wir werden andauernd weiter gefickt. Und niemand scheint ein Problem damit zu haben. Alles eine große Maskerade. Er schnaubte und trottete und schnaubte.

    „Wie lang denn noch, Tobi?"

    „Wir haben es gleich, wirklich!"

    „Aber das letzte Mal sind wir doch da vorne links rum und mussten dann noch 20 Minuten auf den geklauten Bikes radeln?!"

    „Jahaaa. Aber ich musste da weg, die haben Ärger gemacht. Ich sag’ dir, find mal ’nen neuen Stellplatz zurzeit. Und da jammern alle, der Wohnungsmarkt sei so terrible. Mimimi! Da bleibt mir die Spucke im Hals stecken beim Lachen, eh eh eh …"

    Tobi besaß, seit er aus Hawaii zurückgekommen war, einen uralten Schaustellerwagen, den er sich beim Genuss hunderter Joints Schritt für Schritt zum feuchten Traum aller Aussteiger um- und ausgebaut hatte. Wagenburgen in ganz Europa hatte er im vergangenen Jahrzehnt sein Zuhause genannt. Und doch zog es ihn immer wieder nach Berlin zurück.

    „Ingo, da ist der Spirit ein anderer. Ich kann’s nicht erklären. Selbst wenn sie mir die Reifen zerstechen oder die Gasflasche mopsen, nehm’ ich das als Zeichen der appreciation. Was sich liebt, das neckt sich, was! Pahaha!"

    Ingmar schüttelte bei Tobis Ausführungen seiner Liebe zu Berlin immer nur ungläubig den Kopf. Er würde sich wünschen, aus diesem Drecksloch endlich verschwinden zu können. Für immer. Wahrscheinlich war Tobi heimlich Masochist, davon war Ingmar nach nicht allzu langer Zeit überzeugt. Dabei fußte Tobis Verhalten und Einstellung zum Miteinander auf einer ganz anderen Prämisse: Kill them with kindness. Wie viele Drogen musste man sich reinfahren, um dieser Welt, in der nur galt ‚fressen oder gefressen werden’, immer noch mit Optimismus entgegentreten zu können? Das war Ingmar ein Rätsel. Als er mal wieder stockbesoffen in einer U-Bahn Station rumgelegen war, hatte er sich sogar gedacht: Ist Tobi vielleicht der wiederauferstandene Jesus? Von den Erzählungen her könnte es passen, Frisur ist die gleiche, und da im Himmel hat er wahrscheinlich noch ’nen Dreier mit Martin Luther King und Mutter Theresa gehabt, Ghandi hat zugeschaut, wie die beiden die Olle richtig durchgebumst haben und hat sich dabei einen runtergeholt, perverses Schwein!

    So kam es, dass er an jenem Abend irgendwann wild randalierend „Tobi, du sexgeiler Jesusfreak!" in Dauerschleife brüllte. Auch dieser Abend endete in Sicherungsverwahrung.

    „Ich hab’ aber mal wieder Glück gehabt. Mein Kumpel hier, der Pierre, hat mir noch ’nen Platz klar gemacht."

    Tobi zog einen Bauzaun zur Seite, gab Ingmar mit einer zackigen Kopfbewegung zu verstehen, durch die kleine Öffnung zu steigen. Mit dem Gesicht streifte Ingmar erstmal volle Breitseite einen Dornenbusch. Das Gestrüpp war so dicht, dass er bei der aufkommenden Dämmerung nicht ausmachen konnte, wo es hier langgehen sollte. Er ließ Tobi wieder den Vortritt. Nach wenigen Minuten und diversen Wurzelstolperern waren sie endlich da. Inmitten des urwaldartigen Großstadtgrüns tat sich ein kleiner Platz auf, nicht größer als zehn mal zehn Meter, schätzte Ingmar. Die Lichterketten an Tobis Wagen funkelten, ließen die Szenerie unwirklich erscheinen.

    „Wie zur Hölle hat er denn diesen Koloss hierhin bekommen?! Eigentlich auch egal, solange er diese göttliche Couch noch hat", dachte sich Ingmar.

    Rechterhand an Tobis Heimstatt anschließend, leicht schräg, stand ein mit psychedelischem Graffito verzierter Wohnwagen. Das musste wohl der von diesem Pierre sein.

    „Ach ja, da wohnt Pierre. Also, welcome again, Ingo! Meine Bude ist deine Bude, weißte ja."

    Ingmar ließ sich erschöpft auf einen der ausgeblichenen Liegestühle fallen, pellte die Schuhe von den aufgeweichten Füßen. Während er so ins Nichts glotzte, den Mund halb offen, sprang Tobi von A nach B, verschwand hinter C, um nach kleinem Umweg über D – und ah, was vergessen bei B! – in Windeseile ein Lagerfeuer zu entfachen. Es britzelte und bratzelte, die Füße fast ein wenig zu nah an den Flammen, nahm die Verkrampfung in Ingmars Gliedern langsam ab. Er taute auf, fühlte sich schlecht, heute bislang so mundfaul gewesen zu sein.

    „Sag mal, Tobi, hast du vorhin nicht irgendwas von Essen gesagt? Tobi?"

    Er drehte den Kopf nach hinten, Tobi war schon wieder weggesprungen. Da knarzte das Fenster, hinter dem sich die Einbauküche im Wagen verbarg, auf. Ein Bart lugte hervor:

    „Ich hab‘ hier so ein leckeres Curry. Mmmh! Geile Linsen gefunden letztens. Ordentlich Ingwer drin. Und nochmal aufgewärmt, entwickelt das erst so richtig sein volles Potential!"

    Ingmar musste lachen. In den wenigen unbeschwerten Momente, die er ab und an noch hatte, war Tobi anwesend. Tobi hielt all die Versprechen ein, die Alkohol nie einlösen konnte. Und trotzdem soufflierte ihm jeder einzelne Schluck, das ultimative Heilmittel für jedes seiner Probleme zu sein. Der einzige Haken daran: Jedem Schluck musste ein weiterer folgen, der den vorhergegangenen vergessen machte und den nächsten mit Engelschören ankündigte.

    „Ist da Zitronengras drin? Ich hasse Zitronengras! Schmeckt wie Spülmittel!"

    „Ne, Mann! Das gibt’s beim Vietnamesen und Thai. Aber die Inder haben damit nix am Hut."

    Endlich wieder was Warmes, endlich wieder was, das nicht nach Pappe schmeckte. Es schmeckte, sogar richtig gut. Seine Geschmacksknospen wussten nicht, wie ihnen geschah. Sein Magen krümmte sich. Er aß viel zu schnell, schaufelte, vergaß fast das Atmen zwischen den Bissen, wollte sich in der Schüssel suhlen. Auch wenn er mal ein Verständnis dafür besessen hatte, was zu Tisch angemessen war und was nicht – jetzt leckte er die Schüssel aus. Das wohlige Grunzen nahm Tobi als Kompliment. Sie hingen in den ausgeleierten Liegestühlen, die Hände auf den Bäuchen, die Blicke gen Nachthimmel. Mitten in der Stadt war natürlich, dank kolossaler Lichtverschmutzung, nichts mit endlosem Sternenhimmel. So etwas wie Zufriedenheit hing dennoch in der Luft. Sie schwiegen sich an und sagten damit alles, was es in dem Moment zu sagen gab. Selbst der talentierteste und einfühlsamste Dichter hätte nicht ausdrücken können, was sich hier gerade abspielte. Zwei Gestalten – unterschiedlich bis in die letzte Zelle und dennoch so eng verbunden. Unter Millionen von Individuen waren sie ineinandergelaufen. Jeder von ihnen eine der Gestalten, die vom Gros der Menschen entweder nicht gesehen wurden oder denen man in weitem Bogen aus dem Weg ging. Traurige Wurmfortsätze der Gesellschaft, die nicht wirklich eine ‚Funktion‘ im kapitalistischen Sinne hatten, aber auch nicht eben mal auf die Schnelle entfernt werden konnten. Abstumpfung durch wiederholte Konfrontation führte dazu, dass die meisten Großstädter gut damit leben konnten. Gehörte halt dazu wie der Afterwork-Drink auf der Dachterrasse vom Soho House. Der eine gewinnt, der andere verliert. Nächstenliebe, Fürsorge, Solidarität waren nur angesagt, wenn man sie reichweitenfördernd auf Instagram oder LinkedIn verwursten konnte. Soziale Medien.

    Tobi ruhte gerade seine Augen aus, da sprach Ingmar heute zum ersten Mal, ohne davor etwas gefragt worden zu sein:

    „Danke, Mann. Auch wenn das Fleisch gefehlt hat. Ich hab’ schon Schlechteres gegessen."

    Aus Ingmars Mund war das ein Kompliment par excellence. Weil es einfach keine positiven Ereignisse mehr in seinem Leben gab, hatte er verlernt, etwas Schönes wertzuschätzen und es gegenüber einem Mitmenschen auch entsprechend zu äußern. Er war zum harten Knochen mutiert, ständig am Knurren, aber zu kraftlos, um tatsächlich zuzubeißen.

    „Das war mein pleasure, echt ey", retournierte Tobi unaufgeregt, so unfassbar nonchalant, dass damit im Handumdrehen der Schlusspunkt hinter das Dankesprozedere gesetzt war.

    Tobi wusste ganz genau, wie viel Überwindung es Ingmar gekostet hatte, sich für seine Verhältnisse so weit aus dem Fenster zu lehnen. Er hatte es sich bewusst zur Aufgabe gemacht, diesen verschrobenen Klotz Schritt für Schritt wieder dazu zu bekommen, die Dinge beim Namen zu nennen und Gefühle zuzulassen. Tobi bezeichnete solche Regungen als Seelenatmer, ohne die man irgendwann zu ersticken drohte. Auch wenn Ingmars Herz, rein biologisch betrachtet, nach wie vor schlug – Leben konnte man das nicht nennen. Ingmar war Menschenhülle, leere Taschen, leerer Blick. Das Curry hatte ihn ein Stückchen zum Licht gezogen. Auf so vielen Ebenen hatte es seinen dauerhaft betäubten Appetit angeregt.

    „Und dieser Pierre … was macht der so?"

    So etwas wie Eifersucht schwang in Ingmars Frage mit. Tobi überhörte die Färbung. Emotionen, die mit Besitzansprüchen – insbesondere auf Mitmenschen – verknüpft waren, hatte er wie das Lügen aus seinem Habitus gestrichen. Das kostete nur unendlich Kraft, die er viel lieber für seine kosmischen Ausflüge nutzte. Ganz hoch fliegen, ohne den Ausstoß von Kohlendioxid. Das konnte Tobi ziemlich gut.

    „Yo, der Pierre ist ein Guter. Tänzer isser, so mit ganz viel Ausdruck! Wie der sich verbiegen kann, das musst du mal sehen! Schon irgendwie Ballett, aber noch viel abgedrehter. Ich war da mal bei einer seiner Performances. Das war in ‘ner alten Schlachterei. Der Geruch von Kadavern hing da noch in der Luft. Die ganze Truppe hatte Schuluniform an, mit so Schrubbern bewaffnet haben die die Fliesen da bearbeitet. Mit Blut beschmierte Tiermasken hatten die auf ihren Köpfen, so weird. Na ja, schwer zu erklären, hätteste dabei sein müssen. Meins war’s nicht, aber vielleicht war ich auch zu druff, um es zu verstehen."

    „Druff sein, dachte sich Ingmar. „Das wär’s jetzt …

    In dem Moment fing Tobi an, einen Joint zu rollen. Vielleicht gab es ja doch so was wie einen Gott. Trotzdem war er die meiste Zeit ein elendiger Wichser. Immer mal wieder so kleine Brotkrumen von Glückseligkeit hinwerfen und einen dann aber sofort im Anschluss wieder mit dem Gesicht ins Urinal drücken. Ingmar kannte diese Aufs und Abs nur zu gut.

    „Aus Cannes kommt der Pierre. Reiche Family, Parfüm-Produzenten. Aber er stand neben Frauen auch auf Männer, wollte in den Ballettunterricht, als er vier war, hatte keinen Bock, das Imperium zu noch mehr Kohle zu führen. Mit Anfang 20 machte er die Fliege. Packte zwei Koffer, hatte es eh nie so mit materialistischem Krimskrams, und düste in seinem alten Citroën gen Norden. Letzte Amtshandlung in seinem Elternhaus: Er kackte seinem Vater auf den Schreibtisch, in den Haufen steckte er noch ‘ne Karte, auf der geschrieben stand: ‚Merci pour rien!‘"

    „Haha, scheint ein witziger Kerl zu sein, dieser Pierre!"

    Ingmar hechelte mehr, als dass er lachte. Endlich reichte ihm Tobi die glühende Lunte rüber, dieser süßlich-würzige Duft … mmmh! Er wollte sich wirklich zügeln, aber er zog und zog. Seine Lunge füllte sich, er hielt für ein paar Sekunden die Luft an, um die Wirkung zu verstärken. Dann ließ er den dichten Rauch nach und nach entweichen. Und noch ein Zug. Früher hatte er nichts als Verachtung für Kiffer übrig. Nutzloses Abhängen, faul, nix gebacken bekommen. Wenn er sein Kind dabei erwischt hätte, dann aber Gnade ihm Gott. Natürlich soll man seine Kinder nicht schlagen. Aber irgendwo ist dann auch mal eine Grenze erreicht. Mittlerweile war das Kiffen mit Abstand das Harmloseste, was er drogentechnisch seinem Körper zuführte. Raubbau an Leib und Seele.

    Plötzlich rumpelte es ganz fürchterlich in Pierres Wohnwagen. Es bollerte, es ratschte, Keramik zersprang. Ein tosender Wirbelsturm auf kleinstem Raum. Hatte der Wohnwagen gerade einen kleinen Satz gemacht?! So schnell es ihre sanfte Benebelung zuließ, schreckten Ingmar und Tobi auf, sahen sich an, drehten sich um.

    „Hä, Tobi, du hast doch gemeint, Pierre ist die Tage gar nicht in Berlin? Was zur Hölle?!"

    „Äh, ja, keine Ahnung! Boah, ich krieg’ die creeps! Das ist bestimmt so ein evil spirit. Der Geist von seinem Dad, der ihn jetzt gefunden hat und heimsucht!"

    „Sag mal, hackt’s bei dir? Bist du auf Harry Potter hängengeblieben?", blökte Ingmar zurück.

    Dann ertönte ein tiefes Grunzen, ganz und gar unmenschlich, immer wieder unterbrochen durch schmatzendes, stakkatoartiges Atmen, und dann noch diese spitzen Schreie, die ihnen durch Mark und Bein fuhren. In dem Augenblick erkannte Tobi auch in Ingmars Augen pures Entsetzen, das ihm mitteilen sollte: ‚Ich nehm’ alles zurück. Du hast Recht. Das ist ein Geist oder Monster oder was auch immer!‘ Über die Lippen brachte Ingmar keinen Ton mehr, das Kreischen steckte in der Magengrube fest, seine Muskeln erstarrten, an wegrennen war nicht zu denken. Der Lärm türmte sich auf, multiplizierte sich, jeden Moment musste es doch die Tür und die Fenster aus den Angeln fetzen! Da sprang Tobi auf, pfefferte den Joint-Stummel ins Feuer, die linke Hand zur Faust geballt, die Sehnen im Unterarm zuckten nervös.

    „Ich geh’ da jetzt rein, I don’t care!"

    Ingmar starrte Tobi ungläubig mit weit aufgerissenen Augen an.

    „Hast du sie noch alle?"

    „Is‘ mir egal! Wenn ich sterbe, dann bei so was Abgefahrenem wie ‘nem Kampf mit einem Untoten!"

    Fast schon heroisch blickte Tobi auf den Wohnwagen. Für das perfekte Filmplakat fehlte nur noch die Windmaschine, die seiner Haares- und Bartpracht die passende Dynamik verliehen hätte. Er griff einen der Holzscheite, der nur an einer Seite angekokelt war, und stapfte entschlossen los. Ingmars Augen folgten ihm, alles andere von Ingmar blieb im Liegestuhl zurück. Breitbeinig vor der Tür stehend, atmete Tobi nochmal tief durch, im Wagen tobte es unermüdlich weiter. Dann öffnete er mit einem Ruck zackig die Tür, sprang gebückt ins Dunkel. Die Tür fiel wieder ins Schloss. Von einem Augenblick zum anderen war es mucksmäuschenstill. In der Ferne wummerten Bässe. Ingmar beobachtete, wie die Büsche sich andächtig von einer zur anderen Seite wiegten. Es hatte fast schon hypnotisierende Wirkung. Da zerstachen spitze Schreie die Nachtluft. Aber zu denen des Monstrums waren ganz eindeutig die von Tobi dazugekommen. Zwei Augenblinzler später knallte die Tür auf, Tobi flog rücklings aus dem Wagen, landete auf dem Hosenboden und robbte ein paar Meter weiter zurück, den

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