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Aus dem Nichts: Kriminalroman
Aus dem Nichts: Kriminalroman
Aus dem Nichts: Kriminalroman
eBook259 Seiten3 Stunden

Aus dem Nichts: Kriminalroman

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Über dieses E-Book

Über vierzig Jahre alt ist Anselm Becker, Kommissar bei der Dortmunder Kripo, geworden, als er endlich Vater wird. Stolz schiebt er den Kinderwagen mit dem kleinen Robin durch seinen neuen Wohnort Münster, da ereignen sich gleich zwei Anschläge auf Menschen, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben. Anselm Becker muss seinen Robin vernachlässigen, um so schnell wie möglich die Täter zu fassen. Oder ist es vielleicht nur einer, der seine Taten fortsetzen will? Bis jetzt hat es nur Verletzte gegeben, trotzdem ist höchste Eile geboten. Da ereignet sich ein weiterer, folgenschwerer Anschlag und löst bei Anselm pure Verzweiflung aus. Es will sich einfach keine Spur zum Täter finden lassen. Unsichtbar, wie aus dem Nichts, schlägt er zu.
SpracheDeutsch
HerausgeberAschendorff
Erscheinungsdatum25. März 2012
ISBN9783402196663
Aus dem Nichts: Kriminalroman

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    Buchvorschau

    Aus dem Nichts - Heinrich Peuckmann

    ASCHENDORFF

    CRIMETIME

    HEINRICH PEUCKMANN

    AUS DEM NICHTS

    KRIMINALROMAN

    Aschendorffs

    EPUB-Edition

    Vollständige E-Book-Ausgabe des im Aschendorff Verlag GmbH & Co. KG erschienenen Werkes

    Originalausgabe

    Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

    Copyright © 2011/2012 Aschendorff Verlag GmbH & Co. KG, Münster

    ISBN der EPUB-Ausgabe: 978-3-402-19666-3

    ISBN der Druckaugabe: 978-3-402-12933-3

    Sie finden uns im Internet unter

    www.aschendorff-buchverlag.de

    1

    1.

    Als Anselm Becker die Wohnung in der Wilmergasse verlassen hatte, schob er den Kinderwagen direkt hinüber zum Prinzipalmarkt. Er wusste selbst nicht, warum er den Wagen unbedingt durch die Stadtmitte von Münster schieben wollte, wo es laut und hektisch zuging. Der kleine Robin schlief nämlich entspannt und friedlich, so dass ein Spaziergang um den ruhigen Aasee entschieden besser wäre. Tanja hatte Anselm das auch vorgeschlagen, dann aber hinzugefügt: „Geh am besten daher, wo es auch für dich was zu gucken gibt, sonst langweilst du dich noch."

    Am Prinzipalmarkt, so viel war sicher, gab es auf jeden Fall etwas zu gucken, gerade an einem warmen Samstag wie diesem. Anselm fragte sich aber, während er den Kinderwagen elegant an entgegenkommenden Passanten vorbei schob, ob er seine Entscheidung noch aus einem anderen Grund getroffen hatte.

    Schaut her, ich bin Vater geworden. Fast 43 Jahre alt musste ich dafür werden, aber jetzt ist er da, der Kleine. Ist er nicht süß?

    Ganz sicher, ob das bei seiner Entscheidung nicht auch eine Rolle gespielt hatte, war er sich nicht.

    Allerdings, wenn es so wäre, wäre es Blödsinn. Abgesehen von ein paar Freundinnen von Tanja, die Robin längst bewundert hatten, kannte er niemanden in Münster. Wenn er den Kinderwagen durch Dortmund schieben würde, dann wäre das etwas anderes. Da kannte ihn die Hälfte aller Polizisten, da kannte ihn vor allem seine Kundschaft, die Ganoven der Stadt. Anselm musste schmunzeln bei dem Gedanken, was die wohl sagen würden zu dem kleinen Robin.

    „Oh, Herr Kommissar, Nachwuchs bekommen?"

    Mit einem Grinsen auf den Lippen würden sie das fragen, aber ein bisschen würde ihr Interesse auch ernst gemeint sein. So harte Knochen, dass ein Baby sie unberührt lassen würde, waren sie auch nicht. Die meisten jedenfalls nicht.

    Er wechselte die Straßenseite und schob den Kinderwagen unter die Bögen am Prinzipalmarkt. Der Blick hinauf zu Lamberti wurde für einen Moment frei. Ja, die Körbe hingen noch dort oben. Immer, wenn er hier vorbeikam, musste er hinaufblicken, immer erfasste ihn dann ein leichtes Gruseln. Da hinein hatte die Kirche die geschundenen, gevierteilten Leichen der Wiedertäufer legen lassen, frei gegeben zum Fraß für die Vögel. Vogelfrei.

    Er senkte rasch wieder den Blick und schaute hinüber zu den Passanten. Es waren viele, die an diesem Samstagnachmittag an den Auslagen vorbeiliefen. Ob ihnen da ein Mann in mittleren Jahren mit einem Kinderwagen überhaupt auffiel? Und wenn ja, was würden sie denken? Womöglich, dass ein Großvater mit seinem Enkel unterwegs wäre? Nein, das würden sie nicht. Münster war eine Unistadt, sehr viel mehr als es Dortmund war, deren Uni am Rand lag und das Stadtbild kaum prägte. Die lange akademische Ausbildung bewirkte, dass hier viele erst sehr spät mit dem Kinderkriegen anfingen. In Dortmund, ja, da würden einige vielleicht denken, dass er der Großvater wäre, in der Nordstadt ganz bestimmt sogar. Da war man in seinem Alter schon alt, einige hatten das Leben im Prinzip hinter sich.

    Hier tickten die Uhren anders. Hier würde man ihn womöglich in die Riege der Unidozenten einordnen und als spät berufenen Vater verstehen. Keine schlechte Einordnung, dachte er. Obwohl er mit der leicht abgerissenen Lederjacke und den Jeans nicht unbedingt wie ein Unidozent aussah. Oder vielleicht doch? Als er vor vielen Jahren seine paar Semester an der Uni in Bochum studiert hatte, bevor er zur Polizei gegangen war, hatten Dozenten und Professoren in Anzügen unterrichtet. Aber auch bei denen hatte sich inzwischen was geändert, wie er bei einer Ermittlung festgestellt hatte. Bei einem Diebstahl an der Uni hatte er kürzlich zwei Professoren befragen müssen, die ihm beide in Jeanshose, der eine noch dazu in ausgebeultem Pullover, entgegengetreten waren, während der andere immerhin ein dunkelblaues Jackett trug.

    Er merkte plötzlich, dass Robin wach geworden war. Strahlend blaue Augen sahen ihn an, Anselm musste lächeln. Sollen doch alle denken, was sie wollen, dieser Anblick war durch nichts zu bezahlen. Immer wenn der Kleine ihn so ansah, schlug Anselms Herz höher.

    „Wir beide, sagte er und beugte sich vor, so dass ihn der Kleine noch besser sehen konnte, „wir werden ein Team, glaub mir das.

    Der Kleine strahlte und schlug vor Freude mit den Händen auf das Oberkissen.

    „Natürlich zusammen mit deiner Mama, ergänzte Anselm, „die dürfen wir nicht vergessen.

    Von Lamberti erklangen in diesem Moment vier tiefe Glockenschläge. Robins Lächeln erlosch, aufmerksam lauschte er, dann verzog sich sein Gesicht zu einem weinerlichen Ausdruck.

    Um Gottes Willen, brüll jetzt bloß nicht los!

    Aber im nächsten Augenblick fing er auch schon an zu schreien. Anselm guckte strafend zu Lamberti hoch. Verdammte Glocke, musste sie den Kleinen so erschrecken?

    Er begann, den Kinderwagen zu schaukeln, der Kleine schrie lauter.

    „Psst, psst, psst, machte Anselm, „aber Robin, wer wird denn gleich …?

    Das Gesicht des Kleinen verfärbte sich krebsrot.

    Um Gottes Willen, fuhr es Anselm durch den Kopf, es ist ja schon vier Uhr. Dann hat er seit über drei Stunden nichts gegessen, also lag es gar nicht an Lamberti. Schlagartig wurde ihm klar, dass es jetzt nur noch einen Ausweg gab. Nach Hause, so schnell wie möglich zurück in die Wilmergasse!

    Er wendete den Kinderwagen und rannte los.

    „Hoppla!, rief eine Frau, der er beinahe über die Zehen gefahren wäre, „je öller, je döller!

    Anselm ließ sich nicht aufhalten. Blöde Kuh, was sollte das heißen, je öller, je döller? Wollte sie etwa sagen, dass er ein alter Sack war? Egal, was zählte, war jetzt einzig der Kleine, und dass er so schnell wie möglich die Brust bekam. Anselm rannte, der Kleine schrie. Wie der Anschieber beim Bobfahren kam er sich vor, nur dass der Kleine nicht der Steuermann war, sondern Anselm das auch noch übernehmen musste.

    „Vorsicht!", rief ein Mann und sprang im letzten Moment zur Seite, als Anselm angesaust kam und es nicht mehr schaffte, auszuweichen. Er ließ sich vom Schimpfen des Mannes nicht beirren, sondern versuchte, noch schneller zu laufen. Jetzt kam er langsam in die Nähe der Wilmergasse, der Kleine brüllte so ausdauernd, dass Anselm glaubte, er würde ersticken.

    „Aber Robin, brüll doch nicht so, wir sind ja gleich da", keuchte Anselm. Der Kleine beruhigte sich nicht. Es war unklar, ob er bei seiner Brüllerei überhaupt Anselms Stimme gehört hatte.

    Anselm bog um eine Häuserecke, da war die Wohnung von Tanja, er musste nur noch die Straße überqueren. Im selben Moment wurde die Haustür aufgerissen, Tanja kam ihm entgegen. Sie hob den Kleinen aus dem Wagen und wiegte ihn in ihren Armen. Im selben Moment hörte er auf zu schreien.

    Anselm ließ sich auf eine Treppenstufe fallen, Schweiß rann ihm über die Stirn.

    Tanja sah es und lachte. „Ich hab das Gebrüll schon von weitem gehört und wusste sofort, dass ihr das seid." Dann lachte sie noch lauter, während sie den Kleinen an sich drückte.

    „Sehr witzig. Hab ich etwa gebrüllt?"

    „Nun komm, sei jetzt nicht ärgerlich. Wenn er doch Hunger hat, der Kleine …"

    Anselm wischte sich über die Stirn. „Dann gib ihm jetzt die Brust. Noch mal so eine Brüllerei und ich bin fertig."

    Kinder, stellte er fest, als er kurz drauf im Liegestuhl auf dem kleinen Balkon saß, brauchen eine feste Ordnung. Gedanken eines Spießers waren das, hätte er früher gedacht, nun musste er feststellen, dass doch etwas daran war. Aber nicht übertreiben dabei, dachte er, das bloß nicht. Ein richtiger Spießer, der fanatisch auf Ordnung achtete, wollte er auf keinen Fall werden.

    2

    2.

    Er war weit ins Sauerland hinein gefahren bis zum Arnsberger Wald. Dort hatte er lange nach einem abgelegenen Feldweg gesucht, wo er das Auto parken konnte. Es war wichtig, diesen Platz genau auszusuchen. Einerseits sollten möglichst wenige Leute den Wagen sehen, er musste ihn also so diskret wie möglich parken, andererseits durfte es nicht so wirken, als wollte er ihn verstecken. Dadurch würde er Spaziergängern, die sich an diesem warmen Samstag aufgemacht hatten, erst recht auffallen. Schließlich glaubte er, eine gute Lösung gefunden zu haben. Es war ein Feldweg in direkter Nähe zum Wald, gut hundert Meter entfernt von der Hauptstraße und vor allem nicht einsehbar von dort aus.

    Nach dem Aussteigen schaute er sich erst einmal um. Noch sah für einen Spaziergänger alles so aus, als wollte hier jemand eine kleine Verschnaufpause einlegen, um danach weiter zu fahren. Vor ihm glitzerte im Sonnenlicht das Roggenfeld, dessen Ähren sacht im Wind wogten. Hinter ihm stand eine Reihe Eichen, die den Wald begrenzten. Nein, es war niemand zu sehen, er war allein hier.

    Er öffnete die Heckklappe und holte die längliche Tasche heraus, dann ging er ein Stück den Feldweg entlang, bevor er in den Wald einbog. Die Sonne schimmerte durch das Blätterdach, so dass es sehr hell war. Genau richtig für seinen Plan.

    Weit ging er in den Wald hinein, sich immer wieder umblickend. Irgendwann sprang ein Reh aus dem Gebüsch, im ersten Moment war er zu Tode erschrocken, dann atmete er erleichtert auf und ging weiter. Dabei achtete er immer darauf, dass er die Orientierung nicht verlor. Es war wichtig, nachher auf schnellstem Wege zurück zum Auto zu finden.

    Aber er schaffte es, schließlich hatte er inzwischen Routine und wusste genau, worauf er achten musste. Endlich hatte er das Gefühl, weit genug vom Feldweg und von der Hauptstraße entfernt zu sein. Er blickte sich um. Nein, von hier aus konnte er nicht mehr gehört werden. Dahinten, der vermodernde Baumstamm, war ein gutes Ziel. Er zog die Handschuhe an, dann den Reißverschluss der Tasche auf und holte das Gewehr heraus. Es war geladen, er musste es nur entsichern, dann konnte er anfangen.

    Er kniff ein Auge zu und zielte auf eine Astgabelung am Stamm. Ein Schuss peitschte durch den Wald, er hob den Blick und merkte, dass er das Ziel verfehlt hatte. Wahrscheinlich nur knapp, aber genau konnte er das nicht feststellen.

    Vor dem zweiten Versuch ließ er sich Zeit und lauschte. Näherte sich jemand von irgendwoher? Vor ein paar Tagen, bei einem Versuch im Schwerter Wald, war plötzlich ein Mann aufgetaucht, mitten im Wald. Er hatte Gewehr und Tasche schnell in einem Gebüsch versteckt, hatte sich wie ein erschöpfter Wanderer auf einen Baumstamm gesetzt und den Mann vorbeigehen lassen. Der Mann hatte ihn nur angesehen, aber nichts gesagt. Nicht mal gegrüßt hatte er. Es war unklar gewesen, ob er etwas von den Schussversuchen mitbekommen hatte, deshalb hatte er das Gewehr im Gebüsch liegen lassen, als er zurück zum Auto gegangen war. Es war besser so gewesen. Wenn der Mann doch etwas mitbekommen und die Polizei informiert hätte, hätten sie ihm nichts nachweisen können. Nein, mit dem Gewehr im Gebüsch hätte er nichts zu tun, genau das hätte er ihnen dann erzählen können. Zur Not müsste er noch einmal zum Dortmunder Bahnhof fahren, hatte er gedacht, und sich ein neues Gewehr kaufen. Genau so, wie er sich dieses besorgt hatte.

    Ganz vorsichtig hatte er sich vor zwei Wochen bei herumlungernden Typen am Nordausgang erkundigt, wo man sich Waffen ansehen könne. Einer der Typen mit Borussen-T-shirt hatte gegrinst, weil er ihm das mit dem Ansehen nicht geglaubt hatte. Aber egal, was er geglaubt hatte oder nicht, Hauptsache er hatte ihn für ein paar Euro mit zwei Kosovaren bekannt gemacht. Die beiden hatten seelenruhig auf einer Bank auf einem Bahnsteig gesessen und ihn zuerst prüfend angesehen. Dann hatten sie sich sein Geld zeigen lassen, er hatte über tausend Euro eingesteckt, und ihn aufgefordert, ihnen unauffällig zu folgen. Durch die halbe Nordstadt war er hinter ihnen hergelaufen und hatte schon darüber nachgedacht, ob sie nicht etwas anderes mit ihm vorhatten als ihm ein Gewehr zu verkaufen, da waren die beiden in den Hinterhof eines Hauses an der Braunschweiger Straße verschwunden. Er hatte gezögert, aber dann war der eine der beiden zum Tor zurückgekehrt und hatte ihn herein gewunken. In einem dunklen Schuppen hatten sie ihm das Gewehr gezeigt, und er hatte gleich gemerkt, dass es völlig ausreichend war für seine Zwecke. Er hatte nicht lange mit den beiden verhandelt, er wollte weg aus diesem Hof, so schnell wie möglich, denn er traute ihnen nicht. Die beiden mit dem tief sitzenden Haaransatz und den Bartstoppeln im Gesicht machten einen verschlagenen Eindruck. Er hatte die knapp 700 Euro sofort bezahlt, sie hatten ihm das Gewehr in Pappe eingewickelt, so dass es aussah, als würde er einen Teppich tragen, dann hatte er fast fluchtartig den Hof verlassen.

    Die Sache war mehr für ihn gewesen als ein einfacher Waffenkauf, das hatte er schon damals gedacht. Er hatte gemerkt, dass sein Plan, der seit Monaten in ihm gereift war, den er immer neu bedacht hatte, anfing, Wirklichkeit zu werden.

    Es war aber nicht nötig gewesen, ein zweites Gewehr zu kaufen. Am anderen Tag war er zurückgegangen in den Wald und hatte sein Gewehr völlig unberührt im Gebüsch gefunden. Umso besser, denn er wollte nicht auffallen. Noch mal in Dortmund nach den Kosovaren zu suchen, ihnen noch mal zum Haus in der Braunschweiger Straße zu folgen, wäre auffällig.

    Er zielte noch mal, der Schuss hallte im Wald, die Astgabel zersplitterte. Na bitte, er war besser geworden. Ein völlig unerfahrener Schütze war er sowieso nicht, er hatte in seiner Jugend aus Spaß im Verein geschossen, aber seitdem nicht mehr geübt. Die frühere Erfahrung half ihm jetzt, sich schnell wieder einzufinden.

    Er machte keine langen Pausen mehr zwischen den Schüssen. Er zielte und drückte ab, der Baumstamm zeigte helle Wunden.

    Er musste fit sein, um seinen Plan durchzuführen, das war das einzige, was er in diesem Moment dachte. Er war sich sicher, dass es kein anderer tun würde, nur er selbst war dazu bereit. Warum eigentlich? Weil die anderen feige waren? Nein, das waren sie nicht. Nicht Feigheit hielt sie davon ab, das zu tun, was getan werden musste, sondern Blindheit. Sie bemerkten einfach nicht, was er so deutlich sah. Die Welt stand Kopf, alles war verkehrt, alles lief falsch. Aber das kapierten die Leute nicht, sie hatten sich längst an die falsche Sichtweise auf die Dinge gewöhnt. Besser gesagt, sie war ihnen eingetrichtert worden. Es war höchste Zeit, dass jemand das korrigierte, allerhöchste Zeit. Und der einzige, der das konnte, weil er alles richtig sah, war er. Nur er!

    Er lud durch und schoss wieder, in schnellerem Rhythmus, zielsicher. Auf dem Baumstamm zeichnete sich ein Fleckenmuster ab. Ja, er war so weit, es konnte losgehen. Endlich!

    3

    3.

    Bei der Betreuung des Kleinen hatte sich zwischen Anselm und Tanja eine Arbeitsteilung entwickelt. Pampers wechselte Anselm nur ungern, irgendwie schaffte er es nicht, seinen Ekel zu überwinden. Tanja hatte es gemerkt, ohne dass sie darüber sprechen mussten. Während sie den Kleinen puderte und wickelte, bereitete Anselm ihm die Flasche zu. Wasser warm machen, in die Plastikflasche füllen, Milchpulver hinzufügen, verschließen, durchschütteln und schließlich unter laufendem Wasser auf die richtige Temperatur abkühlen. Um das raus zu finden, hielt Anselm die Flasche von Zeit zu Zeit an die Wange und überprüfte so, ob die Milch noch zu warm war.

    Meistens war Tanja mit ihrem Teil der Arbeit schneller fertig. Dann kam sie mit Robin im Arm zu ihm und erzählte dem Kleinen, während sie neben ihm stand, wie toll sein Vater gelernt hätte, ihm eine Falsche zu kochen. Anselm verstand die Anspielung nur zu gut. Wochenlang hatte er sich während der Schwangerschaft schwer getan mit dem Gedanken, Vater zu werden. Zweierlei machte sie ihm mit dieser Anrede an den Kleinen klar. Einerseits machte sie sich lustig über ihn. Guck mal, davor hast du dich so gefürchtet. Ist das denn jetzt so schlimm? Andererseits schwang auch Respekt in ihren Worten mit. Wahrscheinlich hatte sie ihm diese Wandlung selber nicht zugetraut.

    Beim Reichen der Flasche wechselten sie sich ab, wobei Anselm diesen Teil der Arbeit gerne übernahm. Es machte ihm Freude zu sehen, wie der Kleine kräftig am Schnuller saugte, wie er zufrieden dabei die Augen schloss und seine Wangen einen leichten Rotschimmer bekamen. Manchmal glühten die Wangen auch, weil er sich beim Trinken so sehr angestrengt hatte, dass er völlig erschöpft war. Noch vor dem letzten Rest schlief er dann ein.

    Ihn dann sofort hinzulegen ging aber nicht. Auch das hatte Anselm inzwischen gelernt. Dann musste er ihn vorsichtig an sich drücken, mit ihm durchs Zimmer gehen und sanft auf den Rücken klopfen. Erst musste der Kleine sein Bäuerchen machen, wobei Bäuerchen manchmal eine unpassende Verniedlichung war. Robin konnte derart herzerfrischend rülpsen, dass Anselm glaubte, vor einem Dortmunder Kiosk zu stehen, wo einer von denen, die da immer rumstanden, einen kräftigen Schluck aus der Bierpulle genommen hatte. Das Geräusch, das man dann manchmal hören konnte, war so laut, dass sich selbst Passanten auf der anderen Straßenseite umdrehten. Am Dortmunder Kiosk störte es Anselm, bei Robin fand er es natürlich niedlich.

    „Hör mal Tanja, was für ein kräftiger Junge!", rief er dann.

    Manchmal kam auch Thomas, Tanjas inzwischen fünfzehnjähriger Sohn aus erster Ehe aus seinem Zimmer und bat darum, Robin die Flasche geben zu dürfen. Anselm hatte es zuerst nicht glauben wollen, als er es zum ersten Mal hörte. Thomas, der den halben Tag mit seinen bescheuerten Ballerspielen am Computer verbrachte, interessierte sich plötzlich für ein Baby. Nie und nimmer hätte Anselm das für möglich gehalten.

    Tanja freute sich über diesen Wunsch. Sie bat Thomas, sich auf das Sofa im Wohnzimmer zu setzen und zeigte ihm, wie er Baby

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