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Die Frequenz der Angst: Thriller
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eBook512 Seiten7 Stunden

Die Frequenz der Angst: Thriller

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Über dieses E-Book

Auf der Suche nach dem unheimlichsten Klang der Welt stößt der vereinsamte Nürnberger Komponist Sandy Martens unvermittelt auf mysteriöse Radiosender, die offenbar von geheimnisvollen Funkstationen bedient werden. Ohne es zu ahnen, verstrickt er sich mit dieser Entdeckung in eine alptraumhafte Verschwörung, in der Wahn und Wirklichkeit nicht mehr zu unterscheiden sind. Gejagt und überwacht von erbarmungslosen Geheimdiensten bleibt ihm und seinem besten Freund nur ein Pakt mit dem Teufel, um zu überleben.

Mitten in der beschaulichen fränkischen Metropole entwickelt sich ein packender Thriller, bei dem nichts ist wie es scheint und hinter jeder Antwort eine neue Frage lauert.

SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum27. Aug. 2016
ISBN9783954286461
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    Buchvorschau

    Die Frequenz der Angst - Sascha André Michael

    umgekehrt.

    Erster Teil: Das verlorene Paradies

    Intro · Erste Strophe · Die Zahlensender ·

    Strawberry Fields · Wände des Schweigens ·

    Im Zirndorfer Niemandsland

    1

    Sandy Martens beim Joggen um den Dutzendteich: Schritte und Atem gleichmäßig, rhythmisch und ineinander verwoben wie eine der Tonfolgen, mit der er als Komponist und Sound Designer sein Geld verdiente. Eine Runde um das Gewässer war für ihn Pflicht, nach zwei Umläufen wurde er warm, ab der dritten Runde lief er bereits in einer eigenen Zone, in der er die äußersten Schichten seines Bewusstseins abstreifte wie eine Schlangenhaut. Hypnotisiert vom stetigen, leichtfüßigen Tappen der Sohlen seiner teuren Laufschuhe auf dem Asphaltboden zählte für ihn nur noch die Bewegung an sich, Tritt an Tritt an Tritt zu setzen und dabei konzentriert Luft in Kohlenmonoxyd zu verwandeln. Mit jedem Meter glitt er dabei tiefer in diese introvertierte Region, wo er seinen endorphindurchwogten Körper bis in die letzte Faser spüren und hören konnte, vom Rauschen des Blutes in seinen Ohren bis zum Sirren der Muskeln.

    Das Wichtigste jedoch war der Tunnelblick, der etwa ab Mitte der vierten Runde alle Probleme beiseitezwängte und nichts als das JETZT übrig ließ, einzig die nächsten zwanzig Meter, die vor ihm lagen. Ihn interessierten nicht mehr die folgenden zweihundert Schritte, zwei Kilometer oder gar zwei Tage, nein, diese bereinigte und auf übersichtliche zwanzig Meter gestutzte Innenwelt war der Grund, warum er das Laufen für sich entdeckt hatte. Er wollte vergessen, mehr noch, er musste vergessen.

    Also peitschte er sich verbissen mindestens eine Runde weiter, als er hätte laufen können und auch sollen, bis sein Körper an der Grenze des Kollabierens war, Hauptsache, er vergaß.

    Der Anstrengung folgte schließlich ein Abschluss, der in dieser nichtmusikalischen Schleife so verschlungen war wie ihr Takt aus regelmäßigen Schritten und kontrolliertem Atem: Vornüber gebeugt, auf die Oberschenkel gestützt und mit geschlossenen Augen wartete er, bis der wabernde Brechreiz endlich abflaute, das Feuer in seinen Lungen erstickte und sein Körper sich stabilisiert hatte.

    War dies geschehen, irgendwann nach einer gewissen Zeit, folgte erfahrungsgemäß der Moment, in dem die Erinnerungen zurückkehrten, zum Glück nicht schlagartig, sondern eher tröpfelnd. Manchmal dauerte es eine Minute, gelegentlich aber auch viel länger, und das waren die wenigen guten Tage, so wie heute. Dessen ungeachtet war allein die Zeitphase ohne Wissen um seine bisherige Existenz genug, dass er sich diesen Kick fast augenblicklich wieder herbeiwünschte.

    Noch erfüllt vom angenehmen Nachhall, aber auch im Bewusstsein des nahenden Endes jenes süchtig machenden Kicks, den ihm das Laufen schenkte, schlenderte er weiter durch die Spätsommersonne und tupfte sich dabei mit dem kleinen Handtuch aus dem Innenfach der Bauchtasche den Nacken trocken.

    Obwohl er schon wusste, dass ihn nur ein leeres Display und das übliche traurige Seufzen im Anschluss erwarteten, spähte er aus reiner Gewohnheit auf sein Handy. Das Telefon hatte während seines Laufs im lautlosen Modus in der Bauchtasche geruht. In der Zone nahm er sowieso kein Telefonklingeln wahr. Aber wie erwartet hatte niemand etwas von ihm gewollt. Kein entgangener Anruf, keine SMS.

    Vor mehr als einem Jahr war dies noch völlig anders gewesen. Fast jedes Mal, wenn er damals einen Blick auf das Display warf, verkündeten die Worte 1 Kurzmitteilung empfangen, dass der liebevolle Gruß eines ganz speziellen Menschen eingegangen war: Ein kleines, elektronisches Vergissmeinnicht, das, komme was wolle, einer sofortigen Antwort bedurfte – ein Ritual, an das man sich so schnell gewöhnte, dass man sich bald fragte, wie man jemals ohne es hatte existieren können und wie man jemals wieder ohne es ein Dasein fristen könnte.

    Aber Sandys spanische Berufskollegin Maria Grever wusste, von was sie sprach, als sie seinerzeit einen Evergreen zu Papier brachte: What a difference a day makes. Welchen Unterschied konnte bereits ein einziger Tag ausmachen, ganz zu schweigen von den vierzehn finsteren Monaten, die Alexander Martens, genannt Sandy, seit dem traurigen und abrupten Ende seiner letzten Beziehung auf der stetigen Suche nach geistiger Betäubung hinter sich gebracht hatte, ohne zu wissen, ob dies nun eine Heldentat oder eine Dummheit gewesen war.

    2

    Wenn man die 90 Quadratmeter große Loftwohnung in der Nürnberger Südstadt, die Sandy bewohnte, als seine persönliche Robinson-Insel betrachtete, so war Schlabbo nichts anderes als sein Freitag. Schlabbo (mit bürgerlichem Namen Kriminalkommissar Thomas Schlappner) war Sandys bester und einziger wirklich enger Freund; er war seit zehn Jahren zugleich Vertrauter, Beichtvater und nebenbei auch noch Zweitschlüsselhüter für Notfälle sowie der strenge und beschützende große Bruder, den Sandy nie gehabt hatte.

    Interessanterweise war Schlabbo das vollkommene Gegenstück zu Sandy, das man sich nur vorstellen konnte. Er war markant und maskulin anstatt weich und unscheinbar, lustig und offen anstatt introvertiert und verschlossen, großgewachsen und athletisch anstatt mittelgroß und schmal, erfolgreich bei Frauen anstatt einer kurzen und verblüffend lange zurückliegenden Beziehung hilflos hinterhertrauernd tatkräftig und einen Hauch verwegen anstatt zögernd und bieder. Sinnbildlich gesprochen gehörte Schlabbo zu den Könnern, die den Ball einfach warfen und immer in den Korb trafen, während der eingefleischte Zweifler Sandy viel zu lange grübelte, bis er warf. Sobald er dann endlich einmal geworfen hatte, verfehlte er den Korb dermaßen weit, dass ihn der Frust über das Debakel unweigerlich noch viel mehr zum Argwöhnen und Zögern brachte.

    Aber dennoch (oder vielleicht sogar genau darum) bildeten die beiden ein fast perfektes Yin und Yang, schienen für eine symbiotische Freundschaft wie geschaffen. Schlabbo schleifte den schüchternen Sandy unerbittlich mit, wenn es um soziale Aktivitäten ging, und Sandy erweiterte Schlabbos Horizont mit Büchern, Musik und Filmen außerhalb eines schrecklich seichten Dan Brown/Dancepop/Schwarzenegger-Spektrums. Es war eine besondere Harmonie, von der beide profitierten, weil die beiden die Dinge, die sie taten, einfach taten, ohne den anderen bewusst und gar mit Hintergedanken verändern oder verbiegen zu wollen.

    Eines gemeinsamen Sonntagnachmittags im Frühherbst flätzte Schlabbo entspannt auf der ultrabehaglichen Couch in Sandys Kombination aus Wohnzimmer und perfekt ausgestattetem Sound- und Aufnahmestudio, während Sandy so konzentriert und pedantisch wie ein Fluglotse an seinem Computer arbeitete.

    „Also schön, sagte Sandy. „Jetzt hör zu.

    Einen Moment, nachdem das Soundfile von der Festplatte geladen war, erklang der zweite von bislang fünf Entwürfen für den Radiojingle, den Sandy für die Nürnberg Airport AG ausarbeiten musste. Nach einer kompletten Neupositionierung auf dem Markt hatte der Flughafen kürzlich ein frisches, familientauglicheres Image bekommen, was sich auch in einer bunten Werbekampagne und dem neuen Slogan „Flughafen Nürnberg – der Er/Sie/Es-Port (wobei das „Er natürlich ein wenig wie das englische „Air" ausgesprochen werden musste) ausdrückte. Sandys Jingle sollte dies unterstreichen.

    „Das taugt was, nickte Schlabbo. „Passt! Daneben war die alte Fassung echt nur lahmes G’schmarri.

    Genau so war Schlabbo: Als Freund bedingungslos treu, aber auch bedingungslos ehrlich. Gut gemeinte, jedoch heuchlerische Komplimente bekam man von anderen.

    „Schön, dass wir einer Meinung sind, bestätigte Sandy. „Kannst du dir vorstellen, wie lange ich feilen musste, bis diese verdammte Corporate wirklich so klang, wie ich es wollte? Mir schwebte die ganze Zeit etwas vor, das nur sechs Sekunden lang ist, damit ich noch den Slogan reinquetschen konnte, aber technisch an die frühen Werke von Deutschlands erster Technoband erinnert.

    „Scooter?"

    „Du Banause, ich meine natürlich Kraftwerk, schnaubte Sandy. „Scooter, primitiveren Mist gibt es ja gar nicht! Also gut, wir sind uns einig, dann kann ich das hier als Ausgangsbasis betrachten.

    „Ausgangsbasis?, echote Schlabbo und streckte sich wohlig, nippte danach an seinem Zirndorfer Bier. „Also für mich passt’s schon. Lass es so.

    Missbilligend wandte sich Sandy zu seinem besten Freund um. „Hallo?!, sagte er mit mahnend gerunzelter Stirn. „Großer, das ist die erste Arbeitsfassung, nicht mehr, okay? Hier geht es um Perfektion und nicht nur um prima. Du weißt genau, wie ich arbeite. Ansonsten lasse ich fünfe grade sein, aber meine Arbeit ist ein Punkt, wo ich nicht mit mir spaßen lasse.

    „Sandy, genau das meine ich ja, bekannte Schlabbo und machte eine eindeutige Geste mit der rechten Hand. „Wir müssen es auf dem Revier mit den Regeln auch sehr genau nehmen, aber du bist manchmal zu perfektionistisch. Ich meine, hier geht es um ein 5-Sekunden-Stück für den Nürnberger Flughafen, nicht um ’ne Sinfonie, die vor der Königin von England gespielt wird. Ich weiß, dass es dir echt ernst ist mit deiner Arbeit und das ist auch gut so. Aber ab und zu, na ja, wie soll ich sagen, da steckst du zu viel Energie in Dinge, die keine Energie mehr nötig haben, und vergisst darüber alles andere.

    Sandy rümpfte die Nase. „Alter, hast du heute Morgen einen Psychologen zum Frühstück verspeist?"

    „Morgen Abend ist Ü30-Fete im Rockwerk, und da wird hingegangen, basta! Ich will mal wieder ordentlich abzappeln und du musst mal wieder raus hier. Das meine ich."

    „Nie und nimmer, dahin gehst du gefälligst mit deiner Mutter, die hockt sowieso immer auf dem Fernseher und guckt Sofa, stellte Sandy klar, wobei er sich eines neumodischen, aber lustigen Spruches bediente, den Schlabbo kürzlich in die Freundschaft eingebracht hatte. „Kapiert, du Doldi? Keine Discos für Sandys. Ich bin allergisch auf Discos.

    Schlabbo wirkte völlig unbeeindruckt. Leider, wie Sandy bemerkte. „Und wenn ich dich an den Haaren ziehen muss, du kommst mit. Sonst verbuddelst du dich mit noch mehr vorläufigen Arbeitsfassungen hier drinnen und zerfällst das nächste Mal zu Staub, wenn du Tageslicht siehst. Wer erklärt mir dann den Unterschied zwischen Andante und an Onkel? Du hast doch sowieso Schlafstörungen, da kannst du auch gleich ein wenig Spaß dabei haben. Oder tu wenigstens so, vielleicht hast du aus Versehen dann ja wirklich Spaß."

    Sandy rollte mit den Augen. „Hey, tu ich nicht fast immer, was du sagst? Ich habe sogar deinen Rat befolgt, dass ich Sport machen soll, oder nicht?"

    „Damit meinte ich eigentlich, dass du in einen Verein gehen und meinetwegen Tischtennis oder Squash spielen solltest, um Leute kennen zu lernen, nicht dass du einsam um den Dutzendteich rennen sollst, bis du dich übergibst", ätzte Schlabbo.

    „Ich mache Sport, das ist entscheidend. Und das Rockwerk entspricht einfach nicht wirklich meiner Vorstellung von Spaß."

    „Aber meiner, also abgemacht. Schlabbo sah auf seine Uhr. „Du wolltest mir doch zwei Sachen vorspielen, oder? Also mach, ich muss in einer halben Stunde los. Ich hab Sylvia versprochen, dass ich ihr beim Umräumen helfe.

    „Du bist der einzige Mann auf der Welt, der nicht mit seiner Ex, sondern mit deren Mutter eine dicke Freundschaft pflegt, sagte Sandy kopfschüttelnd, während er wieder an seinem Mac Pro herumfuhrwerkte. „Also, das ist die zweite Sache, sozusagen der Stachel in meinem Pelz, und zwar der Spot für die Halloween-Party von dieser Plörrestation, Hitradio Mega. Hör zu!

    Er klickte mit der Maus auf den Abspielbutton von Logic Studio 9, der Software, auf die er seit Jahren schwor.

    „Tja, das ist der zweite Entwurf", fuhr er fort. Klick!

    „Und das der dritte." Noch ein Mausklick.

    Anschließend Stille. Sehr kritische Stille. Sandy fühlte sich auf einmal, als hätte er vor einem ganzen Professorenkollegium etwas unsagbar Dämliches von sich gegeben. Schlabbo rang derweil sichtlich nach Worten, um seinem Missvergnügen Ausdruck zu verleihen, seinen besten Kumpel bei aller Ehrlichkeit und fränkischer Direktheit dennoch nicht zu sehr zu verletzen. Damit rannte er jedoch bereits offene Türen ein.

    „Sag nix, winkte Sandy betrübt ab. „Das war mir klar. Alle drei Entwürfe sind lahme Rohrkrepierer, um es genau zu sagen. Keiner funktioniert.

    „Stimmt", sagte Schlabbo unverblümt und überlegte einen Moment, bevor er eine Erklärung wagte und dabei auf seine simple, aber erstaunlich tiefgründige Weise genau das in Begriffe fasste, was Sandy schon seit der Erschaffung der Jingles gespürt hatte: „Alter, hier geht es doch um Halloween, nicht wahr? Und für was steht Halloween? Grusel und Horror. Und diese Spots da sind ungefähr so gruselig wie ein Einkaufszettel für den Gemüseladen. Das ist alles ... Mann, einfach abgedroschen. Der Erste, Allmächd, der klingt eher depressiv als gruselig. Und die beiden anderen, also ehrlich, die Kettensägen und die Mädchenschreie, das ist doch von vorvorgestern. Das finde ja sogar ich, und ich versteh nix von diesem Zeug. Du bist der große Komponist und Sounddesigner."

    „Stimmt alles ... aber dem ach so tollen Sounddesigner fällt nichts ein, gestand Sandy resigniert. „Obwohl mein Leben ein einziger Horror ist, hey, da sollte man doch denken, dass es mich vor Inspirationen schüttelt. Aber nix, nada, njet. Ich glaube, Carmen hat alle meine Ideen einfach mitgenommen.

    Schlabbo schnellte nach vorne und gab seinem Kumpel einen tadelnden Klaps auf den Hinterkopf. „Dein blödes G’waaf immer. Und den Flughafenspot haben die Heinzelmännchen gemacht? Wenn ja, dann schick die Kerlchen mal bei mir vorbei, die können dann auch gleich meine Steuererklärung machen. Schieb nicht alles auf Carmen. Oder von mir aus doch, Sandy, Hauptsache, du hörst auf, alles auf dich zu schieben, das ist ja noch schlimmer. Du brauchst einfach nur etwas Frisches, Neues, das wirklich Gänsehaut erzeugt, weil man es nicht schon 1000mal gehört hat oder es mindestens eine Million Mal parodiert wurde."

    „Das ist es ja – wo finde ich so was?", seufzte Sandy.

    Schlabbo grinste. „Halt die Ohren offen", riet er.

    Weiß Gott, das tat Sandy immer. Das war immerhin sein verdammter Beruf. Aber was sollte er hören? In Momenten wie diesem, wenn er mit der linken Hand planlos Akkorde auf seinem Roland FP7-Digitalpiano klimperte und dabei zugleich auf seinem Korg Oasys-Synthesizer mit Sounds, Presets und Amplituden oder Oszillationen herumspielte, konnte Sandy nachfühlen, wie sich eine Schreibblockade für einen Schriftsteller anfühlen musste.

    Zum Glück war er, wie Schlabbo richtig erkannt hatte, weit davon entfernt, wirklich ohne Ideen zu sein oder gar eine künstlerische Blockade zu haben. Sich allerdings von jeder guten Idee und Inspiration noch meilenweit getrennt zu fühlen war auch nicht gerade prickelnd wie ein Glas Champagner. Dabei war nicht einmal die Distanz das größte Übel, sondern die irritierende Sensation, als würden sich die Ideen sogar mit jedem Moment, den er zögerte, noch weiter von ihm entfernen. Aber das passte irgendwie. Denn zumeist hatte er das Gefühl, das ganze verdammte Leben entferne sich jeden Tag ein Stückchen mehr von ihm, was ihn jedoch überraschend wenig störte, im Gegenteil.

    „Okay, ich brauche etwas Gruseliges", rekapitulierte er mit niedergeschlagener Stimme, während er auf das Display des Korg Oasys stierte und mit den Sounds herumspielte, bis manche davon zwar auf synthetische Weise überraschend und befremdlich, aber nicht wirklich düster oder gar gespensterhaft klangen. Was er hier hörte, das war höchstens wie ein Schokoweihnachtsmann, der nicht mit Marzipan, sondern mit Meerrettich gefüllt war, und leider keine Klauenhand, die einen heimtückisch packte und sich unbarmherzig um die Kehle wickelte. Also, wie es so schön hieß, zurück zum Zeichenbrett.

    Als sich irgendwann später an diesem Abend Sandys Handy zu melden begann, fühlte er sich wie aus einem unguten Halbschlaf gerissen. Nicht einmal der Anflug eines Geistesblitzes oder gar einer greifbaren Eingebung hatte ihm inzwischen einen Besuch abgestattet, sosehr er sich auch das Hirn zermarterte. Und dies war ein Zustand, der jemanden, der sich viel auf seine berufliche Disziplin und Professionalität einbildete, ziemlich mitnahm.

    Fast ein wenig erleichtert über die Pause in seiner fruchtlosen Ideensuche nahm er das Nokia, dessen Klingelton immer noch auf eines von Carmens Lieblingsliedern eingestellt war. Aber bislang hatte er weder Lust noch Kraft aufgebracht, den Song zu ändern, obwohl er ihm jedes Mal einen bittersüßen Stich ins Herz bescherte.

    Als er sah, dass der Anruf auf der Privatleitung kam, grüßte er dementsprechend nicht geschäftsmäßig mit „Blackout Sounddesign! sondern mit einem einfachen „Hallo?!

    „Hier auch Hallo, sagte Schlabbo am anderen Ende der Leitung. „Du, mir ist da grade was eingefallen.

    „Schön, dass du endlich einsiehst, dass sich die Erde um die Sonne dreht und nicht umgekehrt."

    „Ja, das auch, aber eigentlich habe ich die perfekte Lösung für dein Gruselsound-Problem", verkündete Schlabbo mit der ihm eigenen Bescheidenheit.

    Sandy setzte sich abrupt auf. „Ich bin ganz Ohr."

    „Erinnerst dich noch an den Prottengeier Schorsch?", fragte der beste Freund.

    „Moment, das war doch der Typ von der FFW in Zirndorf, den die eigenen Kollegen aus dem Auto schneiden mussten, sagte Sandy nach kurzem Überlegen. „Ist der nicht im Wachkoma oder sowas? Ja, ich weiß noch, wer das war.

    „Also, der Schorsch war vor seinem Unfall so ein Funkamateur, erinnerte Schlabbo. „CB-Funk und so was. Der war sogar in der Amateurfunkergruppe vom Radiomuseum in Fürth. Und der hat mir vor seinem Unfall etwas vorgespielt, das er aufgezeichnet hat, ganz irres Zeug. Es drehte sich um so genannte Zahlensender. Schon mal davon gehört?

    „Nie im Leben. Aber ich bin ja auch kein Funker."

    „Das sind angeblich Sender von Geheimdiensten, die irgendwo im Äther in ganz abgelegenen Frequenzen senden, fasste Schlabbo zusammen. „Da hört man codierte Anweisungen für Agenten im Einsatz und, Alter, diese Sender klingen echt gruselig. Das sind so komische Roboterstimmen, die Zahlen und so von sich geben. Mir ist’s beim Anhören echt kalt den Buckel heruntergelaufen. Ich musste da dran denken, weil ich grad an seinem Haus vorbeigefahren bin.

    „Zahlensender?", wiederholte Sandy skeptisch, ohne zu ahnen, wie sehr sich sein Leben verändern sollte, als er diesen Begriff zum ersten Mal aussprach.

    „Genau, sagte Schlabbo. „Google einfach mal den Begriff, Mensch, ich wette, das wird dir gefallen. Ich garantiere dir, das sind genau die seltsamen Klänge, die du gesucht hast.

    „Hmmm, machte Sandy. „Na schön, ich höre es mir einmal an. Danke, dass du daran gedacht hast.

    „Passt schon, sagte Schlabbo. „Als Gegenleistung kommst du morgen widerstandslos mit ins Rockwerk und schleichst dich nicht schon wieder nach 15 Minuten durch den Hinterausgang raus.

    „Ich verspreche, es werden nicht 15 Minuten", erwiderte Sandy diplomatisch, obwohl er genau wusste, dass er andererseits nicht vorhatte, mehr als 20 Minuten in der Disco zu verbringen. Aber zumindest hätte er damit sein Versprechen gehalten, nicht schon nach einer Viertelstunde aus dem Affenhaus zu flüchten.

    3

    Eine halbe Stunde später war Sandy schlauer und gelinde gesagt aufgewühlt. So entrückt hatte er sich nicht mehr gefühlt, seit er das erste Mal das Stück In the court of the crimson King der Kultgruppe King Crimson gehört hatte. Damals hatte er, fast erschlagen von der überwältigenden neuen Klangwelt, die sich ihm darbot, eine halbe Nacht nicht schlafen können. Er ahnte schon, dass es ihm diesmal nicht viel anders gehen würde, denn je länger er sich damit beschäftigte, desto mehr wurde ihm klar, dass Schlabbo mit seiner Idee wie immer ins Schwarze getroffen hatte.

    Jene Zahlensender, auch Number Stations genannt, waren nämlich erwiesenermaßen keine Spinnerei irgendwelcher blasser und weltfremder Verschwörungsfans, sondern eine rund um den Erdball verfolgbare und hörbare Realität. Dass über ihre Herkunft auch weiterhin nur spekuliert werden konnte, verstärkte und vergrößerte ihren Mythos noch.

    Keine Regierung der Welt hatte je die Existenz dieser Sender zugegeben, obwohl der Äther voll von ihnen war. Für Insider stand dank der technisch hochwertigen Sendetechnik in so genannter Einseitenbandmodulation fest, dass es sich bei den rätselhaften Kurzwellenstationen um Sender der großen Geheimdienste handelte, sei es der deutsche BND, die amerikanische CIA, die russische Auslandsspionage SWR, der israelische Mossad, der britische MI6 oder auch der französische DGSE. Wenn dem tatsächlich so war (und zu viele Beweise sprachen dafür), dann richteten sich die Transmissionen an verdeckt operierende Agenten in fremden Ländern, welche die Anweisungen und Informationen dann mit Codekarten oder mathematischen Formeln entschlüsseln konnten.

    Manche Sender wechselten ihre Frequenz häufig und tauchten immer wieder an anderen Stellen im Äther auf, waren aber durch ihre so genannten Call Signs, also Senderkennungen, gut zu identifizieren; andere sendeten schon seit Jahren immer wieder zur selben Zeit auf derselben Wellenlänge und folgten dabei sogar einem gewissen Programmschema oder zumindest einem vorhersehbaren Muster: dem individuellen Rufzeichen der Station folgten Zahlen- oder Buchstabenreihen, Polyphontöne oder, in den seltensten Fällen, codierte Textnachrichten. Oftmals waren auch nicht die Dinge, die gesagt wurden, das Entscheidende, sondern das, was sich dahinter verbarg, zum Beispiel verborgene Trägerfrequenzen für hochkomprimierte Computerdaten im Up- oder Download, so genannte Data Bursts.

    Einige der Stationen hatten regelrechte Fangemeinden im Internet hervorgebracht, die eifrig Sendedaten, Frequenzlisten und Sendungsaufzeichnungen austauschten. Selbst ein erstaunlich ernsthaftes und gründliches Forschungsprojekt über das Phänomen, das Coned Project, war aus dieser Bewegung hervorgegangen.

    Mangels anderer Alternativen und weil es einfach logisch anmutete, bekamen die entdeckten Zahlensender Spitznamen verpasst, die sich nach ihrem spezifischen Call Sign richteten. Der bekannteste, wenn auch nicht mehr aktive Zahlensender namens The Lincolnshire Poacher, der bis vor wenigen Jahren von einer englischen Royal Air Force-Basis auf Zypern sendete, schickte jeder Nachricht einige Takte des gleichnamigen britischen Volksliedes voraus. Magnetic Fields spielte den namensgebenden Track des französischen Komponisten Jean-Michel Jarre vor den Zahlenreihen, was Sandy zu dem Gedanken führte, ob Jarre dafür eigentlich so etwas wie GEMA-Gebühren von dem betreffenden Geheimdienst erhielt. Der inzwischen nach Kuba zurückverfolgte Sender ¡Atención! begann jede seiner Transmissionen mit der unmissverständlichen spanischen Aufforderung ¡Atención!, also Achtung!

    Was den Gruselfaktor anging, wurde der Sender Swedish Rhapsody schnell zu einem von Sandys persönlichen Favoriten, da er seine Übertragungen in eine gespenstische, wie von einer Spieluhr stammende Fassung eines schwedischen Volksliedes packte, bevor eine extrem absonderliche synthetische Kinderstimme die Zahlenkolonnen von sich gab. Und dann gab es da noch die mystische CynthIA, einen der letzten Sender, dessen Nachrichten noch live gesprochen worden waren, angeblich von jener geheimnisvollen Dame, der ein Hörer den Namen „Cynthia" verpasst hatte, weil er so elegant auf den US-Geheimdienst CIA verwies, wenn man die Buchstaben y – n – t – h einfach wegließ.

    Kurzum: Es war ein komplett neuer, faszinierender Klangkosmos, eine ätherische Subkultur, die sich hier vor Sandy auftat und ihn fast augenblicklich absorbierte. Als er irgendwann an diesem Nachmittag vom Mac-Monitor wieder auf die Uhr guckte, musste er verdutzt feststellen, dass es schon lange nicht mehr Nachmittag oder Abend, sondern späte Nacht war, kurz vor zwölf, um es genau zu sagen. Sein Kopf fühlte sich an wie ein Bücherschrank, der bersten würde, sobald man auch nur noch einen Folianten hineinquetschte. Sein Rücken schmerzte und seine Schultermuskeln knirschten wie alte Hanfseile. Damit nicht genug, denn auch seine Blase drohte fast zu explodieren und sein Magen knurrte und blubberte gleichzeitig vor Durst und Hunger.

    Aber, Herrgott, wann hatte er sich zuletzt lebendiger und inspirierter gefühlt?! Mit jedem angeschauten Clip auf Youtube, den ein Funkamateur nach einem geglückten Fang eingestellt hatte, verstärkte sich dieses Kribbeln unter Sandys Haut. Da war nicht nur das seltsam aufregende Wissen, dass man hier etwas hörte, das eigentlich nur für bestimmte Ohren und keinesfalls für die Öffentlichkeit bestimmt war, der berühmte Reiz des Verbotenen also. Speziell für Sandy noch viel spannender war der Sound der Sendungen, die roboterhaften Stimmen, die geheimnisvollen Verschlüsselungen, die Geräusche des Äthers; all das bildete einen Klanginput, der Sandy völlig bezauberte und ein Feuerwerk von Ideen in seinem Kopf abbrannte. Überall um ihn schwebten diese rätselhaft amorphen Wörter und Wortfetzen, die irgendwo auf der Welt in den Äther geschickt worden waren, zerpflückt von atmosphärischen Interferenzen und wimmernden Überlagerungen, ewig untermalt vom weißen Hintergrundknistern des Frequenzbandes. Manches davon hörte sich gelinde gesagt absonderlich an, einiges eher unfreiwillig komisch. Wieder andere Transmissionen klangen nur noch außerirdisch und völlig bar jeden Sinnes und Zweckes, etwa diese Männerstimme, die ein Funkamateur in Australien aufgefangen hatte, und die in erschreckend aggressiver Weise obskure Tonfolgen wie „ooh eeeeh ghuaaaa ghuaaaaaaaaaaa!" in den Äther keifte.

    „Ja, Baby, ja!", jubilierte Sandy, während er mit einem Glas Wein in der Hand wieder zum Mac zurückkehrte. Das war der Klang, den er gesucht hatte. Das war der Sound, der einem wie ein rauer, klammer Handschuh den Rücken rauf und runter rieb. Das war so geheimnisvoll und real, weil es die Rätselhaftigkeit nicht vortäuschte, sondern weil es mysteriös und echt war.

    Aber auch etwas anderes stand fest: Diese Konserven hatten Sandys Appetit nur geweckt. Irgendwelche Clips und Samples jetzt einfach zu mausen und einzubauen kam für ihn darum nicht in Frage, das wäre billig und unkreativ, weit unter seiner Würde und Ehre als Perfektionist und Profi. Seinen Hunger würde nur das echte Produkt stillen: Transmissionen, die er auch selbst mitgeschnitten hatte.

    Obwohl er erst kurz vor drei ins Bett kam und noch so aufgekratzt war, dass er erst gegen fünf einschlief, war er am nächsten Tag ganz entgegen seiner Gewohnheit schon vor acht auf den Beinen und stand kurz nach Ladenöffnung mit gezückter Kreditkarte in einem bekannten Elektronikgeschäft in der Fürther Straße. Hier erwarb er einen der besten und stärksten Weltempfänger mit Einseitenbandmodulation, die man momentan kaufen konnte, daneben zusätzlich einen Frequenzmodulator und einen Signalverstärker und einen programmierbaren Scanner.

    Der in blau gekleidete Kundenberater mit dem Namen „Karl" auf seiner Plakette zeigte sich beeindruckt von Sandys Fachverstand, Enthusiasmus und Bereitschaft, Geld auszugeben. Später sagte er zu seiner Freundin, dass er dem Kunden wohl auch noch eine Waschmaschine und ein neues Bügelbrett hätte andrehen können, wenn er gesagt hätte, dies würde den Empfang verbessern. Höflich und interessiert zugleich erkundigte sich Karl schließlich, was denn mit all diesem Equipment passieren würde.

    „Ich will jagen gehen", antwortete Sandy grinsend.

    „Was wollen Sie denn jagen?", fragte der Kundenberater, während er den originalverpackten Frequenzmodulator in Sandys Einkaufwagen legte.

    „Zahlensender", antwortete Sandy versonnen.

    „Sie meinen diese angeblichen Agentensender?, sagte Karl und schaute seinen Kunden verdutzt an. „Ich dachte, das sei nur so ein moderner Mythos.

    „Sie werden lachen, antwortete Sandy, „bis vor knapp achtzehn Stunden wusste ich noch nicht einmal, dass etwas Derartiges überhaupt existiert.

    Sandy rief sich ein Taxi, ließ sich mit seinen Schätzen nach Hause bringen und bereitete sich einen üppigen Brunch, während die Päckchen auf der anderen Seite des Wohnzimmers, der Studioseite, herausfordernd und verführerisch dalagen, dabei von einem düsteren Geheimnis umgeben zu sein schienen. Immerhin hatte er mit all dieser Ausrüstung nichts anderes vor, als die inoffiziellen Sender schattenhafter Spionageorganisationen abzufangen und aufzuzeichnen. Allein die Aussicht machte ihn zappelig; er musste sich richtig zwingen, etwas zu essen, so sehr freute er sich auf die Arbeit mit den neuen Sachen.

    Aber andererseits kannte er sich nur zu gut und wusste, dass er fahrig und ungeduldig vorgehen würde, wenn er auf nüchternen Magen und nach einem konfusen fertig-feuer-zielen-Motto begann. Das würde nur zu Frust und der doppelten Arbeitszeit führen und dem zwanghaften Perfektionismus, den er sonst in seinem Job an den Tag legte, völlig widersprechen. Also blieb er gründlich und methodisch, packte die Geräte zuerst aus, checkte dann die jeweiligen Bedienungsanleitungen, stellte einen Verkabelungsplan auf und machte sich zum Klang seiner heiligen alten Steely Dan-LPs, auch nach über dreißig Jahren immer noch Ehrfurcht gebietende Meilensteine an Perfektion und Kunst in Sound und Recording, an die Arbeit.

    Um fünfzehn Uhr bildeten die Antenne, der Signalverstärker, der Frequenzmodulator und natürlich der Weltempfänger eine funktionstüchtige Einheit.

    Um siebzehn Uhr war das Analog-Interface am Mac, das Sandy normalerweise benutzte, um alte Audiokassetten oder Langspielplatten zu digitalisieren, so justiert, dass er die Sendungen, die er mit dem Weltempfänger empfing, direkt auf den Computer abspeichern konnte. Somit war er in der Lage, stundenlange Empfangssitzungen in Echtzeit zu konservieren, um sie später nochmals zu bearbeiten.

    Um neunzehn Uhr funktionierte die komplette Ausrüstung endlich so, wie Sandy es sich vorgestellt hatte. Als er danach zum ersten Mal seine Fühler zaghaft in den Äther ausstreckte und Frequenzbereiche abtastete, die ihm so fremd und mysteriös anmuteten wie die Rückseite des Mondes, fühlte er die pure Freude eines Kindes nach der Bescherung am Weihnachtsabend in sich. Zuerst hüpfte er einfach planlos von Wellenlänge zu Wellenlänge, erhaschte dabei Sendungen in asiatischem Kauderwelsch, Spanisch, Portugisisch, Russisch, und spielte fröhlich und planlos herum. Dann lud er sich aus dem Internet von einer der besten Seiten zum Thema Zahlensender eine genaue und höchst aktuelle Zeit- und Frequenztabelle, sozusagen eine Hörzu für Agentenfunk, herunter und druckte sie aus.

    Fünf Minuten, bevor ein bislang namenloser Sender aus dem atlantischen Raum, der die Ordnungsnummer E47 trug, mit seinen Übertragungen beginnen sollte, klingelte es an seiner Haustür, und das Geräusch erinnerte ihn daran, dass er seinem besten Freund in einem Anfall geistiger Umnachtung versprochen hatte, mit ihm heute in die Disco zu gehen. Ach, Kacke! Er stieß ein unwilliges Grunzen aus. Es war nicht, dass er sich nicht gefreut hätte, Schlabbo zu sehen. Aber er wollte sich ebenso wenig wie ein Kind am Weihnachtsabend von seinen neuen Schätzen trennen. Er drückte den Öffner, ließ die Wohnungstür angelehnt und hastete dann zurück zum Weltempfänger, der bereits auf die angegebene Frequenz 9.735 kHz eingetunt war und herrlich mystisch vor sich hinknisterte.

    „Bist ja noch nicht mal fertig, rief Schlabbo schon von Weitem, als er seinen Kumpel in T-Shirt, Bermudas und Bademantel in der Studionische werkeln sah. „Richtig Action gibt’s im Rockwerk eh immer erst später, aber ich dacht’, wir könnten irgendwo noch ein wenig vorglühen, was meinst? Liebe Grüße übrigens von Eva.

    Eva war das einzige Schlüsselwort, das wirklich zu Sandy durchdrang. Eva Saemann war jene fantastische Frau, die Schlabbos Lebensgefährtin war, sein könnte oder aber es auch erst in naher Zukunft werden würde. Die beiden lebten schon lange in einem freien, fluktuierenden Zustand, der selbst einem Menschen mit viel mehr Erfahrung in Beziehungsfragen als Sandy eine genauere Quantifizierung ihres zwischenmenschlichen Status unmöglich machte.

    Sandy kam sich bei Gesprächen über zwischenmenschliche Dinge ohnehin immer ein wenig vor wie ein Ochse, von dem man verlangte, über Fleckviehzucht zu referieren. Zwar war genug theoretisches Wissen vorhanden, aber in der Praxis war er völlig fehl am Platz. Beziehungen und auch Frauen an sich waren für ihn ein verschlossenes Buch, eine fremde Welt für richtige Kerle, zu der er keinen Zugang besaß, weil ihm das Universum die Eintrittskarte zur großen Party, genannt „Männer und Frauen", einfach nicht zugestellt hatte. Darum hielt er sich strikt an Dinge, die für ihn bestimmt waren, und die er bestens beherrschte, wie seine Arbeit.

    „Allmächd!, stieß Schlabbo hervor, als er ins Wohnzimmer trat. „Was ist denn das alles für neues Zeug?

    „Weltempfänger, Frequenzmodulator, Feintuner und Signalverstärker, habe ich alles mit meinem guten Namen bei Conrad eingekauft, sagte Sandy andächtig und fixierte das bunte Display des Weltempfängers, als liefe da der spannendste Film aller Zeiten. „Danke übrigens für deinen Tipp mit den Zahlensendern, das war die Idee.

    „Na ja, eigentlich war’s ja Schorschs Idee, um genau zu sein, aber der kann leider nichts mehr mit dem Dank anfangen", gab Schlabbo zu bedenken.

    „Psssst!, zischte Sandy plötzlich und justierte den Modulator, als auf dem Equalizer endlich ein winziger Ausschlag außerhalb des typischen Hintergrundrauschens zu sehen war. „Vielleicht haben wir Glück – warte einen Moment!

    Er hatte kaum zu Ende gesprochen, da schälten sich Worte aus dem Lautsprecher. Selbst von atmosphärischen Störungen überlagert klangen sie verständlicher und zugleich noch geheimnisvoller, als Sandy erwartet hätte.

    „Echo Echo Echo!, plärrte eine synthetische Männerstimme, gefolgt von einem dissonant polyphonen Ton: Ein eingestrichenes G und F, unterlegt von einem zweigestrichenen Ais, wenn Sandy seinem absoluten musikalischen Gehör glauben konnte. Danach wiederholte man die Kennung und sendete schließlich die eigentliche codierte Nachricht, bestehend aus einer Abfolge von englischen Zahlen, welche in Achterketten vorgelesen und durch den Hinweis „new line getrennt wurden. Und so plötzlich sie gekommen war, so jäh versteckte sich die Computerstimme nach dem polyphonen Ton und ihrem Rufzeichen als Abschluss wieder im Äther hinter dem stetigen Hintergrundrauschen.

    „Oh Mann, ich tick aus!, sagte Sandy mit einem seligen Grinsen. „Alter, soeben sind wir beide Ohrenzeugen meines ersten Zahlensenders geworden, E47 – das ‚E‘ steht übrigens für einen englischsprachigen Sender, vermutlich vom kanadischen Geheimdienst CSIS. Das ist für Insider wie ein Sechser im Lotto! Ach, am ersten Abend gleich ein astreiner Empfang, und das auch noch von einer bislang ziemlich wenig ausgehorchten Station ... das muss in mein Logbuch.

    Er schlug ein altes Schulheft auf, das auf der Tastatur des Korg Oasys lag, und kritzelte etwas in die Tabelle, die er dort bereits gezeichnet hatte.

    „Ein Logbuch über alle Empfangsdaten zu führen ist angeblich ziemlich hilfreich, auch wenn ich nicht damit gerechnet hätte, so schnell zu meinem ersten Eintrag zu kommen", plapperte er freudig, während er Frequenz, Kennung, Dauer und Art der Transmission notierte.

    „Mann, ich kapiere das nicht", bekannte Schlabbo. „Sind das jetzt wirklich Radionachrichten für Agenten? Das wäre ja, als würden wir unseren Polizeifunk per Livestream ins Internet stellen. Wieso sendet irgendjemand solche Nachrichten, wo jeder Doldi sie empfangen und mitschneiden kann?"

    „Mann, das ist genau des Rätsels Lösung, erklärte Sandy, während er widerwillig seinen kleinen Horchposten verließ, um sich umzuziehen. „Denk mal so rum: Wenn du ein Agent irgendwo in einem fremden Land wärst, würde es dich dann nicht verdächtig machen, wenn du ein super ausgestattetes Funkgerät für irgendwelche exotischen Übertragungen mit dir trägst oder kaufen müsstest? Eben. Kurzwellen können jeden Punkt der Erde erreichen, vorausgesetzt, man hat genügend Sendeleistung, was die Geheimdienste natürlich haben, und zum Empfang genügt ein normaler Weltempfänger. Das ist doch gerade das ideale daran, verstehst du? Der Agent, für den diese Nachricht war, braucht nur ein geeignetes Radio und seine Entschlüsselungstabelle, kein exotisches Equipment, um die Daten seiner Dienststelle zu empfangen. Manchmal ist der beste Weg, etwas zu verstecken, es da zu lagern, wo es im Endeffekt jeder sehen könnte.

    „Leuchtet mir ein, nickte Schlabbo, während er Sandys Empfangsstation misstrauisch beäugte. „Aber wenn das echte Geheimdienstsender sind, wieso unternimmt die Regierung dann nichts dagegen, dass es Leute gibt, die sie mithören und ihre Mitschnitte dann ins Internet stellen ...?! Äh, nein, sag es mir nicht, ich glaube, ich hab grad meine Frage schon selbst beantwortet. Weil das heißen würde, zuzugeben, dass man so einen Sender und somit Agenten hat, die ihm zuhören müssen.

    „Hundert Punkte", stimmte Sandy zu, während er mit einem schlichten schwarzen Hemd und Jeans bekleidet zurück ins Wohnzimmer kam. Als er seine Rechner

    herunterfuhr, blitzte es in seinen Augen in einem Maße, wie es Schlabbo zuletzt während Sandys Minibeziehung mit Carmen gesehen hatte. „Genau das ist es, Alter. Und genau darum kann und werde ich mir jetzt das beste und unheimlichste Signal aus dem Äther ziehen und damit einen Radiospot basteln, bei dem sich die Leute vor Angst reihenweise in die Hosen scheißen. Und das alles nur, weil du den genialsten Geistesblitz der letzten Jahre hattest. Nein, ich weiß, eigentlich verdanken wir die Sache dem Prottengeier Schorsch, nur hat der nix mehr davon. Wollen wir gehen?"

    Sandy ertrug die widerliche Disco, jenen Tempel oberflächlicher, geistloser Menschen und schlechter Musik tapfer so lange, bis Schlabbo eingehend mit der örtlichen Damenwelt beschäftigt war und es nicht weiter auffallen würde, wenn er, Sandy, plötzlich nicht mehr da war.

    Durch die von kreidigem Aroma durchwobene Luft einer Herbstnacht stapfte er zur U-Bahn-Haltestelle und ließ sich dann von der Linie 1 bis zum Aufseßplatz, wenige hundert Meter von seiner Wohnung entfernt, kutschieren. Die ganze Zeit fragte er sich, ob die Menschen, denen er begegnete, auch nur den blassesten Schimmer einer Ahnung hatten, was da weit jenseits ihrer vertrauten UKW-Frequenzen im Äther lauerte, welche fremdartigen Signale, Stimmen und Botschaften unsichtbar um unseren Planeten sausten, bis sie von den Antennen weniger Eingeweihter und Interessierter aufgefangen wurden? Natürlich wussten sie es nicht. Die Menschen waren froh und zufrieden, wenn ihr Radio ungestört Wolfgang Leikermoser, „Die drei von der Funkstelle" oder auch irgendwelche Sportübertragungen von sich gab. Sie wähnten sich dabei sicher und auf vertrautem Territorium, was ja auch völlig in Ordnung war.

    Doch kaum jemand verschwendete einen Gedanken daran, dass all dies, wie Sandy nun fasziniert bemerkte, kaum mehr als die Spitze des Eisberges war, was dieses unterschätzte und machtvolle Medium Radio eigentlich konnte. Weit hinter Antenne Bayern lag eine riesige, ätherische Terra Incognita, die beeindruckend und auf ihre Weise zutiefst spannend und suchtbildend war.

    Das ließ ihn an ein Lied der Gruppe Queen denken, Radio Ga Ga, in dem genau diese Trivialisierung und Gleichschaltung des Radios beklagt wurde. An einer Stelle sang der unvergessene und viel zu früh verstorbene Freddie Mercury: „Radio - you have the time, you have the power, you’ve yet to have your finest hour!"

    Und auf einmal kam Sandy dieser Satz gar nicht mehr wie eine Utopie vor, sondern wie ein Versprechen auf all die Dinge, die den geneigten Interessierten erwarteten, wenn er die vertraute Mittelwelle und UKW hinter sich ließ und dafür Neuland erkundete: Dinge wie die unheimlichen Zahlensender, zu denen er nun wieder unterwegs war.

    Einige Stunden später, um vier Uhr morgens, verschwendete Sandy einen kurzen Gedanken daran, mit wem sich sein bester Kumpel wohl gerade die Zeit vertrieb, ob er wohl in der Disco versumpft war oder schon irgendeiner Schnecke die übliche „zu-mir-oder-zu-dir"-Frage gestellt hatte, mit der alle seine Flirts zu enden schienen?

    Dann verlangte das Radio wieder Sandys ganze Aufmerksamkeit, obwohl sich seine Augendeckel langsam bleischwer anfühlten, weniger vor Müdigkeit, sondern aufgrund der Anstrengung, den Blick stets zwischen dem Computerbildschirm und dem handtellergroßen Display des Weltempfängers hin- und herwandern zu lassen. Mittlerweile hatte er zwei weitere Transmissionen aufgefangen, den israelischen Mossad-Sender E10 und eine russische Station namens S06, die einer starken Störkraft, vermutlich asiatischer Herkunft, ausgesetzt war. Im Fachjargon wurden diese zumeist chinesischen Störsender darum auch Dragon Jammer genannt.

    Gute Beute, wirklich. So langsam war Sandy überzeugt, dass er es hier mit mehr als einem typischen Fall von Anfängerglück zu tun hatte. Es schien beinahe Bestimmung

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