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Der Mäusemörder: Freiburg Krimi
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eBook293 Seiten3 Stunden

Der Mäusemörder: Freiburg Krimi

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Über dieses E-Book

Professor Alexander Kilian, Direktor des Institutes für Molekulargenetik der Universität in Freiburg im Breisgau, wird mit einer Folge von beunruhigenden Zwischenfällen in seinem Institut konfrontiert. Im selben Zeitraum sterben in Freiburg mehrere Menschen durch eine mysteriöse Lebensmittelvergiftung, deren tatsächlicher Hintergrund sich erst herausstellt, als Kilian selbst in tödliche Gefahr gerät. Sein Freund Jörg Geßler, Hauptkommissar bei der Freiburger Kriminalpolizei, übernimmt die Ermittlungen und bringt schließlich den Täter in eine ausweglose Situation.

SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum26. Aug. 2016
ISBN9783954286508
Der Mäusemörder: Freiburg Krimi

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    Buchvorschau

    Der Mäusemörder - Renate Klöppel

    Paradies

    Prolog

    Der Mann, der in den Vormittagsstunden des 21. Juni in die Freiburger Universitätsklinik eingeliefert wurde, war braunge­brannt und von kräftiger Statur. Am Morgen dieses Tages hatte er in seinem Bett die Augen geöffnet und bemerkt, dass er die Welt anders sah als an jedem anderen Tag. Er sah sie doppelt. Doch nicht nur dies beunruhigte ihn. Er konnte nicht mehr schlucken und seine Sprache war unverständlich. Als der Rettungswagen kam, hatten sich seine Lippen bläulich verfärbt. Am nächsten Morgen war der Mann tot. Weder die Errungenschaften der modernen Medizin noch das Wehklagen seiner Ehefrau hatten sein junges Leben retten können.

    Kapitel 1

    Alexander Kilian hatte an eben diesem frühsommerlichen Morgen gerade sein Arbeitszimmer betreten und den Fahrradhelm im Schrank verstaut, als das Telefon klingelte. Bossel war am Apparat.

    „Herr Kilian, kommen Sie bitte sofort ins Zelllabor".

    Als ehemaliger kommissarischer Leiter des Institutes für Molekulargenetik der Freiburger Universität achtete Bossel darauf, seinem neuen Chef keinen besonderen Respekt entgegenzu­bringen. Undenkbar für ihn, seinen Chef mit Herr Professor oder Herr Professor Kilian anzureden. Alexander Kilian, mit den Gewohnheiten seines Mitarbeiters mittlerweile vertraut, stellte keine weiteren Fragen. Die Angelegenheit schien dringlich zu sein. Nur ein kurzer Flur, dessen Wände Schautafeln mit Chromosomen und Computer­graphiken von Viren zierten, trennte sein Zimmer von den Laborräumen. Wenige Augenblicke später öffnete er die Tür zum Zelllabor. Mitten im Raum stand Evi Antona, in Tränen aufgelöst. Die junge Doktorandin mit dem rundlichen Kinder­gesicht und dem Pferdeschwanz war umringt von zwei Laborantinnen, der technischen Assistentin Simone Becker, zwei jungen Ärzten und Dr. Michael Hartung, einem braun-gelockten Biologen ohne Laborkittel in kurzer Hose und gestreiftem Kapuzen-T-Shirt. Ihr direkt gegenüber stand Kurt Bossel. Den Kopf weit vorgereckt sah er mit seiner spitzen Nase aus wie ein Raubvogel, der nach seiner Beute hacken will. Der Professor blickte fragend in die merkwürdige Runde.

    „Ich habe den Brutschrank bestimmt nicht abgestellt, brachte die junge Frau mühsam unter Schluchzen hervor, und ihr Busen hob und senkte sich mit jedem krampfhaften Atemzug heftig unter dem engen Pulli. „Als ich gestern Abend nach Hause gegangen bin, war noch alles in Ordnung.

    „Scheiße!"

    Nicht zum ersten Mal vernachlässigte Alexander die Umgangs­formen, die seine Mitarbeiter von ihrem Chef erwarteten. Er war glücklich gewesen, dass endlich nach vielen Fehlschlägen in die Kulturen von menschlichen Zellen ein besonderes Gen eingeschleust werden konnte. Jetzt waren die Zellen abgestorben, daran war nicht zu zweifeln. Der Versuch, der sich bereits über mehrere Monate erstreckte, war wieder gescheitert, und niemand konnte dies mehr ändern.

    „Wer, zum Donnerwetter, war es dann, wenn nicht Frau Antona?"

    Bossel war der einzige, der nicht den zornigen Blicken des Instituts­direktors auswich. Mit seinen kleinen, wasser­blauen Augen hinter der dunklen Hornbrille sah er seinen Chef unverwandt an. „Ich werde herausbekommen, wer das getan hat, Frau Antona oder jemand anders."

    „Das will ich hoffen. Und nach einer Pause: „Herr Bossel, kümmern Sie sich um die Angelegenheit. Damit floh Professor Kilian recht hilflos in sein Zimmer. Zurück blieb das überraschte Team.

    Alexander trat an das Rundbogenfenster seines Arbeitszimmers und blickte auf die alten Kastanien, deren dichtes Blätterdach das Zimmer verdunkelte. Selbst hier im südlichen Seitenflügel des Gebäudes war es trotz der hochsommerlichen Hitze draußen noch angenehm kühl. Er schätzte es, dass sein Institut hier außerhalb des Institutsviertels der Universität in einem alten Wohngebiet lag. Er liebte das dreigeschossige Bauwerk aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert, das an drei Seiten von einem kleinen Park umgeben war. Niemals hätte er mit den nüchternen Zweckbauten tauschen wollen, in denen ein Großteil der anderen Institute untergebracht war. Sein Institut erinnerte ihn mit den Stuckquadern eines nachgemachten Bossenmauerwerks, den Pilastern neben den Fenstern und dem auf geschwungenen und verzierten Konsolen ruhenden Balkon an Gebäude der italieni­schen Renaissance. Nach aufwendigen Umbauten war in dem alten Wohnhaus ein hochmodernes Institut entstanden, von dem die vorsichtig renovierte Fassade wenig ahnen ließ. Nur das mit schwarzem Schiefer verblendete, ausgebaute Dachgeschoss der beiden Seitenflügel zeugte vom Platzbedarf seiner Bewohner. Von den mehr als achtzig Mitarbeitern des Instituts gehörten neunzehn zu Kilians Arbeitsgruppe, darunter zwei Medizinstu­denten, die für ihre Doktorarbeit forschten. Evi Antona war eine von ihnen.

    Es war nicht das erste Mal, dass sich eine schwerwiegende Panne bei den Experimenten der jungen Doktorandin ereignete. Vor wenigen Tagen erst waren wichtige Daten, mit denen sie arbeitete, vom Computer gelöscht worden und weder ein Ausdruck noch eine Sicherheitsdatei konnten bis zum heutigen Tag aufgefunden werden. Die Daten zu ersetzen, würde die Wiederholung von kostspieligen und vor allem zeitaufwendigen Experimenten erfordern. Alexander Kilian wusste, dass die Chance äußerst gering war, die Verluste bis zum Kongress der American Society of Human Genetics wieder aufzuarbeiten. Nun waren auch die Versuche mit den Zellkulturen wieder misslungen. Bei diesem Gedanken machte sein Zorn mehr und mehr einem tiefen Schmerz Platz. Mit Wehmut nahm er Abschied von der Vorstellung, wieder einmal mit sensationellen Neuigkeiten auf dem Kongress zu glänzen. Nun würde er allenfalls über ein paar Belanglosigkeiten berichten können.

    Sein Kummer wuchs bei dem Gedanken, dass wahrscheinlich die schüchterne junge Frau für den Datenverlust verantwortlich war. Für niemanden sonst bestand zu diesem Zeitpunkt ein Anlass, mit den Dateien zu arbeiten. Zwar fügte Evi Antonas Arbeit nur ein kleines Steinchen ins Mosaik der Forschungs­projekte, die im Institut durchgeführt wurden, aber ohne diese wichtigen Details konnte das Puzzle nicht vollständig zusammengefügt werden. Er war sich darüber im Klaren, dass er nicht die junge Frau bei allem, was sie tat, überwachen konnte. Niemand konnte das. Auch kam es häufig vor, dass einer der Doktoranden das Institut als letzter verließ. Eine Beaufsichtigung der Arbeit am Computer war ohnehin nicht möglich. Merkwürdig fand er allerdings, dass es keine Sicherheitskopie gab. Auch waren die Daten offenbar nicht ausgedruckt worden. Beides zusammen sprach für eine unglaubliche Nachlässigkeit, die er Frau Antona nicht zutraute, hatte sie sich doch früher immer als umsichtige und zuverlässige Mitarbeiterin gezeigt. Also doch Sabotage als Ursache für die Pannen? Kein Zweifel, hierfür kam die Doktorandin nicht in Frage.

    Der Tag verging mit der üblichen Routine. Als es gegen neunzehn Uhr an der Tür klopfte, tippte der Professor geschickt mit zwei Fingern an einem Referat, das er in der kommenden Woche bei einer Tagung in Heidelberg halten wollte. Bossel trat ein, um Bericht zu erstatten.

    „Nehmen Sie Platz, ich bin gleich fertig". Bossel setzte sich auf den einzigen Sessel, der nicht mit Papieren oder Büchern belegt war. Alexanders Interesse an allem, was halbwegs wissenswert war, führte dazu, dass sich Aufsätze, Zeitungsartikel, Notizen und Bücher nicht nur auf dem Schreibtisch, sondern auch auf dem kleinen Couchtisch und den Sesseln türmten. Selbst der Boden war in den Zimmerecken und entlang der einen nicht mit Bücherregalen zugestellten Wand mit Zeitschriften bedeckt. Bossel hasste dieses Chaos, wenn er auch zugeben musste, dass sein Chef immer die Kontrolle über den Wust von Papieren behielt. Ausgestattet mit einem ausgezeichneten Gedächtnis gelang es ihm meist, mit einem Griff die Dinge hervorzuziehen, die er gerade suchte.

    Nach ein paar Minuten brach er das Tippen ab, speicherte den Text und wandte sich Bossel zu.

    „Was haben Sie herausgefunden?"

    Bossel fasste in seinen blonden Schnauzbart, der das Raubvogelprofil mit der spitzen Nase und dem fliehenden Kinn eher unterstrich als kaschierte, und zog die Oberlippe vor.

    „Es ist so, wie ich vermutet hatte. Frau Antona hat gegen halb zehn Uhr als letzte das Institut verlassen. Herr Hartung ist etwa eine halbe Stunde vorher gegangen. Er war aber gar nicht im Zelllabor, sondern hat am Rechner gearbeitet."

    Dann zog er die Oberlippe hoch, was seinem Gesicht den Ausdruck von Verachtung verlieh: „Die letzte, die außer dieser ... und die nächsten fünf Worte dehnte er mit besonderem Nachdruck, „... außer dieser Trantüte von Doktorandin in dem Labor gearbeitet hat, ist Frau Becker. Sie legt ihre Hand dafür ins Feuer, dass zu diesem Zeitpunkt noch alles in Ordnung war.

    Alexander ärgerte sich über die abfällige Bezeichnung. Schließlich hatte er die junge Frau selbst unter mehreren Bewerbern für die Doktorarbeit ausgesucht. Noch immer war er davon überzeugt, sich nicht in der Beurteilung ihrer Fähigkeiten geirrt zu haben.

    Bossel fuhr fort. „Tatsache ist aber, dass der Brutschrank ausgeschaltet war. Sowohl die Temperatur als auch der CO2-Gehalt waren weit unter den zulässigen Bereich abgesunken."

    Er beugte sich vor. „Aber das ist nicht alles. Dann machte er eine Pause, blickte seinen Chef scharf an, um sicher zu sein, dass die folgende Ungeheuerlichkeit ihm nicht entgehen würde. „Es ist offenbar destilliertes Wasser oder eine Waschlösung mit falscher Konzentration in die Kulturen gegossen worden. Dadurch sind restlos alle Zellen zugrunde gegangen.

    Der Institutsdirektor verzog keine Miene. Er saß da, als habe Bossel soeben von einer alltäglichen Begebenheit berichtet. Was ging es seinen Mitarbeiter an, was er dachte und fühlte?

    „Was sagt denn Frau Antona dazu?"

    „Das haben Sie ja selbst gehört. Sie heult und sagt, sie sei es nicht gewesen. Mehr fällt ihr zu diesem Thema nicht ein."

    „Wo waren Sie denn gestern Abend? Sie sitzen doch sonst immer noch um Mitternacht im Institut."

    Bossel blickte zum Monitor auf dem Schreibtisch. Ein Labyrinth von rot-weiß gestreiften Rohren breitete sich auf ihm aus, zerfiel wieder, wuchs aufs Neue, schlängelte sich umeinander und verschwand wieder.

    „Gestern Abend?"

    „Ja, gestern Abend."

    „Ich hatte eine Verabredung."

    Der Professor sah Bossel forschend an. „Eine Verabredung?"

    „Ja, eine Verabredung. Aber das geht niemanden etwas an." Bossel blickte über seine Hornbrille nach oben und legte seine Stirn in bedeutungsvolle Querfalten.

    Als sein Chef schwieg, fuhr er fort: „Ich würde mich so schnell wie möglich von Frau Antona trennen. Dass die Dame immer noch im Institut ist, lässt sich allenfalls mit einer Vorliebe für junge Mädchen mit Sommersprossen und Pferdeschwanz erklären."

    Die Erkenntnis, dass Bossel nicht ganz Unrecht hatte, ärgerte Kilian noch mehr als die abfällige Bemerkung zuvor. Evi Antona gefiel ihm, er schätzte auch ihr behutsames und einfühlsames Wesen, selbst wenn ihre Unsicherheit und ihre bedächtige Art tatsächlich manchmal etwas lästig waren. Er versuchte sich seinen Zorn nicht anmerken zu lassen.

    „Mich interessiert nicht, was Sie tun würden. Ich danke Ihnen für Ihre Mühe."

    Damit entließ er Bossel, der ein süß-saures Gesicht machte, mit einer Handbewegung aus seinem Zimmer.

    Der Professor, ein großer schlanker Mann mit hagerem Gesicht und dunklen, ergrauenden Haaren, trat wieder ans Fenster. Draußen leuchtete der blaue Himmel zwischen den Blättern und nahm ihm die Lust noch länger am Schreibtisch zu sitzen. Sein Plan, heute Abend Ina und die gemeinsame Tochter zu besuchen, schien ihm bei der missmutigen Stimmung, die sich seiner mittlerweile bemächtigt hatte, nicht mehr gut. Die Vorstellung, sich entweder in schlecht gelauntes Schweigen zu hüllen oder Ina von seiner dürftigen Rolle bei den heutigen Ereignissen im Institut zu berichten, war wenig verlockend. Dass er selbst mit der Doktorandin hätte sprechen müssen, war ihm längst klar geworden. Sie hätte Unterstützung gebraucht. Wenn Evi Antona auch eine kluge Frau war, fehlte ihr doch die Fähigkeit, sich gegenüber solch schwerwiegenden Vorwürfen allein zu behaup­ten. Es war nicht nötig, sich das von der Frau, die er liebte, sagen zu lassen. Auch Inas Besorgnis über den neuerlichen Zwischenfall, ihre Anteilnahme an seinem Missgeschick würde ihm die Sache nicht leichter machen. Er wollte kein Mitleid. Nichts war ihm so unangenehm wie Inas Mitgefühl in dieser Situation, ihr Bedauern, ihre Betrübnis. Lieber sprach er mit ihr darüber, wenn er selbst den nötigen Abstand zu den Ereignissen bekommen hatte. Oder, besser noch, wenn er alles aufgeklärt hatte. Er griff zum Telefon und wählte ihre Nummer. Ina meldete sich.

    „Wie geht es dir?, fragte er und: „Was macht Corinna?

    Auf diese Floskeln am Telefon hätte er gern verzichtet. Wozu sich nach Dingen erkundigen, die zumeist unwichtig waren? Hätte sich tatsächlich etwas Bedeutsames ereignet, würde er es sowieso erfahren.

    „Nimm es mir nicht übel Ina, aber im Institut gab es so viel Ärger, dass ich heute Abend nicht komme."

    Ina war offenkundig enttäuscht. Er versuchte sie zu trösten. „Ich verspreche dir, ich halte mir das ganze Wochenende für Corinna und dich frei."

    Die üblichen Redensarten zum Ende eines Telefongesprächs, dann war es geschafft. Er konnte gehen. Auf dem Weg zum Treppenhaus betrat er noch einmal das Zelllabor. Weder Evi Antona noch andere Mitarbeiter waren zu sehen. Alles war aufgeräumt und gereinigt worden. Hatte er auch hier etwas falsch gemacht? Hatte er etwas versäumt? Hätte man vielleicht Fingerabdrücke sicherstellen sollen? Er verwarf den Gedanken wieder. Was hätten Fingerabdrücke an einem Gerät und an Kulturflaschen, die von verschiedenen Personen angefasst werden, schon bewiesen? Er sah keinen Sinn darin, sich mit dem ganzen unnützen Ärger jetzt noch weiter zu befassen.

    Von den vielen Fahrrädern, die im Sommer vor dem Institut standen, waren um diese Zeit nur noch sechs übriggeblieben. Das von Michael Hartung war an der pinkfarbenen Lackierung unschwer zu erkennen. Es hatte seinem Besitzer den Spitznamen ‚Pink Panther‘ eingebracht. Den uralten Drahtesel von einem der Studenten erkannte er an dem riesigen Vorhängeschloss und einer gewaltigen Kette. Von den übrigen wusste er nicht, wem sie gehörten.

    Wenige Minuten später hatte er den Radweg an der Dreisam erreicht und den Autoverkehr hinter sich gelassen. Er folgte dem Fluss stromaufwärts, an den Sportplätzen vorbei, wo ihm ein paar späte Badegäste mit Liegematten und Badetaschen vom Strandbad entgegen kamen. Hinter ihm glitzerte die Dreisam im Licht der tief stehenden Sonne. Etwas beklommen dachte er an Ina, die wieder einmal mehr einen schönen Sommerabend allein mit der Tochter verbrachte. Nach einer dreiviertel Stunde durchquerte er Buchenbach, folgte noch ein Stück der Straße, die zum Spirzen hinaufführte, und kehrte dann um. Die Jeans und das Hemd, die er im Institut getragen hatte, waren nicht die richtige Bekleidung für eine Bergstrecke.

    Kapitel 2

    Im letzten Tageslicht erreichte Alexander seine Wohnung. Das Haus aus den sechziger Jahren lag zwischen Stadtgarten und Schlossberg, ganz in der Nähe seines Institutes. Er besaß die untere Etage, zu der ein verwilderter Garten gehörte, und er schätzte sich glücklich sie allein zu bewohnen. Lieber aß er in der Kantine, ging auch selbst zum Einkaufen, als Tag für Tag die Gegenwart eines anderen Menschen zu ertragen; eines Menschen, der spricht und nach Antworten verlangt, wenn er schweigen möchte, oder der Zärtlichkeiten erwartet, wenn ihm nicht danach zumute ist. Lange Jahre hatte er es früher so ausgehalten, bis dieses Leben ihm geradezu körperliches Missempfinden bereitete und er immer öfter floh aus der erstickenden Enge der Zweisamkeit. Er war froh Ina gefunden zu haben. Sie akzep­tierte, dass er nicht geeignet war, Tag und Nacht mit einer Frau zusammen zu leben, er, der er schon als Kind ein Außenseiter gewesen war, ein Eigenbrötler, den die anderen Kinder nicht verstanden, und der nicht gewusst hatte, wie man mit anderen Kindern umgeht. Jetzt hatte er es gut getroffen mit Ina, die selbst ihre Freiheit schätzte, gern der Pflicht ledig war, Hemden zu bügeln oder einem Mann, dessen Gedanken noch bei der Arbeit waren, das Mittagessen auf den Tisch zu stellen. Aber Ina war der ruhende Pol in seinem Leben, Ina, die für ihn da war, wenn er sie brauchte, ohne den Überdruss der ständigen Nähe, aber mit der Faszination des besonderen Augenblicks.

    Mit einem Glas Wasser in der Hand trat er auf die Terrasse und setzte sich auf einen der Gartenstühle, die ohne erkennbare Ordnung auf den Sandsteinplatten verteilt waren. Durch die alten Fichten, die den Garten zur Straße abschirmten, fiel das fahle Licht der Straßenlaterne. Zu spät bemerkte er die schattenhafte Gestalt auf dem Stuhl im Dunkel vor der Hauswand, ihm schräg gegenüber. Zu spät war es, um einfach wieder zu verschwinden, zu spät, um gar nicht erst nach Hause gekommen zu sein. Er erkannte sie sofort.

    „Was willst du hier?"

    Die Gestalt auf dem Stuhl richtete sich etwas auf und das bläuliche Licht der Straßenlaterne traf das Gesicht. Sie saß da mit ihrer solariumgebräunten Haut, die in dem schwachen Licht dunkelgrau schien, und den blond gefärbten Locken, ein Gesicht des unübersehbaren Verfalls, gepflegt im hoffnungslosen Bemühen die Verbrauchtheit zu verbergen. Regungslos wie ihr eigenes in Bronze gegossenes Denkmal starrte sie an Alexander vorbei in die Ferne.

    „Ich muss mit dir reden", sagte die Gestalt, ohne ihren Blick aus der Ferne zurückzuholen.

    „Es gibt nichts zu reden."

    Jetzt sah sie ihn an. „Doch, mein Lieber, es gibt sehr viel zu reden und du weißt sehr genau, worum es geht."

    „Ich habe dir gesagt, dass ich dich hier nicht sehen will."

    „Ich weiß. Aber du hast unsere Konten für mich sperren lassen."

    „Das ist richtig."

    „Dazu hast du kein Recht."

    „Meinst du, ich sehe mit an, wie du mein Geld zur Spielbank trägst?"

    „Unser Geld."

    „Mein Geld, das Geld, das ich verdient habe. Du hast das Geld, das du mit deiner Apotheke verdienst, immer auf deine eigenen Konten eingezahlt. Das ist dein Geld."

    „Ich habe kein Geld auf meinen Konten."

    „Weil du es verspielt hast."

    Er hatte sie nur einmal seit seiner Rückkehr aus Cambridge gesehen und diese Begegnung lag schon fast sechs Monate zurück. Seither war ihr Verfall weiter fortgeschritten. Die scharfen Falten um den Mund hatten sich noch mehr vertieft und unter den Augen quollen Tränensäcke, die ihm vorher nur manchmal morgens aufgefallen waren. Ihr Hals, Jahr für Jahr im Sommer wie im Winter gebräunt, erinnerte ihn an den eines Leguans. Die Angewohnheit, den Mund nach vermeintlich bedeutsamen Sätzen zu spitzen, hatte zugenommen und war zu einem fortwährenden tickartigen Zucken geworden, das rings um den Mund tiefe Runzeln wie bei einer alten Frau hinterlassen hatte.

    Sie verlegte sich aufs Jammern. „Wenn du wüsstest, wie schlecht es mir geht ... Sie wartete, ob er etwas sagen würde, und als nichts geschah: „Du würdest mir helfen. Als er immer noch nicht antwortete: „Ich bin immer für dich da gewesen, zwanzig Jahre lang. Nun lässt du mich fallen wie eine heiße Kartoffel."

    Sie rückte auf die Stuhlkante und schob den Kopf vor. „Wie oft habe ich dir deine Unarten verziehen, wie oft habe ich getan, was du wolltest, weil ich immer wieder auf dich reingefallen bin. Du konntest so charmant sein, wenn du nur wolltest."

    Sie machte eine theatralische Pause, ihre Miene war leidend.

    „Jetzt kannst du nicht so tun, als ginge ich dich nichts an. Du musst mir helfen."

    Nach der dramatischen Betonung des „musst" im letzten Satz brach sie in ein krampfhaftes Schluchzen aus. Die Tränen verwischten die Wimperntusche und flossen als dunkle Rinnsale über die faltigen Wangen.

    Er hasste den wehklagenden Ton, wie er überhaupt klagende Frauen nur schwer ertragen konnte, vor allem, wenn er die Ursache des Klagens sein sollte.

    „Hast du Schulden?"

    Anstatt zu antworten, verfiel sie in ein langgezogenes, jammerndes Heulen.

    Alexander wartete nicht auf die Antwort. Er stand auf, ohne ein weiteres Wort zu sagen, eilte die wenigen Schritte zur Terrassentür, floh ins Haus, schloss die Tür sorgfältig hinter sich und zog die Gardine zu.

    Das einbruchsichere Glas hielt den Attacken der wütenden Frau mühelos stand. Es machte nicht einmal besonderen Lärm, als sie mit aller Macht gegen das Glas der Terrassentür mit den Fäusten trommelte und trat. Schließlich gab sie auf, ging zur Haustür, drückte mit der ganzen Hand auf den Klingelknopf und klingelte Sturm. Der kleine Hebel im Flur, der die Klingel abstellt, ließ den Lärm verstummen. Alexander blieb tief atmend im Wohnzimmer stehen, dann schaltete er den Fernsehapparat ein und stellte den Ton etwas lauter als gewöhnlich. Im ersten Programm lief ein Krimi. Ein gewitzter Kommissar bemühte sich, die Frau eines reichen Arztes des Giftmordes an ihrem Ehemann zu überführen. Er

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