Grazer Wut: Kriminalroman
Von Robert Preis
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Über dieses E-Book
Mordermittler Armin Trost wird zum Spielball eines perfiden Racheplans: Während ein Schneesturm von biblischem Ausmaß Graz heimsucht, spült eine Gefängnisrevolte das versunkene Böse zurück an die Oberfläche der Gesellschaft. Wenig später wird Trost von Unbekannten entführt. Eingeschlossen in ein winterliches Bergdorf muss er einsehen, dass nicht nur sein eigenes Leben in Gefahr ist. Auch auf seine Familie haben es die Täter abgesehen. Und dann schnappt die Falle zu. Die Falle, die dem Ermittler den Verstand raubt ...
Robert Preis
Robert Preis wurde 1972 in Graz geboren. Nach dem Publizistik- und Ethnologiestudium in Wien lebt er heute mit seiner Familie wieder in der Nähe seiner Heimatstadt. Er ist Journalist, Autor zahlreicher Romane und Sachbücher und Initiator des FINE CRIME-Krimifestivals™ in Graz. www.robertpreis.com
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Buchvorschau
Grazer Wut - Robert Preis
Robert Preis wurde 1972 in Graz geboren und ist dort aufgewachsen. Nach dem Publizistik- und Ethnologiestudium in Wien lebt er heute mit seiner Familie wieder in der Nähe seiner Heimatstadt. Er ist Redakteur einer Tageszeitung und hat zahlreiche Sachbücher und Romane geschrieben. In der Reihe seiner Graz-Krimis erschienen bisher: »Trost und Spiele«, »Graz im Dunkeln«, »Die Geister von Graz« und »Der Engel von Graz«.
www.robertpreis.com
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2017 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: Niki Schreinlechner, www.nikischreinlechner.at
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, Tobias Doetsch
Lektorat: Susanne Bartel
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-288-5
Originalausgabe
Mit Unterstützung durch das Land Steiermark
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Kostenlos bestellen unter
www.emons-verlag.de
Für Günter, der mich ins Geistthal lockte
und dessen Begeisterung immer wieder ansteckend ist
Es gibt keinen schnelleren Weg in den Wahnsinn.
Seneca in »De ira« (Über die Wut)
Prolog
Landesgericht, Graz, Dezember 2012
»Eins, zwo … Können wir?«
Erst jetzt wurde die Diva mit der Löwenmähne und dem durchdringenden Blick des Signallichts an der Kamera gewahr. Ein eisiger Wind wehte, ihre Nase lief rot an. Doch sie ließ sich davon nicht aus der Fassung bringen und wischte sich noch schnell eine Strähne aus dem Gesicht.
Der Kameramann kontrollierte das Bild auf dem Display und betrachtete das im ganzen Land bekannte TV-Gesicht, das ihm auf dem Monitor entgegenblickte. Er bewunderte, wie die Frau es schaffte zu reden, ohne dabei ein einziges Mal zu blinzeln.
»Vor dem Landesgericht für Strafsachen in Graz ist der Medienrummel heute besonders groß. Zahlreiche Fernsehstationen und Journalisten aus dem In- und Ausland warten gespannt auf das Urteil eines der aufsehenerregendsten Fälle der vergangenen Jahre. Wird es vorweihnachtlich milde ausfallen? In wenigen Stunden wissen wir mehr, denn für den heutigen achten Verhandlungstag darf mit einer gerichtlichen Entscheidung gerechnet werden.«
***
Die barbarischen Zeiten, gekennzeichnet durch unbändige Wut und himmelschreiendes Unrecht, liegen hinter uns, dachte er bei sich. Folter und Todesstrafe sind längst abgeschafft.
Nur eingesperrt werden Menschen noch. In kleine, weiß verputzte Räume – ausgestattet mit Bett, Tisch und Klo. Das Einzige, was den so von der Außenwelt Abgetrennten dann noch aufrecht hält, ist der Umstand, dass es für das Eingesperrtsein ein Ablaufdatum gibt, denn jede Strafe hat schließlich ein Ende.
Jede?
Mit dieser zermürbenden Frage im Kopf betrat er den Großen Schwurgerichtssaal und spürte sogleich den strengen Blick des überdimensionalen Bundesadlers, der an der Wand hinter den drei Berufsrichtern angebracht war. Außerdem stellte er fest, wie nüchtern das Holz der Stühle, der Tische und die bis zur Mitte der Raumhöhe reichende Holzvertäfelung wirkten. Und wie kalt.
Er nahm kaum Notiz von den Menschen, die ihn aufmerksam beobachteten. Schon gar nicht von den zehn Geschworenen – fünf Männer und fünf Frauen –, die ihn wie eine Schaufensterpuppe betrachteten.
Er wusste, dass sie wie die meisten anderen Leute waren und ihn für grobschlächtig hielten; wegen der tellergroßen Hände und der Narbe, die sein Gesicht entlang der Nase bis zum rechten Mundwinkel teilte.
Aber er wusste auch um seine irritierende Ausstrahlung auf sie. Denn so aggressiv, so immerwährend wütend seine eine Gesichtshälfte wegen einer alten Verletzung erschien, so attraktiv und spitzbübisch freundlich zeigte ihn die andere.
Er wirkte unkalkulierbar. Wie Jekyll und Hyde, so gegensätzlich wie Tag und Nacht. Seine Wirkung konnte sich von einer Sekunde auf die andere ändern – je nach Perspektive.
Welche seiner beiden Seiten würde wohl heute zum Vorschein kommen? Würde ihm die eine schmeicheln oder ihn die andere vollends ins Verderben stürzen?
Egal, heute war der letzte Verhandlungstag, Richter und Geschworene waren zu einem Urteil gekommen, und auch das Murmeln der rund sechzig Zuhörer im bis auf den letzten Platz besetzten Gerichtssaal verriet, dass die Aufregung unter ihnen groß war.
Was würde er künftig in ihren Augen sein? Ein kaltblütiger Killer oder ein irres, nicht zurechnungsfähiges Monster?
Er ignorierte die Floskeln der Berufsredner. Wie sich Richter, Staatsanwalt und Rechtsanwalt Fragen und Satzkonstrukte zuwarfen, um sich gegenseitig noch einmal ihre unerschütterliche Kompetenz zu beweisen. Sogar sein eigener Anwalt, der während des Prozesses tatsächlich ab und zu den Eindruck erweckt hatte, ihn aus ehrlichem Antrieb aus dem Schlamassel boxen zu wollen, gab nur noch juridische Lippenbekenntnisse von sich.
»Nein, keine weiteren Zeugen.« – »Nein, wir haben dem nichts hinzuzufügen.« – »Ja, wir nehmen das Urteil zur Kenntnis.«
Was war denn schon großartig passiert? Sie hatten dieses dämliche Spiel gespielt, und jemand war besser als er gewesen. Da hatte er eben kurz die Waffe getauscht, statt Schaumstoff eine echte Klinge verwendet und seinen Gegner aufgeschlitzt.
Niemand hätte davon erfahren, wenn nicht ein paar Jugendliche im Wald herumgekrochen wären und ihn dabei beobachtet hätten. Und wenn er nicht gewesen wäre. Sein alter Freund, der Polizist. Dieser frustrierte Arsch mit seinem paragrafenschwangeren Scheißleben und seiner Ich-hab-dich-durchschaut-Miene.
Schuld, Unschuld, ein Leben mehr oder weniger. Meine Güte, na und?
Die Moralapostel taten so, als wäre er nicht ganz richtig im Kopf. Schon allein wegen der Tatsache, dass er bei dem Spiel mitgemacht hatte, bei dem man sich verkleidete, in eine andere Identität schlüpfte und sich dann bekämpfte.
Aber was war schon großartig dabei? Ja, gut, er hatte sich als Teufel verkleidet – als griechischer Hirtengott Pan, um genau zu sein –, hatte Leute erschreckt und tatsächlich ein paarmal die Klingen gekreuzt. Die Konkurrenz schlief bekanntlich nie. Auch nicht im Maskenland.
Aus diesem Grund war er immer wieder wie aus dem Nichts aufgetaucht. Hatte die Leute in Angst und Schrecken versetzt. Und ein paar massakriert, was aber gewissermaßen ja auch zum Spiel gehörte. So hatten sie Ehrfurcht vor ihm, schließlich galt er seit Ewigkeiten als unschlagbar.
Meine Güte, na und? Viele Leute machten Live-Rollenspiele. Was glaubten die denn, wie oft dabei getrickst wurde? So häufig wie im richtigen Leben auch.
Auch Richter und Anwälte machten da mit. Vielleicht sogar einer von denen, die im Raum waren, der sich dafür spitze Ohren aufsetzte und verzweifelt versuchte, Elbisch zu reden.
Er grinste bei dem Gedanken. Was für Tölpel – Elben, das waren doch die Opfer des Spiels.
»Was amüsiert Sie daran so?« Die Stimme des Obersten Richters schnarrte durch den Saal, und er spürte, wie sich alle Blicke auf ihn richteten.
Er reagierte auf die Frage mit einem Schulterzucken, das einem trotzigen Kind zur Ehre gereicht hätte. »Nix«, sagte er leise.
»Wie bitte? Ich kann Sie nicht verstehen.«
Er blieb stumm, sah den Richter an, stach ihm mit seinem Blick ins Herz. Mehr noch, er wühlte damit in seinen Eingeweiden herum, bis dieser wegschaute. Jedenfalls wünschte er sich das, doch der Richter schaute nicht weg. Der Richter-Wichser schaute einfach nicht weg.
»Ich hab gesagt: ›Nix.‹ Soll ich dich aufschlitzen, oder was?«
Es wurde still. Kein Räuspern, kein Hüsteln war zu vernehmen, keine aufgebrachte Zurechtweisung ertönte.
Meine Güte, waren die alle verstockt.
Der Richter, den man immer mit »Herr Rat« anzureden hatte, dieser öde Kerl, der mit seiner pfeilspitz zulaufenden Nase, die wie ein ständiger Fingerzeig wirkte, wie ein Oberlehrer aussah, blickte ihn stirnrunzelnd an. Seine Augen waren blau wie der Himmel, aber kalt wie das Eismeer. Die hängenden Wangen und das kantige Kinn ließen ihn wie eine absurde Mischung aus einer Person von »Max und Moritz« und einer Bordeauxdogge wirken.
Wieder konnte er sich ein Lächeln nicht verkneifen.
Prompt erklang die schnarrende, überhebliche Stimme: Er möge aufstehen und hören, wie das Urteil ausgefallen war.
Der Stuhl, den er mit den Kniekehlen zurückschob, kratzte unangenehm laut über den Parkettboden. Ein Schweißtropfen kullerte zwischen seinen Schulterblättern hinab. Ein kleiner Beweis dafür, dass auch er Nerven zeigte.
Er konnte das Bild vom Eismeer nicht aus seinem Gedächtnis verdrängen. Er hatte es noch nie gesehen und stellte es sich glasklar vor. So klar, dass man Hunderte Meter bis zum Grund sehen konnte, und wenn man darin schwamm, musste das sein, als würde man schweben. Die Sehnsucht, die ihn plötzlich überkam, hätte ihn vor allen Leuten fast übermannt.
Reiß dich zusammen, du Arsch, wies er sich zurecht. Wenn du jetzt heulst, stecken sie dein Ich in einen Sack und werden ein Leben lang auf dir herumtrampeln.
Das Eismeer. Er hätte so gern die Welt gesehen. Die ganze Welt. Alles von ihr.
Doch stattdessen stand er dem Oberlehrer-Richter gegenüber. Wie der ihn jetzt anstarrte. Mit einem grimmigen Lächeln. Tatsächlich, die richterlichen vollen Lippen, die harmlos weich geschwungen durch die frische Rasur noch besser zur Geltung kamen, formten sich zu einer amüsierten Grimasse.
»Die barbarischen Zeiten liegen hinter uns«, sagte der Richter.
Er erschrak. Wie konnte er nur aussprechen, was er zuvor gedacht hatte?
»Nur eingesperrt werden Menschen noch. Und in Ihrem Fall ist das auch nötig. Für eine lange Zeit.« Er fügte hinzu, dass man dann sehen müsse, ob eine Besserung eintrete. »Sie werden gemäß den gehörten Gutachten unter ärztliche Obhut gestellt. Wir werden Sie beobachten. Menschen wie Sie muss man beobachten. Sollte sich an Ihrem Zustand nichts ändern, so ändert sich auch nichts an Ihrer Haft.« Alles andere sei bis auf Weiteres zu gefährlich. Die Strafe betrage also definitiv mehr als fünf Jahre. Es werde keine konkrete Dauer festgelegt, vielleicht würden sich die Jahre zu einer Ewigkeit ausdehnen.
Ewig.
»Ich möchte die Menschen vor Leuten wie Ihnen schützen und gebe hiermit dem Antrag auf Unterbringung in einer Anstalt für abnorme Rechtsbrecher statt. Die Sitzung ist beendet.«
Meine Güte, was sagte der Typ da? Die wollten ihn doch nicht für immer hinter Schloss und Riegel bringen, oder? Oder?
Der Anwalt erhob sich, schaute ihn flüchtig an, ja, plötzlich nur noch flüchtig, und drückte ihm die Hand.
»Wie lange sperrt ihr mich weg?«, fragte er.
Die Hand des Anwalts fühlte sich wie ein Feuchttuch an. Dann rauschte er, ohne eine Antwort zu geben, davon und ging in dem Getümmel der aufgesprungenen Zuschauer unter. Auch die Journalisten drängten aus dem Saal, damit sie mit der Urteilsverkündung bald überall für Schlagzeilen sorgen konnten, und die Jus-Studenten, die sich unters Publikum gemischt hatten, sprachen aufgeregt durcheinander und verabredeten sich im nächsten Gasthaus.
Verdammt, was hatte der Richter noch mal gesagt? Was bedeutete »ewig«? Wie lange musste er in diese Anstalt? Konnte er vorher noch mal nach draußen, an die frische Luft? Wartet, so wartet doch auf mich, verdammt!
Seine Hände wurden fest und unnachgiebig gepackt und an seinem Rücken zusammengedrückt.
Au!
Als sie den Mann hinausschoben, warf der noch immer fragende Blicke durch den Raum.
»Was soll das heißen? Seids ihr deppert? Wie lange sperrt ihr mich weg, will ich wissen!«
Er schien nicht zu begreifen, was soeben passiert war. Den Polizisten, die ihn hinausschoben, waren seine Schreie sichtbar unangenehm. Sie zischten ihm zu, damit aufzuhören, stießen leise Flüche aus und schoben ihn an den Handgelenken unsanft auf die Seitentür zu.
Doch der Verurteilte ließ sich nicht beruhigen. »Ihr Schweine!«, tobte er noch immer. Und: »Das zahl ich euch heim. Hört ihr? Ich zahl euch alles heim. Dafür …«
Sein Gesicht war rot angelaufen, und es hatte nicht den Anschein, als bestünde es noch immer aus zwei unterschiedlichen Hälften. Nur mehr eine Seite war sichtbar, die finstere, die hasserfüllte, die vor Wut entstellte. Seine Worte kamen nur noch unartikuliert aus seinem Mund, die Adern am Hals traten hervor, und die Wächter hatten alle Hände voll zu tun, ihn zu bändigen.
Die letzten Zuschauer, die sich noch im Gerichtssaal befanden, starrten ihm fasziniert nach. Seine Wut, die Inhalt ihrer Gespräche sein würde, zog sie an und stieß sie zugleich ab. Die Wut eines anderen war immer ein Gesprächsthema, vor allem, wenn sie hautnah miterlebt wurde.
Als die Seitentür ins Schloss fiel, verstummte das Gebrüll abrupt. Die meisten der Anwesenden waren überzeugt davon, dass der Verurteilte jetzt zunehmend unsanft zur Räson gebracht werden würde. Hinter verschlossenen Türen wurden die Zügel der Gewalt stets gelockert.
Im Schatten der hintersten Reihe wartete Armin Trost regungslos, bis er der Letzte im Gerichtssaal war. Keine Gemütsregung war auszumachen, kein Muskel in seinem glatt rasierten Gesicht bewegte sich.
Erst sein tiefes Durchatmen bewies, dass er doch keine Statue war. Langsam richtete er sich auf, wobei seine vom langen Sitzen steif gewordenen Gelenke knackten. Noch vor ein paar Wochen hatte er seinen Job an den Nagel hängen wollen, aber dann war ihm dieser Fall dazwischengekommen. Und jetzt? Er ging bis zur Anklagebank vor, als erwartete er, dort eine Antwort zu finden.
Seine kräftigen Finger krallten sich um die Lehne jenes Stuhls, in dem zuvor der Mann mit den zwei Gesichtern gesessen hatte. Kurz schloss er die Augen. Er sah die tiefe Kerbe einer Schnittwunde vor sich, die den Mann entstellte. Als er die Augen wieder öffnete, stand der Oberste Richter vor ihm. Trost bekam beim Anblick seiner eisblauen Augen Fernweh und wusste nicht, warum.
»Was man nicht im Kopf hat …« Der Rat griff nach einer Aktenmappe, die er offenbar vergessen hatte, und rauschte wieder aus dem Saal, wobei sich sein Talar unvorteilhaft bauschte. An der Türschwelle drehte er sich noch einmal um, musterte Trost und sagte: »Sie und Ihre Leute haben gute Arbeit geleistet, Herr Chefinspektor. Verrückte Typen wie der sind wirklich eine Gefahr.«
Um das Gerichtsgebäude verlassen zu können, musste Trost den Flur entlanggehen, wo sie ihn bereits erwarteten. Mit Mikrofonen und Notizblöcken bewaffnete Presseleute, die ihn mit Fragen bombardierten. Wie es ihm jetzt gehe, nachdem der Mörder verurteilt sei. Und ob er zufrieden damit sei, dass er in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher untergebracht werde.
Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit, Journalisten so gut es ging zu ignorieren, blieb Trost stehen und musterte die Runde. In der Frau, die ihm ein Mikro unter die Nase hielt, erkannte er eine TV-Reporterin. Im Fernsehen sah sie hübscher aus.
Er dachte daran, dass die Realität generell weniger aufregend als die Vorstellung davon war. Alles war nur aufbereitet und zurechtgerückt, Bilder, Filme, Träume. Die Wirklichkeit war immer hässlicher. Und schon war es passiert. Schwermut erfasste ihn wie eine Welle und spülte alles aus ihm heraus, was tolerant und gutmütig war. Was blieb, war ein undefinierbarer Grimm.
»Das kommt darauf an, wie es weitergeht«, knurrte er grantig. »Sollten ihm die Ärzte eines Tages bescheinigen, wieder normal zu sein, dann bin ich nicht zufrieden.«
Ob er den Ärzten so etwas zutraue, hakte die Reporterin nach. Sie war stark geschminkt und hatte sich schon während der wenigen Sekunden, die ihre Unterhaltung dauerte, mehrmals eine lästige Haarsträhne aus dem Gesicht gewischt.
»Ich traue grundsätzlich allen Leuten alles zu. Und wer mit Verrückten arbeitet, ist nicht davor gefeit, selbst eines Tages verrückt zu werden, oder?«
Allgemeines Gelächter folgte.
»Sie halten Ärzte also für verrückt?«
Er hatte diese Art der Fragerei so was von satt.
Die Frau blinzelte nicht ein einziges Mal.
»Manche sind genauso verrückt wie viele Journalisten.«
Wieder Gelächter, wenn auch verhalteneres.
»Und Polizisten? Sind die davor gefeit?«
Er musste zugeben, dass diese Erwiderung mutig war, und bemerkte in diesem Moment, was für einen Blödsinn er zuvor von sich gegeben hatte. Blödsinn, den sie schreiben würden oder bereits live gesendet hatten.
Trost starrte auf das rote Signallicht einer Kamera, die auf ihn gerichtet war, und zwang sich zu einem souveränen Lächeln, das nicht zu seinem unergründlichen Antlitz passte. »Polizisten verlieren in der Regel nicht den Verstand. Und wenn doch, dann nur, wenn ihn die Welt schon lange zuvor verloren hat.« Das klang doch gut. Kryptisch.
Erneutes Lachen.
Trost bedankte sich, drehte sich um, um endlich das Gericht zu verlassen – und stieß mit einem Mann zusammen.
Der andere verlor das Gleichgewicht, stolperte und stürzte rücklings auf den Boden, wobei seine Brille verrutschte. Einen Moment lang sah er schrecklich verloren aus, wie ein verwirrter Professor, der nicht wusste, was er zuerst tun sollte: wieder aufstehen oder doch lieber den Gedanken zu Ende denken, der ihn gerade noch beschäftigt hatte.
Trost reichte ihm die Hand und zog ihn wieder auf die Füße. Ein Blitzlichtgewitter setzte ein.
»Tut mir leid«, murmelte Trost. An die Journalisten gewandt sagte er laut: »Sie sind hoffentlich kein Arzt, der leicht umfällt?« Dabei tippte er sich mit unmissverständlicher Geste an die Stirn. »Also bitte, stellen Sie keine verrückten Diagnosen über verrückte Leute. Die sollen schließlich bleiben, wo man sie hinsperrt. Wie übrigens die meisten irren Irrenärzte auch.«
Die Kamera hielt drauf. Das Bild von Trost mit dem kleinen Mann an seiner Seite, dessen Brille noch immer schief saß, könnte es in den nächsten Tagen auf die Titelseiten schaffen.
Er ließ sein Lächeln noch für zwei, drei Sekunden gefrieren, dann machte er sich endlich aus dem Staub.
Doch so schnell sollte Trost nicht davonkommen. Als er sich dem Ausgang des Gerichtsgebäudes näherte, fiel ihm der gedrungene Kerl, der dort auf ihn wartete, zunächst gar nicht auf.
Dessen aknenarbiges Gesicht war bereits rot angelaufen, als er Trost gewahr wurde. Schroff schubste er seine Begleiterin in ihren hochhackigen Schuhen zur Seite. Doch die Behandlung schien die junge Dame, die ihren mageren Körper in einen weiten Pelzmantel gehüllt hatte und an deren Hals trotz des Make-ups Pickel zu erkennen waren, nicht besonders zu stören. Sie wühlte unbeirrt weiter in ihrer silbern glitzernden Handtasche, offenbar auf der Suche nach einem Feuerzeug, denn in ihrem Mundwinkel steckte eine Zigarette. Ganz undamenhaft maulte sie: »Ja, hau dem Oasch ane aufs Maul.«
Doch nichts dergleichen geschah.
Als der Kerl auf Trost zustürmte und ihm den Zeigefinger gegen die Brust drückte, waren zwei Beamte, die den Eingang sicherten, sofort zur Stelle.
»Pass auf, was du jetzt sagst«, raunte einer der Polizisten dem gedrungenen Schnauzbartträger zu, der sich auf die Zehenspitzen stellte, um mit Trost annähernd auf Augenhöhe zu sein.
Der etwas zu füllige Kerl mit der gewaltigen Knollennase und einem Haarschnitt, wegen dem man seinen Friseur verklagen sollte, schnappte nach Luft. Er sah aus, als hätte ihm jemand einen Kochtopf aufgesetzt und einfach an der Unterseite einmal herumgeschnitten. Wie die Tonsuren im Film »Im Namen der Rose«. Noch immer drückte sein Zeigefinger schmerzhaft gegen Trosts Brust.
»Ich sag … eines Tages. Sonst nix, aber das sag ich: Eines Tages wird es passieren.« Sein Blick ruhte so lange auf Trost, bis dieser wegschaute und weiterging, als wäre nichts gewesen.
Doch eines wusste der Ermittler nun ganz genau: Auch manche Menschen, die nicht in eine Anstalt gesperrt wurden, hatten nicht alle Tassen im Schrank.
Als Trost wenig später die Conrad-von-Hötzendorf-Straße entlangmarschierte, konnte er regelrecht spüren, wie hinter ihm das Gerichtsgebäude immer kleiner wurde. Mit jedem Schritt entspannten sich seine Rückenmuskeln ein wenig mehr. Dafür nahm eine neue Anspannung zu. Er musste ein passendes Weihnachtsgeschenk für seine Frau und die Kinder finden.
Und so verdrängte sein Gedächtnis bald die Worte des Mannes, wenngleich er schon ahnte, dass er sich irgendwann wieder an sie erinnern würde. Was immer eines Tages passieren sollte. Es würde passieren. Eines Tages.
Trost war bereits hinter einem Häuserblock verschwunden, als im Flur des Gerichts das Signallicht der Kamera erlosch.
»Alles im Kasten?«
»Alles im Kasten.«
»War ich gut?«
»Okay.«
»Nur okay?«
»Nein, eh gut. War’s das jetzt bis Weihnachten?«
»Weihnachten? Scheiße, was ist das noch mal?« Wieder eine Strähne, die ihr ins Gesicht hing.
Ein Sturm kommt auf
Jahre später
1 Die ersten Vorboten des nahenden Schnees nennt man hierzulande Flankerl. Zarte Flankerl wurden also vom Wind zu lustigen Wirbeln gedreht und landeten auf der klaffenden Kopfwunde der Frau.
Dabei hatte der Tag so wunderbar begonnen.
Weihnachtszeit in Graz, in der Stadt mit dem schönsten Adventmarkt Österreichs, wie eine Umfrage unter Touristen vor Kurzem ergeben hatte. Wobei die Verwendung des Singulars in diesem Fall etwas untertrieben war, bestand doch die halbe Grazer Innenstadt quasi aus einem riesigen Adventmarktzentrum.
In den engen Gassen und auf den gepflasterten Plätzen des UNESCO-Weltkulturerbes waren die Holzhütten in kleinen Grüppchen arrangiert. Die Standbetreiber boten neben Schilcher-Glühwein und Langos auch noch Selbstgestricktes und Glasperlen an – wobei jeder wusste, dass die Kunsthandwerker lediglich die Legitimation für das öffentliche Saufgelage darstellten, das sich während der stillsten Zeit des Jahres auf dem Hauptplatz, dem Franziskanerplatz, im Joanneumsviertel, am Eisernen Tor und auf dem Schloßberg abspielte. Ein Saufgelage für Tausende und Abertausende Besucher.
Sie quetschte sich nicht in die Zahnradbahn, um den Markt in den Kasematten des Schloßbergs zu sehen. Sie war ja keine vertrottelte Touristin. Auch die süßen, mit Rum versetzten Punschgetränke, die es vor dem Rathaus gab, ersparte sie sich und bemitleidete die Trinker für deren Kopfweh am nächsten Tag.
Zusammen mit ihrem Mann hatte sie an den vergangenen Wochenenden den viel kleineren, aber beschaulicheren Märkten in der Umgebung einen Besuch abgestattet, in der Weihermühle von Gratwein, in Kainbach, Stainz und Hitzendorf. Dem Massenauflauf in Graz wollte sie wenn möglich aus dem Weg gehen.
Dennoch war es einmalig, montags ganz allein durch die Grazer Häuserschluchten zu flanieren und den Duft von Zimt und Vanillezucker einzuatmen. Wie bestellt hielt sich der Smog hartnäckig, und es blieb grau und trüb. So kam die bunte Weihnachtsbeleuchtung in den Auslagen erst richtig zur Geltung.
Für ihren Johann hatte sie bereits Pyjama und Eau de Toilette beim Kastner in der Sackstraße besorgt. Das war genug. Ihr Mann schenkte ihr zu Weihnachten stets eine kurze Städtereise, die er schon für Mitte Jänner buchte. So war die Vorfreude bereits am Heiligen Abend groß. Wo würde es heuer hingehen?, überlegte sie. Amsterdam? Paris? Wolgograd, das ehemalige Stalingrad?
Sie musste schmunzeln. Das war ein Faible vom Hansi, sich Kriegsschauplätze anzuschauen. Da leuchteten seine Augen immer wie die kleiner Buben, wenn sie Lego-Polizeistationen oder Spielzeugpistolen geschenkt bekommen. Das hatte sie bei ihrer Schwägerin gesehen, die drei Kinder hatte. Sie und Hansi hatten keine. Kinder. Spielzeugpistolen auch nicht. Gott sei Dank.
Aber konnte man Wolgograd überhaupt noch anschauen? War das nicht total zerstört worden? Bei den unweihnachtlichen Gedanken schüttelte sie den Kopf.
Mit ihrem Johann hatte sie es gut getroffen. Eine Führungskraft mit fixen Arbeitszeiten, ein Mann, der zu genießen verstand, auf sein Äußeres achtete und jenes seiner Frau sehr zu schätzen wusste. Dass sie keinen Nachwuchs hatten, tat ihrer Lebensfreude gerade in der Weihnachtszeit keinen Abbruch. So hatte sie weniger Stress mit dem Besorgen von Geschenken und mehr Zeit für sich. Zum Beispiel für eine Feuerzangenbowle mittags und ein Glaserl Sekt im »Kaiserfeld« oder im Operncafé am Nachmittag.
Das Einzige, was sie störte, war der Weihnachtsmann, der ihr dauernd nachstellte.
Natürlich war es nicht immer derselbe Weihnachtsmann, das wäre ja noch schöner gewesen. Obwohl sie sich nicht hundertprozentig sicher sein konnte, diese Typen schauten ja alle gleich aus. Aber wenn es nicht derselbe war, dann war das Vorkommen der Weihnachtsmänner in dieser Anzahl allein schon empörenswert. Sie nahm sich vor, am Abend einen Leserbrief an die »Große Tageszeitung« zu schreiben. Im katholischen Graz gab es das Christkind und keinen Weihnachtsmann. Der sollte von ihr aus in der Cola-Werbung auftreten und in Amerika, Deutschland oder sonst wo bleiben, aber nicht in Graz.
Nicht, dass sie besonders gläubig gewesen wäre, ganz und gar nicht, sie gingen ja nicht einmal zu Weihnachten in die Mette, dennoch bestand sie auf das echte Weihnachten, das keiner Verkaufsveranstaltung ähnelte. Reichte es denn nicht, dass das melancholische Allerheiligen mit seinen Kerzen, dem ersten Jungwein und den Kastanienschalen, die auf den Gehsteig fielen, schon seit Jahren mit dem bizarr-schrillen Halloween konkurrieren musste? Mit »Süßes oder Saures« drohenden Teufelsfratzen? Musste man jetzt auch noch Weihnachten verfremden?
Als sie zwischen den Hütten von einem »Last Christmas« zum nächsten flanierte, glaubte sie, den roten Mantel und die lächerliche lange Mütze immer wieder auftauchen zu sehen. Aber sie konnte sich natürlich täuschen, zu dieser Jahreszeit war schließlich alles bunt und schillernd.
Im Bus täuschte sie sich dann nicht mehr. Ein Weihnachtsmann saß ihr gegenüber und döste vor sich hin. Er trug keinen Bart, sah jugendlich aus und dürfte schon einiges getrunken gehabt haben. Seine Mütze war ihm wie ein Basecap über die Stirn gerutscht, und er schnarchte. Plötzlich bekam sie Mitleid mit den Weihnachtsmännern von Graz. Es schien, als wären sie entweder nur verkleidete Besoffene oder Männer, die für einen Hungerlohn in irgendeinem Kaufhaus Zuckerl verteilen und sich zum Affen machen mussten.
Sie begann zu kichern. Mitleid mit dem Weihnachtsmann, das war lustig.
Als der 85er-Bus an der Endstation stehen blieb, stieg sie aus und ging die Plabutscherstraße entlang bis zu ihrem Haus. Ein Haus mit Garten und Garage in dieser Gegend von Graz, dachte sie lächelnd. Ja, mit ihrem Hansi hatte sie Glück gehabt.