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Der Auftrag
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eBook393 Seiten5 Stunden

Der Auftrag

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Über dieses E-Book

Schon als Junge hat Ferry herausgefunden, dass ein bestimmtes Zimmer im Haus mit etwas Fantasie zu einer Raumkapsel wird, mit welcher er in eine erdähnliche Parallelwelt fliegen kann. In der fremden Welt begegnet er anderen Menschen, die ebenfalls die Fähigkeit besitzen, in diese Welt zu reisen. Doch die Erdlinge sind nicht die alleinigen Besucher dieser Welt: graue Aliens führen einen erbitterten Kampf gegen das menschliche Corps um die Vorherrschaft in der Parallelwelt. Ferry schliesst sich dem Corps an und wird mit den Jahren zum gefeierten Commander. Bis ein unerwarteter Vorfall seine Weltanschauung über den Haufen wirft und sein Leben komplett verändert… Nun ist Ex-Commander Ferry Black im Zwangs-Ruhestand und führt ein kleines Bistro in Zürich. Bis zu dem Tag, als ihn eine kryptische Nachricht von seinem früheren Vorgesetzten Master Paris erreicht…
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum14. Nov. 2017
ISBN9783742767912
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    Buchvorschau

    Der Auftrag - Ralf Wider

    Kapitel 1 - Die Nachricht

    Ferry brauchte eine Toilette. Dringend.

    Er schaute sich um, die Stirn in Falten gelegt und schüttelte langsam den Kopf. Nein, hier gab es nichts Passendes.

    Wäre er doch nur nach Hause gegangen! Die Toilette in seiner kleinen Wohnung war perfekt: etwas altmodisch zwar, nicht sehr gross, aber gemütlich und vertraut. Alles lag an dem Platz, wo es hingehörte, alles war aufgefüllt… Ausserdem roch seine Toilette gut, dank einem Duftständer mit Amber-Essenz.

    Noch einmal drehte er sich im Kreis und musterte die umliegenden Gebäude mit skeptischem Blick: Kaufhäuser, Schnellimbiss, Juweliere, Designerboutiquen… Die Lippen zusammengepresst, schnaubte er frustriert durch die Nase.

    Er kannte die Art Toiletten, die er hier finden würde: winzige Kabuffe, miese Hygiene, schlecht schliessende Türen, kaputte Schlösser. Und kein Handwaschbecken in der Kabine… Wieso hatte er unbedingt einen Spaziergang in der Stadt machen müssen?

    Er atmete tief durch und versuchte, sich zu beruhigen. Er war spazierengegangen, weil es ein prachtvoller Frühlingstag war. Weil er frische Luft brauchte. Und vor allem, weil er sonst nichts zu tun hatte… Er hatte ja nicht wissen können, dass er gerade heute eine Nachricht aus dem Hauptquartier bekommen würde. Wie auch? Nach drei Jahren der Funkstille!

    Das änderte jedoch nichts an seiner Situation: er brauchte eine Toilette! So schnell wie möglich!

    Er blickte nachdenklich die Zürcher Bahnhofstrasse hinunter, in Richtung des Zürichsees. Sollte er diesen Weg wählen? Er stand an der Pestalozzianlage, also schon recht nahe am Bahnhof. Er könnte das Tram nehmen und wäre im Nu am Paradeplatz… von dort wären es nur ein paar Schritte bis zur Nationalbank… Nein. Das Hauptquartier wäre natürlich die naheliegende Idee, doch… Nein! Er hatte keine Lust, dorthin zu gehen. Auch wenn sie ihn angepiepst hatten. Er fühlte sich dazu noch nicht bereit. Erst musste erst Klarheit haben, worum es überhaupt ging, und wie er dazu stand.

    Ferry drehte sich langsam um und schaute an dem grossen Kaufhaus vorbei. Dahinter lag der Löwenplatz und nochmals dahinter die Gessnerbrücke. Dahinter begann der Kreis 4, wo sich sein Bistro befand. Er nickte, um seine Entscheidung zu untermauern. Ja, diese Toilette würde genügen. Er setzte sich in Bewegung.

    Die Gedanken wirbelten in seinem Kopf. Central Command - das Hauptquartier - hatte ihn angepiepst. Was sollte das? Er war nicht mehr im Corps! Er war Reservist. Nein, nicht Reservist, korrigierte er seine Gedanken und wich einer Gruppe von asiatischen Touristen aus. Er war rausgeschmissen worden. Er war Alteisen. In der Truppe von heute war er vermutlich nicht mehr als ein Mythos, eine verblassende Legende… Er beschleunigte seinen Schritt auf infanteristische Marschgeschwindigkeit. Im Kopf überschlug er, wie lange er bis zu seinem Bistro brauchen würde. Sieben bis acht Minuten, kalkulierte er. Maximum zehn, das kam auf die Ampeln an.

    Ferry gehörte nicht zu den Leuten, die bei Rot über die Strasse liefen. Das widerstrebte ihm. Es gab in dieser Stadt genug Idioten, fand er, die rote Ampeln ignorierten und wie kopflose Hühner und Gockel gackernd über die Strasse rannten, das Mobiltelefon am Ohr oder vor der Nase, den Rest der Welt ausblendend. Welch egoistische Ignoranz.

    Ein Fahrrad schoss dicht an ihm vorbei, mitten auf dem Gehsteig, kam scheinbar aus dem Nichts, und verschwand sofort wieder im dichten Verkehr, vom Trottoir runter, ein Stück die Strasse hinab, quer über die Kreuzung… Haken schlagend zwischen Fussgängern und Autos wie ein Hase auf der Flucht. Nur Zentimeter hatten gefehlt, und der Radfahrer hätte ihn umgefahren! Ferry starrte dem Verkehrssünder wütend hinterher: ja, DIE hasste er ganz besonders…! Die Radfahrer in der Stadt Zürich setzten sich bewusst über jegliche Verkehrsordnung hinweg, sie gefährdeten dabei sich und andere, jegliche soziale Norm bewusst beiseite stossend.

    Arschloch!, knurrte Ferry zwischen zusammengebissenen Zähnen. Er löste den Blick von dem Punkt im Gewusel der Strasse, wo der Radfahrer verschwunden war und liess ihn hinunter zum Wasser gleiten: er war am Schanzengraben angekommen, einem kleinen Kanal entlang der ehemaligen Stadtgrenze.

    Er stellte sich ans Geländer der kleinen Brücke die darüber führte, legte schwer die Hände darauf und atmete zweimal tief durch. Er spürte den Stadtstaub und die Pollen auf dem Geländer unter seinen Händen. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen, als er seinen Blick unter sich aufs Wasser lenkte und einen Punkt im Nirgendwo fixierte. Zwischen den Brauen entstand eine senkrechte, hohe Falte.

    Irgendwie bewunderte er diese irren Radfahrer auch… vor allem die Fahrrad-Kuriere. Sie erinnerten ihn an sich selbst. Wenn er in seiner Flugkapsel sass, war er genauso wie sie… Dann kannte er auch keine Geschwindigkeitsgrenzen, keine Regeln, keine Konventionen. Er flog immer am Limit, erlaubt war, was technisch möglich war…

    Also war er wohl auch ein Arschloch… schloss er konsequenterweise. Für einen Moment trat ein schiefes Grinsen auf sein Gesicht, doch es verflüchtigte sich schnell wieder. Der Vergleich hinkte: wo Ferry flog, da gab es keine Zivilisten, keine anderen Verkehrsteilnehmer. Dort gab es nur ein paar Menschen, die einmal seine Freunde gewesen waren… und Graue…

    Er hob den Blick und schaute hinüber zur nahegelegenen Gessnerbrücke. Kurz dahinter lag das Bistro mit der Toilette… Plötzlich war sich der ehemalige Commander nicht mehr sicher, ob er so dringend eine Toilette brauchte… Was er brauchte, war Klarheit. Zuerst musste er seine Gedanken ordnen, dann erst würde er bereit sein für den nächsten Schritt.

    Er überquerte die Strasse bei Grün und gelangte zur Sihl, dem kleineren Fluss der Stadt, der parallel zum Kanal lief. Gleich neben der Brücke, die darüber führte, hatte man mit grossen Steinquadern eine Art Riesentreppe gebaut. Sie sollte wohl den Hang befestigen, diente aber den meisten Leuten einfach als prima Terrasse um sich hinzusetzen, auf den Fluss zu schauen, die Nase in die Sonne zu halten und mitten in der Stadt kurz durchzuatmen. Bei schönem Wetter waren die Stufen um die Mittagszeit voll mit Leuten, die ihren Salat, ihr Müsli, einen Döner oder ein überteuertes und unterkühltes Sandwich assen und die Sonne anbeteten.

    Ferry sprang einige Treppenstufen hinunter und setzte sich. Aus der linken Tasche seiner schwarzen Windjacke holte er ein Päckchen Parisienne heraus, der traditionellen Schweizer Zigarettenmarke. Es waren die orangefarbenen, mittelstark. Aus der rechten Tasche seiner Jeans grub er sein Zippo-Feuerzeug hervor. Er fischte sich eine Zigarette aus der Box und zündete sie an. Er musste zweimal am Rad des Feuerzeugs drehen, bis die Flamme entstand. Er musste bald Benzin nachfüllen, machte er sich eine geistige Notiz.

    Langsam sog er den Rauch in seine Lungen, um ihn dann mit einem langen Seufzer wieder auszuatmen. Der erste Zug roch immer nach Benzin. Wahrscheinlich war das noch schädlicher, als rauchen sowieso schon war. Doch das störte ihn nicht. Das Zippo gehörte dazu, es war Ritual, es war eine kleine, persönliche Kostbarkeit. An den Schweisspunkten am Rücken des Feuerzeugs konnte man sehen, dass es mehrmals repariert hatte werden müssen. Aber dafür gab es ja die lebenslange Garantie von Zippo.

    Das Sturmfeuerzeug war aus poliertem Chromstahl und trug den eingravierten Schriftzug San Francisco unter dem Bild einer stilisierten Golden Gate Bridge. Die Kratzer auf der glatten Oberfläche und die vielen, kleinen Dellen an den gerundeten Kanten zeugten davon, dass er es schon viele Jahre bei sich trug. Er hatte es an der Fisherman's Wharf gekauft, in einem kleinen Souvenirladen unweit des berühmten Pier 39. Ferry liebte diese Stadt. Er war in San Francisco stationiert gewesen, als Jungpilot, an der Flugakademie. Meist waren sie zwar im Hinterland gewesen, in der Wüste von Nevada oder südlich von Death Valley, auf dem Stützpunkt der Navy in Searles Valley. Doch wenn Sie Freigang hatten, waren Ferry und seine Kameraden immer in die Stadt gefahren. Das war lange her…

    Er drehte das Zippo gedankenverloren zwischen den Fingern, wog es in der Hand. Es war kühl und schwer und vertraut. Er steckte es zurück in seine Jeans. Er inhalierte lang und langsam, dabei verengten sich seine Augen immer zu Schlitzen. Er klopfte die Asche ab. Zog noch einmal. Seine Gedanken wanderten zurück zu der kryptischen Nachricht, die er vor einigen Minuten erhalten hatte…

    In seinem Innenohr hatte es gepiepst und Ferry war erschrocken. Seit er nicht mehr bei der Truppe war, hatte der Funksender in seinem Ohr geschwiegen und er hatte nicht damit gerechnet, ihn jemals wieder zu hören. Das ehemals vertraute Signal bedeutete, dass jemand von der Kommandozentrale ihn zu erreichen versuchte.

    Wäre er ein x-beliebiges Mitglied des Corps gewesen, hätte er die Nachricht sofort gehört. Die Stimme wäre direkt in seinem Kopf gewesen und hätte zu ihm gesprochen. Doch Ferry hatte mit Hilfe einer eigenen kleinen Erfindung einen Weg gefunden, die direkte Sprechkommunikation zu blockieren: schon vor langer Zeit hatte er sich einen Empfangs-Blocker aus µ-Metall gebaut, sehr zum Leidwesen seiner Vorgesetzten.

    µ-Metall, auch Permalloy genannt, ist eine Nickel-Eisen-Legierung und dient zur Abschirmung niederfrequenter Magnetfelder. Ferry hatte sich einen Ohrring daraus gebaut, den er am linken Ohr trug. Da er Rechtshänder war, befand sich sein Wernicke-Zentrum, das sensorische Sprachzentrum im Hirn, ebenfalls links. Das implantierte Kommunikations-Modul des Corps sass im Wernicke-Zentrum und war damit so nahe am Ohrring, dass es abgeschirmt werden konnte. Wollte Ferry uneingeschränkte Kommunikation, so brauchte er nur den im quadratischen µ-Metall eingefassten Diamanten zu drücken. Dieser löste einen winzigen Hebel-Vorgang aus, der mechanischen Druck auf das umliegende Metall ausübte und es im Nanometerbereich stauchte. Die Permeabilität des Permalloys verringerte sich damit so drastisch, dass die Abschirmung zusammenbrach. Löste er den Druck durch erneutes Drücken des Diamanten, so erhöhte sich die Permeabilität sofort wieder und schirmte das Signal ab. Die Stärke des Abschirmungsfeldes war so berechnet, dass sie genau reichte, um den Funkspruch zu unterdrücken, jedoch registrierte das Modul im Sprachzentrum ein kaum wahrnehmbares Signal - wie eine winzige Amplitude im analogen Radio - und wandelte es in einen digitalen Piepston um. Und nun hatte es gepiepst.

    Master Paris hatte Ferry persönlich angefunkt, und das kam nur selten vor. Nein, eigentlich kam es gar nie vor.

    Wenn der Leiter der Parallel 1 Armed Forces ihn anrief, bedeutete das nichts Gutes. Sicherlich keine Einladung zu Kaffee und Kuchen, um über die alten Zeiten zu plaudern. Paris musste verzweifelt sein, wenn er gerade ihn anfunkte. Nur deshalb hatte Ferry den Anruf abgehört.

    Paris hatte eine Voicemail hinterlassen - noch etwas, das nie vorkam. Normalerweise liess er das Schichtpersonal in der Zentrale eine Text-Message schicken. Seine Stimme hatte geklungen wie immer… tief, sachlich, scheinbar emotionslos und extrem autoritär, ohne dabei diesen militärischen Brüll-Klang einzunehmen:

    Commander Black, Sie fliegen einen Solo-Einsatz. Search and Rescue. Squad Leader MIA. Full Armour. Startfreigabe sofort. Zielkoordinaten finden Sie in Ihrem Briefing-File. Das ist SL-1.

    Das war alles gewesen. Und deshalb brauchte Ferry jetzt eine Toilette.

    Er schloss die Augen und liess den Kopf nach links und nach rechts fallen, um die Gelenkkapseln der Halswirbel knacken zu lassen. Das entspannte ihn und half ihm, nachzudenken.

    Startfreigabe sofort, hatte Paris gesagt. Das bedeutete, dass es eilig war… Ein ungutes Gefühl breitete sich in Ferrys Magengegend aus.

    Sofort hiess für die Squad on duty, die diensthabende Flugrotte, in weniger als drei Minuten in den Flugmaschinen…. Er würde länger brauchen, aber das war in Ordnung, fand er, schliesslich war er nicht on duty… Wieso also dieses Drängen zur Eile?

    Der Ex-Commander der P1AF atmete tief durch. Ja, er war so was von off duty wie es nur möglich war… Man hatte ihn rausgeworfen, vor über drei Jahren… Nach dem Vorfall, über den er nicht sprach… Oder anders gesagt: was vorgefallen war, hatte ihn dazu bewogen, sich so saublöd zu benehmen, dass sie ihn hatten rausschmeissen müssen… Insubordination. Zwanghafter Einzelgänger. Eine Gefahr für sich und andere. Unkontrollierbar. Unzuverlässig. Für das Corps nicht länger tragbar... All das tauchte in dem über fünfzig Seiten langen psychologischen Profil auf, das die Kurz-Schwestern, die Psychologinnen des Corps, erstellt hatten und das zu seiner Entlassung geführt hatte. Trotz der heftigen Verfehlungen hatte der Ältestenrat ihn jedoch nicht unehrenhaft entlassen, was durchaus angebracht gewesen wäre, sondern ihn zum Reservisten gemacht. Damit hatte er sogar Anrecht auf eine kleine Rente.

    Konnte es sein, dass Paris ihn aus der Reserve zurückholen wollte in den aktiven Dienst? Ferry schüttelte ungläubig den Kopf. Unfokussiert wanderte sein Blick den Fluss hoch.

    Er war in den vergangenen Jahren ab und zu hiergewesen mit seinem IFO, dem individuellen Flug-Objekt. War am grasbewachsenen Flussufer eine kurze Runde flussaufwärts geflogen und wieder zurück. Einfach, um in Übung zu bleiben. Auch, um sich selbst zu vergewissern, dass er es noch konnte. Und er konnte es noch. Es war wie immer gewesen. Lediglich den Funk und die Navigationsgeräte hatte er ausgeschaltet, flog quasi im Blindflug, auf Sicht. Aber das reichte völlig für die paar hundert Meter den Fluss hoch, Kehrtwende und wieder zurück.

    Natürlich war er nicht HIER geflogen, vor all den Menschen, die hier herumwuselten. Das wäre gar nicht möglich gewesen. Auf der Erde, im Fachjargon des Corps Parallelwelt 0, oder kurz P0, genannt, gab es zu wenig Energie, um ein IFO entstehen zu lassen oder damit zu fliegen. Er war an diesem Ort geflogen in der Parallelwelt 1, kurz P1.

    Die Sihl gab es in P1 genauso. Das Gras am Flussufer war nicht so schön grün, doch ansonsten war die Landschaft identisch. Nur dass hinter dem Fluss kein Zürich lag. Es gab keine Stadt in P1. Es gab gar nichts Menschgemachtes in P1, nur eine Art Platzhalter für Dinge, die es in P0, unserer Welt, gab. Wo auf der Erde ein Haus stand, fand sich in P1 nur ein grauer Quader. Ähnlich einem klotzartigen Rohbau, innen hohl und komplett ohne Leben, aussen glatte, strukturlose Wände. Reine Fassade.

    In der Parallelwelt P1 sah Zürich aus, wie ein nicht fertig programmiertes Computerspiel, das auf einem veralteten Computer mit ungenügender Grafikkarte gespielt wurde.

    Ferry hatte aufgeraucht, drehte die Zigarette auf dem feuchten Boden aus, vergewisserte sich mit den Fingerspitzen von Zeigefinger und Daumen, dass sie nicht mehr glomm und steckte sie in eine kleine Blechbox, die er zu diesem Zweck immer bei sich trug.

    Er schüttelte sich, um die Gedanken an das Früher zu vertreiben. Er musste fokussieren, auf das Hier und Jetzt. Er musste die Nachricht noch einmal abhören, denn er konnte noch immer nicht fassen, was Paris ihm mitgeteilt hatte.

    Um die Nachricht abzuhören, brauchte Ferry nur ein einfaches Hilfsgerät. Grundsätzlich funktionierte fast jedes elektronische Gerät oder auch ein mechanisches Gerät mit einem Quarz für die Kommunikation mit der Zentrale. Ferry hatte sich vor langer Zeit für die Quarz-Variante entschieden. Seine Armbanduhr war sein Funkempfänger, sozusagen. Seine Certina DS Chronograph Titanium war schon ziemlich zerschlissen, und um die Zeit abzulesen, brauchte Ferry sie schon lange nicht mehr. Die Batterie war leer. Doch die brauchte es gar nicht, um Kontakt aufzunehmen. Die trigonale kristalline Struktur des Quarzes wurde durch die Frequenzschwingung des Senders angeregt und mit genügend Energie geladen, um eine gesprochene oder getextete Nachricht zu speichern. Da seine Certina ein Saphirglas hatte, welches ebenfalls eine trigonale Struktur aufweist, verhielt sich das Uhrenglas wie ein LCD-Display mit Touchscreen-Funktion.

    Er schaute auf die Uhr an seinem linken Handgelenk. Warum trug er sie eigentlich noch? Hatte er nicht längst abgeschlossen mit dieser Etappe in seinem Leben? Hatte er unterbewusst gehofft, dass man ihn kontaktieren würde, dass man ihn aus seinem tristen Reservisten-Dasein zurückholen würde?

    Als man Ferry vor langer Zeit erklärt hatte, worum es sich bei dieser Truppe handelte, hatte er sich dem P1-Corps sofort angeschlossen, und davon war er nicht wegzubringen gewesen. Bis zu dem Tag, als sich vieles änderte, der Tag, an den er nicht denken wollte…

    Trotzdem fühlte er sich noch immer als ein Teil des Corps. Es dämmerte ihm, dass er wohl noch immer nicht ganz mit seinem früheren Leben als Kampfpilot abgeschlossen hatte. Ja, er musste es sich selbst eingestehen, mit einem wehmütigen Blick auf seine Certina, er war immer noch neugierig, hungrig auf Informationen aus dem Corps. Er hatte diese Spezialeinheit immer als eine Art Familie angeschaut, die Mitglieder der Truppe waren Gleichgesinnte, Verbündete, sie verstanden ihn mit seinen speziellen Begabungen und er verstand sie. Das Zusammengehörigkeitsgefühl war immer sehr gross gewesen. Sie waren eine eingeschworene Gruppe von Spezialisten gewesen, die etwas gemeinsam hatten, was andere Menschen nicht hatten. Und war es denn nicht völlig natürlich, sich um seine Familie zu kümmern, sich um sie zu sorgen, wissen zu wollen, wie es seinen Nächsten und Liebsten ging? Seine Nächsten und Liebsten… bei diesem Gedanken bohrte sich ein Dolch aus eiskaltem Stahl in sein Herz. Seine Liebste…

    Ex-Commander Ferry Black schloss die Augen in Agonie. Er zwang sich, den Gedanken aus seinem Bewusstsein zu vertreiben, diesen Gedanken, der in den tiefen, dunklen Windungen seines Unterbewusstseins lauerte, jederzeit bereit, aufzutauchen und ihn zu peinigen. Der Gedanke an… Er drückte sich die Handballen an die Schläfen und stiess die angehaltene Luft stossartig aus. Nein! Fokussieren… die Nachricht!

    Er hatte der Truppe ewige Treue geschworen als er in die Fliegerakademie eingetreten war, und ewig hiess für immer. Langsam öffnete er die Augen und blinzelte. Dann zündete er sich noch eine Zigarette an und tippte mit dem Zeigefinger das Saphirglas seiner Uhr an.

    Das Symbol der Einheit leuchtete auf: zwei waagerechte, parallele Linien, von denen die obere in der Mitte eine Delle nach unten aufwies und die untere Linie berührte: das Symbol für die zwei parallelen Welten, in der sich das Corps bewegte. Die obere Linie war silbergrau, die untere azurblau. Unter den Linien lagen, halbtransparent wie ein Wasserzeichen, die zwei gekreuzten goldenen Schwerter der Armed Forces.

    Er schob das Logo mit der Fingerspitze weg und tippte das Symbol für Sprachnachrichten an. 1 gespeicherte Nachricht, Dauer 12,22 Sekunden. Er tippte die Nachricht an, die Uhr koppelte sich mit dem Empfänger in seinem Kopf und er hörte Paris' Stimme, klar und deutlich.

    Irgend etwas beunruhigte ihn, verursachte ein Flirren in seinem Kopf und einen mulmigen Knoten in seinen Eingeweiden. Er konnte noch nicht den Finger drauflegen, wusste nicht, was es war, das ihn irritierte. Er hörte die Nachricht noch einmal ab.

    Master Paris, sein ehemaliger Vorgesetzter, sprach ihn mit Commander Black an. Allein diese Anrede sprach Bände. So hatte ihn seit Jahren niemand mehr genannt. Er war offiziell in der Reserve. Commander war er gewesen, als er aus dem aktiven Dienst im Corps ausgetreten war. Commander hatte ihn Paris früher nur genannt, wenn es hochoffiziell war oder wenn Paris - was häufiger der Fall war - total angepisst war, weil Ferry wieder mal Schrott gebaut hatte.

    Dass Paris ihn jetzt mit seinem formellen Titel ansprach, bewies, dass er ihn genau in dieser Funktion brauchte. Als aktiven Commander der P1AF, der Parallel 1 Armed Forces.

    Diese Anrede besagte eigentlich, dass er ab sofort wieder den aktiven Dienstgrad bekleidete, seine Kompetenzen zurückhatte, die man ihm genommen hatte. Ferry glaubte, auch einen gewissen Respekt in Paris Stimme mitschwingen zu hören, Respekt, den man sich als verdienter Offizier erarbeitet hatte, aber vielleicht bildete er sich das nur ein?

    Er musste sich eingestehen, dass es gut tat, seinen ehemaligen Titel wieder zu hören. Commander Black… Als Jungpilot war er der schwarzen Staffel zugeteilt worden. Später war er Squad Leader geworden, Staffelführer. Er hätte wechseln können, irgendeine Staffel übernehmen, doch er wählte die schwarze Staffel. Als er zum Commander befördert worden war, hätte er automatisch die silberweisse Uniform mit den goldenen Abzeichen bekommen, doch er behielt die schwarze Uniform an, genau wie auch sein schwarzes Halstuch. Da niemand die Leitung der schwarzen Staffel übernehmen wollte, flog er weiterhin Einsätze als Squad Leader, obwohl er das im Rang eines Commanders nicht mehr gemusst hätte. Als Commander unterstanden ihm vier Staffeln, die er aus der Zentrale hätte anweisen können, doch Ferry zog es vor, mit seinen Leuten zu fliegen, Seite an Seite. Die lange Tradition bei der Black Squad, seine Verbissenheit, mit der er die Truppe immer wieder aufbaute und neu formierte, nachdem sie so viele Male zerschlagen worden war, hatte ihm den Beinamen Black ganz natürlich beigebracht.

    Ein ulkiger Nebeneffekt war, dass er eigentlich Ferdinand Schwarz hiess. Da es sich beim Corps um eine sehr internationale Truppe handelte, hatte man sich auf die Einheitssprache Englisch geeinigt. Englisch konnten alle, mehr oder weniger, doch es war verständlich im Funkverkehr, jahrzehntelang erprobt in der zivilen Luftfahrt. Schwarz als Name war hingegen gänzlich ungeeignet für den Funkverkehr: die Amis sprachen es aus wie Schworrzz, die Franzosen wie Schwaachz, die Spanier E-swarss, die Deutschen wie Schwaatz. Alles in allem klang es immer wie ein Rauschen im Radio, eine Frequenzstörung. Es war naheliegend gewesen, Black als Name anzunehmen und das Schwarz zu begraben.

    So ganz im Kontrast zur offiziellen Anrede war die nächste Aussage der Nachricht gewesen: … Sie fliegen einen Solo-Einsatz… Ein Solo-Einsatz? Für einen Commander? Ein Commander flog generell nie allein, das verboten die Regeln. Die Sicherheit eines Commanders war immer durch die Anwesenheit mindestens einer Flugstaffel zu gewährleisten. Auch für die Kampfpiloten der Staffeln galt, dass sie in aller Regel mindestens in Zweiertrupps unterwegs sein mussten, sei es auf Patrouille oder im Gefecht. Keine Flugbewegung ohne Wingman! Ausnahmen gab es nur selten, bei unbedeutenden Aufklärungsflügen und… geheimen Missionen. Aufklärung fiel weg, demnach war klar, dass es sich um eine geheime Mission handeln musste... Aber wieso er? Ferry verstand das nicht, das ging irgendwie nicht auf. Wieso kurbelte Paris die ganze bürokratische Maschinerie an, die es mit sich brachte, wenn er Ferry wieder in den aktiven Dienst des Corps aufnahm? Es musste mehr dahinter stecken. Das miese Gefühl in seinem Inneren verdichtete sich.

    Er würde die Zielkoordinaten abwarten müssen. Vielleicht würden diese ihm mehr Hinweise auf die Art des Einsatzes liefern…

    … Search and Rescue. Squad Leader MIA…. Das war typischer Militärjargon, geprägt von den Amerikanern im Corps. Sie hatten beim Entstehen des internationalen Corps darauf bestanden, die uneingeschränkte Leitung zu übernehmen. Sie hatten weitreichende militärische Erfahrung, hatten die Mittel - woher auch immer - und die geheimen Einrichtungen. Doch die Gegenwehr der Abgeordneten aus anderen Ländern und Kontinenten war massiv gewesen. Nach wochenlangen, zähen Verhandlungen hatte man sich darauf geeinigt, Englisch als Einheitssprache zu definieren, doch die Führung sollte nicht einer Nation vorbehalten sein, sondern aus den Besten ihres Fachs bestehen, unabhängig davon, woher sie stammten. Die Führungszentrale, Central Command, hatte man bewusst in neutrales Gebiet legen wollen, um nicht alte Ost-West-Streitigkeiten aufkommen zu lassen.

    Zur Auswahl hatten Auckland und Zürich gestanden. Doch am Ende gab die Nähe zum CERN in Genf den Ausschlag zugunsten von Zürich. Die Top-Physiker der Welt waren dort vereinigt und forschten mehrheitlich in genau dem Bereich, der für das Parallel Corps wichtig war: Dunkle Energie und Dunkle Materie. Eine geheime Zweigstelle des CERN arbeitete ausschliesslich für das Corps, sie unterstanden dem P1ST, dem Parallel 1 Science & Technology Departement. Man hatte erwogen, einen zweiten Teilchenbeschleuniger in Auckland zu bauen, doch die überaus aktive Tektonik am Pacific Ring of Fire und die daraus resultierende vulkanische Tätigkeit in Neuseeland waren einfach zu unberechenbar, respektive ein zu grosses Sicherheitsrisiko.

    Search and Rescue - Suchen und Retten. Squad Leader MIA - Staffelführer Missing in Action, also bei einem Einsatz verschollen... Das war nicht gut. Abschüsse kamen vor, manchmal konnten sich die Piloten dabei retten, manchmal nicht. Opfer gab es leider immer wieder. Vermisstmeldungen waren hingegen selten. Wenn man in der Gruppe flog, hatte man die Kameraden immer auf dem Schirm, auch wenn sie abgeschossen wurden und manövrierunfähig waren. In diesem Fall versuchte die Staffel um jeden Preis, den Absturzort zu sichern und zu halten, bis der Kamerad gerettet oder geborgen war. Wenn jemand verlorenging, musste er oder sie sich von der Gruppe entfernt haben. Auch das konnte vorkommen, dass ein IFO abgedrängt wurde, jedoch in der Regel nicht so weit, dass es von den Bildschirmen der Staffel verschwand. Selbst in unebenem Gelände, wie den Bergen, reichte die Erfassung problemlos auf drei bis fünf Kilometer.

    Ferry schüttelte den Kopf, er verstand es nicht, das ärgerte ihn. Er dachte nach… ein Solo-Einsatz… das wäre natürlich eine Möglichkeit… der Squad Leader war allein unterwegs gewesen! Doch wozu? Wozu so ein Risiko? Ferry wusste, dass die Sicherheitsvorschriften in den letzten Jahren massiv strenger geworden waren. Paddy Ram, sein bester Freund und langjähriger Wingman, mittlerweile Squad Leader Maroon, hatte ihm davon erzählt, als sie sich vor einiger Zeit im Kennedy's Pub auf ein Bier getroffen hatten. Deshalb schien es umso unbegreiflicher, wieso Paris einen Squad Leader allein losgeschickt hatte. Konnte es sein, dass sie so knapp an Personal waren? Das könnte auch eine Erklärung dafür sein, warum er aus der Reserve geholt wurde… Er neigte nochmals den Kopf nach links und nach rechts und liess es knacken. Was ging bloss vor in der Parallelwelt? Er hatte keine Ahnung, er war zu lange nicht dort gewesen, nicht da draussen, wo der Feind sass, jedenfalls.

    Ferry erhob sich langsam und nachdenklich. Das Puzzle hatte sich noch immer nicht für ihn zusammengefügt, doch er sah mittlerweile viele bunte Teilchen und schob sie vor seinem inneren Auge umher. Er kletterte die Stufen hinauf und ging langsam über die Brücke in Richtung des berüchtigten Kreis 4. Wenn jemand abtauchen wollte in dieser Stadt, dann hier. Das war die schrägste Ecke der Stadt, voller Drogen, Prostitution und Gewalt. Hier lebte das Stadtleben fast rund um die Uhr. Es war ein Auffangbecken für alle Gestrandeten, egal welcher Herkunft. Hierher hatte auch er sich verkrochen, nach seinem Rausschmiss.

    Während er voranschritt, seinen Blick unscharf auf den Asphalt gerichtet, ging er in Gedanken den Rest der Nachricht durch.

    Full Armour, das hiess volle Bewaffnung. Nicht, dass er irgendein zusätzliches Waffensystem gebraucht hätte. Sein Gefechts-IFO war immer voll bestückt und bereit für jeden Einsatz. Mehr als die Waffen, die er immer an Bord hatte, brauchte er nicht. Es gab eine Abteilung in der Forschungsbrigade von Central Command, die neue Waffen entwickelte, doch Ferry fragte sich, wozu überhaupt. Wenn man sich eine Waffe nicht vorstellen konnte, war sie auch nicht im IFO… Das IFO entstand allein im Kopf des Piloten, deshalb auch der Titel individuell. Jeder Pilot hatte eine eigene Vorstellung seines Flugapparates, der komplett einzigartig war, und diese Vorstellung konnten Aussenstehende auch nicht beeinflussen. Klar, sie konnten neue Waffensysteme erfinden, und wenn sich der Pilot damit auseinandersetzte und sie in sein Konzept aufnahm, dann konnte er sie auch verwenden. Doch Ferrys Erfahrung zeigte, dass jeder Pilot instinktiv die für ihn oder sie richtigen Waffen dabeihatte.

    Full Armour bedeute also lediglich, dass Paris davon ausging, dass es zu Feindkontakt kommen würde. Damit musste man immer rechnen in P1. Doch der Gedanke daran löste ein bedrückendes Gefühl in Ferry aus.

    Zielkoordinaten finden Sie in Ihrem Briefing-File. Er war gespannt darauf, was der Einsatzplan an weiteren Fakten hergeben würde.

    Das ist SL-1. Security Level 1 - höchste Vertraulichkeitsstufe. Also eine Ansage nur zwischen dem Vorgesetzten und dem Piloten. Es war also wichtig. Doch das hatte Ferry schon gewusst, als er Paris' Stimme gehört hatte.

    Er war bei seinem kleinen Quartier-Restaurant angekommen und schloss die Haustüre mit dem passenden Schlüssel auf. Als man ihn in den Zwangsruhestand geschickt hatte, war Ferry mit einer ganz neuen Situation konfrontiert worden: er hatte keine Aufgabe mehr. Ohne Job hatte er auch keinen geregelten Tagesablauf mehr und schon nach wenigen Tagen war ihm klargeworden, dass er seinem Leben wenigstens einen Hauch von Sinn einhauchen musste, wenn er nicht durchdrehen wollte. Von der Rente, die er bekam, konnte er leben, er brauchte nicht zu arbeiten für seinen Lebensunterhalt. Es war die Langeweile, die dem Ex-Commander zusetzte und die ihn dazu bewegte, einen Job zu suchen. In dem Stadtkreis, in dem er wohnte, gab es wöchentlich Wechsel bei kleinen Lokalen, Kiosks und Krämerläden. Das erste Objekt, das zur Übernahme freigeworden war, war ein Restaurant gewesen. Also hatte Ferry seine Ersparnisse hineingesteckt, um es einigermassen flott zu machen und ein kleines Bistro daraus gemacht.

    Er betrieb das Lokal als One-Man-Show. Meist kochte er ein einziges Gericht unter dem Motto frische Marktküche und daneben gab es ein paar einfache Tapas und Häppchen. In seinem Restaurant galt: es hat, was es hat, und was es nicht hat, braucht es nicht…

    Ohne das Licht einzuschalten, durchmass er mit schnellem Schritt die Gaststube, zog ein Schild aus einem Einschub neben der Eingangstür und hängte es an einen Nagel, der über der eingesetzten Glasscheibe im Holzrahmen angebracht war: auf dem Schild stand Betriebsferien. Das hängte Ferry immer dann an die Tür, wenn er keine Lust hatte, zu arbeiten. Seine Gäste waren sich das gewohnt und Reservationen nahm er sowieso keine entgegen. Das Bistro war geöffnet, wenn er da war und sonst halt nicht. Falls Ferry die Mission wirklich annahm, dann würden seine potentiellen Gäste wohl zwei oder drei Tage ohne ihn auskommen müssen, hatte er sich ausgerechnet.

    Mit geübtem Blick kontrollierte er im Vorbeigehen, ob in der Küche alle Geräte abgeschaltet waren, dann betrat er die Stille des Treppenhauses mit den steinernen Treppenstufen und stieg hinunter ins Untergeschoss. Er öffnete eine weitere Türe mit einem weiteren Schlüssel, ging am Umkleideraum vorbei und stand nun endlich vor der Personaltoilette. Er war angekommen. Es konnte losgehen.

    Kapitel 2 - Das Raumschiff

    Man schrieb das Jahr 1979 und Ferdi war acht Jahre alt. Er war, wie Kinder in diesem Alter sind. Er hatte langes, hellbraunes Haar, zerzaust und meist sowieso ungekämmt. Das Haar schrie nach einem Friseur, doch Ferdi hasste es, zum Friseur zu gehen. Ausserdem war das nicht so schlimm, es waren schliesslich die Siebziger. Ferdis Eltern waren liberal und antiautoritär und liessen ihm weitestgehend seinen Willen. Er konnte tun und lassen was er wollte und aussehen, wie er aussah. Ihnen gefiel, wie er war und wie er aussah und ihm auch. Meist trug er schmutzige Jeans und ein schmutziges T-Shirt. Dazu hatte er schmutzige Hände und Dreck unter den Fingernägeln, dazu meistens auch noch Überreste des Frühstücks im Gesicht. Ferdinand war ein glücklicher Achtjähriger.

    Er ging gerne zur Schule, war wissbegierig, aufmerksam und clever. Er hatte gute Noten, nette Freunde und wurde bei Gruppenspielen zwar häufig als Zweitletzter in eine Mannschaft gewählt, aber nicht als Letzter. Das war wichtig. Er war keine Sportskanone, aber er liebte Spiele, egal ob Fussball, Völkerball oder was auch immer und er brachte immer vollen Einsatz. Er mochte Mannschaftsspiele. Ferdi war nicht athletisch, aber auch nicht dick. Vielleicht ein bisschen pummelig, aber nicht dick. Auch das war wichtig, damit man nicht ausgelacht wurde.

    Sie wohnten zu viert in einem kleinen Haus mit Garten in einer kleinen Stadt, die wohl als Schlafstadt bezeichnet werden konnte und in der nicht viel los war, doch ihm gefiel diese Ruhe. Man konnte auf der Strasse spielen, mit dem Fahrrad durch die Quartiere strampeln -

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