Zeit wie Wasser
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Buchvorschau
Zeit wie Wasser - Christiane Höhmann
Christiane Höhmann
Zeit wie Wasser
Roman
Für meine Mutter
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 9783865066060
© 2009 by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers
Einbandgestaltung: Brendow Verlag, Moers
Titelfoto: Getty Images
Satz: Satzstudio Winkens, Wegberg
www.brendow-verlag.de
Inhalt
Cover
Titel
Impressum
Zitate
TEIL I
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
TEIL II
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
Was du »Erlösung« nennst,
gehört in die Zeit vor dem Tod.
Kabir
»In jedem meiner Stücke bin ich bis jetzt
am Ende gestorben. Aber ich finde das einen sauberen Schluss.«
Gardi Hutter, die Clownerin
TEIL I
1
Mutter war tot. Weiß lag sie im Krankenhausbett, als er den Raum betrat, sie röchelte nicht mehr, lag nur da, die Hände auf der Decke.
»She passed away«, der englische Ausdruck traf es am besten. Die Worte stammten von einer Ansichtskarte, die er einmal aus England bekommen hatte. Die Karte war nicht für ihn bestimmt gewesen, sie sollte an einen Oliver Stein in der Nachbarschaft gehen, aber Henry konnte sie nicht wieder hergeben. Sie zeigte einen Kirchturm mit einer alten Uhr, über deren Zifferblatt stand: »For our time is a very shadow that passeth away.«
Man konnte es Mutter nicht übel nehmen, dass sie gegangen war, das sowieso nicht, dachte Henry.
Und heimlich war er froh, dass es nicht zu Hause in der Badewanne passiert war. Was hätte er machen sollen, wenn er sie, wie immer beim Baden, im Arm gehalten hätte und mit der freien Hand gewaschen und sie plötzlich ihren letzten Schnaufer gemacht hätte? Hätte er sie dann ins Wasser rutschen lassen müssen, bevor er den Stöpsel ziehen und das Wasser ablaufen lassen konnte? Oder hätte er um Hilfe rufen müssen, dabei warten, dass jemand die Haustür aufbrach, ins Badezimmer rannte und ihn da so knien sah, im Arm die nackte, tote Frau, die immer schwerer wurde? Es war schon gut so, wie es passiert war.
Mutters Haus war groß, er war mit eingezogen, als sie sich nichts mehr zu essen machte, und dann hatte er seine Arbeit bei einer Versicherungsgesellschaft aufgegeben.
»Du mit deiner Schafsgeduld, Henry«, hatte Wilhelm gesagt, »du machst das, bist außerdem der Jüngere.« Henry hatte ihn nur angesehen. Wie war das bloß möglich gewesen, dass Wilhelm ihn, Heinrich Brosche, einfach Henry nannte und dann sein Leben lang dabei blieb? Aber den Gefallen würde er ihm nicht tun, mehr als das Nötigste mit ihm zu reden oder ihn gar »Willi« zu nennen.
Der Umzug war kein großes Problem. Die wenigen Möbel, die sich Henry im Westen angeschafft hatte, ließ er einfach in seiner Wohnung stehen. Er nahm nur seine Bücher und Schallplatten und seinen Kleiderschrank samt Inhalt mit.
Ihm blieb sein Auto. Jeden Samstag nach dem Hausputz überprüfte er, ob noch alles funktionierte, ob der Wagen sauber und startbereit in der Garage stand, in der Woche träumte er, darin zu sitzen, mitten in der ruhigen, leicht nach Kunststoff riechenden Eleganz des Cockpits, er dachte an das Summen des Motors, wenn er ihn startete und sanft beschleunigte, und daran, wie er sich weich in die Kurven legte. Immer noch staunte Henry über den Luxus, den ein solches Gefährt in sein Leben brachte. Eigentlich hätte er auch jetzt das Auto regelmäßig bewegen können, Hella Schulze, die Nachbarin, bot ihm an, nach der Mutter zu schauen, aber er lehnte ab. Der Tag, an dem er an den See fahren würde, musste vorbereitet sein.
Als dann die Mutter aufhörte, nach ihm zu rufen und ihren Tee zu verlangen, wusste er, dass es bald so weit sein würde.
Der Tag nach der Beerdigung war ein Frühlingstag, sonnig mit kleinen Wolken, er sah die Cabrios vor den Häusern, die Nachbarn fingen an, die Erde in den Vorgärten aufzulockern.
Einige Zeit fuhr er die Landstraßen entlang, bemerkte neue Schnellstraßen auf Brücken und Fahrradwege an den Seitenrändern, Wälder, an die er sich nicht erinnerte.
Als die blasser werdende Sonne hoch stand, zögerte er an jeder Kreuzung: Sollte er umkehren? Aber hinter der nächsten Kurve musste der See sein, und er konnte doch jetzt nicht aufgeben. War das Wasser nicht schon zu riechen? Stieg ihm nicht schon eine Mischung aus Algen und trockenem Ufergras in die Nase?
Und dann war es so weit. Hinter der letzten Kurve breitete sich die spiegelnde Fläche vor ihm aus.
Henry hielt am Straßenrand und schluckte.
Hellgrünes Laub vor dem glitzernden Wasser, rotbraune Dächer, ein grauer Zwiebelturm, alles andere blau und glänzend, wasserblau, bergblau, himmelblau!
»Stadt am See« stand auf dem Schild. Er würde durch die Straßen schlendern und einen Kaffee trinken. Danach zur Uferpromenade. Kann man hier angeln? Früher war er an keinem Gewässer vorbeigegangen, ohne nachzuprüfen, welche Möglichkeiten zum Angeln es bot. Aber das war lange vorbei.
Den Ortskern wollte er nicht anfahren, er würde sein Auto gleich hier in einer der Siedlungen am Rand abstellen und den Fußweg in die Innenstadt suchen. Sorgfältig überprüfte er den Standort: kein Parkverbot, keine Parkuhr, Parkscheibe nicht erforderlich. Sein Auto hatte keine Zentralverriegelung, er stand einen Augenblick lang unschlüssig, während sein Blick den sauberen Seitenspiegel streifte, schloss noch einmal auf und nahm den Stockschirm von der Rücksitzbank. Wie lange hatte er diese Stadt schon besuchen wollen?
Hier gab es viele Cafés und einen Buchladen. Sorgfältig wählte er ein Buch aus, das mehr Fotos enthielt als Text. Lange hielt er es in den Händen und blätterte darin. Hier gab es Bücher, die auf keiner Bestsellerliste standen und auch nicht gerade erst erschienen waren.
In den letzten Jahren hätte er jedes von ihnen online bestellen können, aber das war ihm nicht möglich.
Er musste an Büchern riechen, um zu wissen, ob sie in sein Leben passten. Wenn er eines kaufte, hatte er heimlich Angst, es könnte so gut sein, dass er es mit niemandem teilen wollte. Es durfte von keinem anderen Menschen gelesen werden, es musste ganz und gar seines sein. Die Vorstellung, dass er mit dem Buch nicht alleine wäre, machte ihm den Kauf schwer.
Henry zahlte und steckte das Buch mit dem glänzenden blauen Umschlag in seine Jackentasche.
Als es zu regnen begann, ging er zum See. Durch den Regen roch es nach Wiesen, nach Kindersommern an der Elbe oder am Coswiger Weiher. Er bückte sich nach einem Steinchen, das über das Wasser schnellte. Hatte er das früher auch getan?
Plötzlich legte er den Schirm auf eine verlassen dastehende Bank an einem Spielplatz und lief ohne nachzudenken los. Seine Beine, die Füße, alles geriet in Bewegung. Er probierte, wie es war, mit den Armen zu schlenkern, im Takt der voranlaufenden Beine. Stehen bleiben und die Arme um sich werfen, bis es ihn schwindelte. Gut, dass ihn keiner so sehen konnte. Als sich sein Atem beruhigt und er das Gleichgewicht wiedergefunden hatte, gab es die Stadt nicht mehr, nur noch den Himmel und den See.
Plötzlich fing die Wasserfläche an, in sich zusammenzufallen, sie wurde kleiner, die Ränder unscharf. Henry erschrak. Es waren hundertzwanzig Kilometer bis nach Hause. Im Dunkeln zu fahren, hatte er verlernt.
Er drehte sich um und hastete auf die Häuser zu. Das Café, in dem er gesessen hatte, die Buchhandlung, die Drogerie an der Ecke. Alle Geschäfte geschlossen, die Straßen verlassen.
Dort, diesen Hügel hinauf musste er gehen, dann rechts in die Seitenstraße einbiegen. Oder links? Er keuchte. Der Berg war ihm nicht so steil in Erinnerung gewesen, der Regen wurde kalt.
Diese schmale, das musste die Straße sein, er ging sie hinauf und hinunter, trat mit letzter Kraft wieder auf die Bergstraße und bog nach rechts ab. Am Ende einer Gasse ließ sich Henry auf eine Bank fallen. Die stand heute Nachmittag noch nicht da, dachte er, nein, er war vorhin nicht hier gewesen, er war noch nie hier. Erschrocken schaute er auf die Uhr. Hier gab es einen Bahnhof, eine Eisenbahn oder S-Bahn, er wusste es nicht genau. Aber lange würde sie abends nicht fahren.
Er würde morgen wieder kommen und dann in Ruhe und ohne den Regen herausfinden, wo sein Auto stand. Henry hatte Glück. Der letzte Zug ging um acht Uhr, er würde eineinhalb Stunden später zu Hause sein. Im Abteil lehnte er sich an das Fenster. Bevor er einnickte, lauschte er auf die seltsame Melodie in seinem Inneren.
Am nächsten Tag war er gegen Mittag am See. Wilhelm hatte ihn am Telefon festgehalten, er wollte wissen, wann sie Mutters Möbel verteilen würden, »heute nicht, heute geht es nicht«, sagte Henry.
»Wann denn?«, Wilhelm wurde aggressiv.
»Ich rufe dich an.«
Das hatte ihn zwei Stunden gekostet, der erste Zug wäre um acht gegangen, der zweite um zehn.
Auf den See war neues Licht gefallen.
Bataillone von Schaum, kein Schiff, dachte Henry. Und: Ich muss mir einen Stadtplan besorgen.
Nach wenigen Wochen kannte er fast alle Straßen der Stadt am See, die Geschäftsleute grüßten ihn auf dem kurzen Weg vom Bahnhof, wenn er an den Schaufenstern vorbeikam. An der Uferpromenade setzte er sich auf die Bank neben seinen Schirm und breitete den Stadtplan aus. Ein neues Wohngebiet würde er sich heute ansehen, diesmal das auf der rechten Seite der Ortseinfahrt.
»Was machst du da?«, hatten die Kinder am Anfang geschrien, trampelnde Füße und tanzende Rucksäcke vor seinen Augen, und er hatte stumm auf seine Karte gedeutet. Dann hatte er ihnen zugeschaut. Die Schaukel auf dem Spielplatz quietschte bei jedem Auf_ und Abschwingen. Meistens saß Franz auf der Schaukel, wenn sie zu quietschen begann. Um halb eins, wenn die junge Frau vom Kiosk ihn hineinrief, verlor das Quietschen den Takt, Füße schleiften durch die Pfützen am Boden, kleine Hände rutschten die Seile hinunter.
Nach vier Wochen musste sich Henry eine Monatskarte für die Bahn besorgen, das Geld wurde knapp. Niemand hatte sein Auto gesehen oder davon gehört.
Im Kaffeegeschäft an der Promenade kaufte er sich um die Mittagszeit einen Kakao, beim Bäcker, der um eins schloss, ein Brötchen. Von Tag zu Tag wurde es heißer und bewegten sich die Kinder weiter vom Spielplatz weg in Richtung Seeufer. Dort gab es die schönsten Steine.
Wilhelm hatte Mutters Haus leer geräumt. Er war in Henrys Abwesenheit hineingegangen und hatte sich den Kleiderschrank und das Esszimmer genommen. Auch Mutters Bett.
Das Grün der Bäume war einem erschöpften Mattgold gewichen, als Henry zum letzten Mal auf der Bank saß.
Ich muss dem See nur nahe genug kommen, dachte er. So nahe, dass dieser nicht mehr schweigen will.
In der letzten Nacht hatte er wieder einen Traum gehabt. Aber diesmal hatte er nicht von Mutter geträumt, sondern von dem kleinen Jungen, der wie immer auf der Schaukel saß. Plötzlich wurde das Quietschen leiser, das leere Brett schwang auf und ab, der Junge stand auf dem Badesteg. Er legte ein Bein auf das Geländer, das den Steg sicherte. Mühelos zog er seinen Körper nach und hielt sich mit beiden Händen an der Reling fest. Er schaute nach unten und schwankte. Vor und zurück. War es ein Spiel? Endlich sprang Henry auf. Den Blick auf den Boden, lief er, lief am Ufer weiter und weiter. Er hielt nicht an. Er zog den Jungen nicht zurück.
Das passiert mir nicht noch einmal, dachte er, als er aufwachte, noch einmal renne ich nicht weg. Diesen Jungen werde ich nicht verlieren.
Sein Auto fand sich am toten Ende einer kleinen Stichstraße, nicht weit vom Ortseingang entfernt. Ein Anwohner hatte sich bei der Stadt über den Dauerparker beschwert, einen grünen Astra mit schwarzen Sitzen.
Der Mitarbeiter des Ordnungsamts, dessen wichtigste Aufgabe es in diesem Sommer war, den Halter des Wagens zu ermitteln, fand Henry und Franz am Seeufer. Sie standen im Wasser und warfen Steinchen über die glitzernde Fläche.
2
An dem Morgen, als sein Auto wieder in der Garage stand, ging Henry zum Friedhof, in der Hand Mutters kleine Messingkanne.
Die bescheuerten Friedhöfe liegen immer im Schatten, dachte er