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Teufelszeug
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eBook387 Seiten5 Stunden

Teufelszeug

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Über dieses E-Book

Von einem ominösen Anrufer zu einer einsamen Stelle am Kanal gelockt, hört der Chemiker Dr. Schwientzik plötzlich ein Klicken im Gebüsch. Als er kurz darauf niedergeschlagen wird, hält er den Anschlag für einen missglückten Mordversuch.
Anselm Becker, Kommissar bei der Kripo Dortmund, und seine neue Kollegin Sibel Dogan kümmern sich um den Fall. Während sie noch ermitteln, werden im Dortmunder Raum zwei Frauen auf brutale Weise ermordet. Rasches Handeln von Seiten der Polizei ist gefragt, um die Mordserie so schnell wie möglich zu beenden. Handelt es sich um Taten eines Wahnsinnigen? Oder folgen die Morde einem Plan? Ausgerechnet von einem Mönch erhält der Kirchenkritiker Anselm Becker entscheidende Hinweise für seine Ermittlungen.

Mit atemloser Spannung erzählt Heinrich Peuckmann eine Geschichte von höchster Aktualität.
SpracheDeutsch
HerausgeberAschendorff
Erscheinungsdatum9. Feb. 2012
ISBN9783402196601
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    Buchvorschau

    Teufelszeug - Heinrich Peuckmann

    ASCHENDORFF

    CRIMETIME

    HEINRICH PEUCKMANN

    TEUFELSZEUG

    KRIMINALROMAN

    Aschendorffs

    EPUB-Edition

    Vollständige E-Book-Ausgabe des im Aschendorff Verlag GmbH & Co. KG erschienenen Werkes

    Originalausgabe

    Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

    Copyright © 2005/2012 Aschendorff Verlag GmbH & Co. KG, Münster

    ISBN der EPUB-Ausgabe: 978-3-402-19660-1

    ISBN der Druckaugabe: 978-3-402-03196-5

    Sie finden uns im Internet unter

    www.aschendorff-buchverlag.de

    1

    1.

    Vom Kanal wehte ein leichter Wind herüber, der die Blätter der Sträucher erzittern ließ. Ihr leises Rascheln war das beherrschende Geräusch, das im Versteck hinter den Büschen zu hören war. Nur manchmal wurde es unterbrochen, wenn sich der Wind für Augenblicke legte und Rufe weit aus der Ferne herüberdrangen. Dann war auch Vogelgezwitscher zu hören, bis die Blätter erneut zu zittern begannen.

    Er tat gut, dieser Wind, denn die Luft war frisch und angenehm kühl an dem drückenden Spätsommermittag.

    Gut zweihundert Meter entfernt von dem Versteck, halb verdeckt von den Sträuchern, reckte sich massig ein Kohlekraftwerk in die Höhe. In seiner Nähe führte eine Brücke über den Kanal, die Spaziergänger benutzten, um in das Naturschutzgebiet auf der anderen Seite zu gelangen. Aus dem Turm des Kraftwerks stieg eine Dampfwolke in den blauen Himmel.

    In die andere Richtung, einen halben Kilometer entfernt, befand sich der Jachthafen mit der Gastronomie. Vor allem von dort kam das Rufen bei Windstille.

    Ein Lastkahn schob sich lautlos heran. Aus dem Blickwinkel des Verstecks, das unterhalb des Dammes neben einem Lehmweg lag, waren nur die Aufbauten zu erkennen. Langsam schoben sie sich näher, dann schien das Schiff Fahrt aufzunehmen, die Aufbauten wuchsen und zogen im nächsten Moment, von leisem Tuckern begleitet, vorüber. Der Schiffer hatte seine Mütze in den Nacken geschoben und starrte geradeaus, als hätte er in der Ferne einen Punkt auf der Wasserfläche fixiert. Was sich jenseits des Dammes tat, am Fuße der Böschung, interessierte ihn nicht. Aber selbst wenn er herübergeschaut hätte, hätte er von dem, was sich hinter den Büschen verbarg, nichts entdecken können. Der Blättervorhang war dicht, das Versteck im Gebüsch lag im Dunkeln.

    Genau so, wie es geplant war. Der Platz ermöglichte einen freien Blick auf den Kanal und den Weg, der über den Damm führte, ohne dass die Gefahr bestand, selbst entdeckt zu werden. Außerdem waren Brücke und Jachthafen weit genug entfernt, um vor unerwünschten Zeugen sicher zu sein. Einigermaßen sicher jedenfalls, denn natürlich gab es Spaziergänger, aber selten an diesem Abschnitt des Kanals. Außerdem waren sie schon von weitem zu erkennen, so dass im Notfall Zeit genug blieb, um zu verschwinden. Der Platz war gut gewählt für das, was gleich passieren würde. Sehr gut sogar.

    Jetzt wurde es wieder windstill. Der passende Moment um zu lauschen, ob sich Schritte näherten. Aber es blieb ruhig. Jetzt könnte er kommen, jetzt wäre eine günstige Gelegenheit. Günstig natürlich für den Plan, nicht für den Mann. Für den ganz und gar nicht. Ein Blick zur Armbanduhr. Nein, noch fünf Minuten bis zum verabredeten Zeitpunkt. Wer schrieb dem Kerl eigentlich vor, dass er pünktlich sein sollte? Ein Blick aus dem Gebüsch. Nichts war zu sehen, rein gar nichts. Mist! Wer konnte wissen, wie lange die Situation so günstig bleiben würde?

    Ein vorsichtiger Griff zur Pistole. Da war sie, bereit gelegt in einer Astgabel. Kalt fühlte sich der Griff an, abstoßend kalt. Der Puls beschleunigte sich, als das kalte Metall in der Hand lag.

    Ablenkung täte jetzt gut. Ein Blick zum Himmel zum Beispiel, in den die Dampfwolke stieg, bis sie am Rand zerfaserte, in kleinere Wölkchen zerfiel, die abdrifteten und sich schließlich auflösten. Oder ein Lastkahn müsste sich aus der Ferne nähern. Nein, besser nicht. Man konnte nie wissen, wieviel ein Schiffer von den Geräuschen jenseits des Dammes mitbekam. Wenn etwas seinen Verdacht erregte und er über Funk die Polizei verständigte, und wenn dann zufällig ein Polizeiwagen in der Nähe wäre … Zehn Minuten Vorsprung waren notwendig, mindestens.

    Plötzlich fuhr eine Windböe durch die Büsche, schüttelte die Zweige heftig, und im selben Moment war der Mann doch zu sehen. Langsam, sich mehrfach umblickend, näherte er sich aus Richtung Jachthafen. Jetzt nur nicht hektisch werden. Zuerst der kontrollierende Blick. Kein Zweifel, das war sein Gesicht. Er trug eine schwarze Hose, ein ebenso schwarzes Hemd und darüber, trotz der Wärme, eine braune Wildlederjacke, die er auch getragen hatte, als er beobachtet worden war. Ob er nicht schwitzte in seiner Kleidung? Egal, das würde gleich keine Rolle mehr spielen. Schon in zwei, drei Minuten würde es völlig belanglos sein.

    Einen Moment lang zögerte der Mann, dann schien es so, als hätte er das Gebüsch ins Auge gefasst und käme direkt darauf zu.

    Jetzt nichts Voreiliges tun. Ihn nahe genug herankommen lassen. Der Mann warf im Licht der untergehenden Sonne einen langen Schatten auf den Damm. Erst wenn der Schatten die Büsche verdunkelte, durfte der Schuss fallen, nicht vorher. Und dann, wenn er gefallen war, würde der Schatten in sich zusammensacken und es würde wieder Licht auf die Büsche fallen. Das Dunkel würde verschwinden. Der Gedanke daran erzeugte Glücksgefühle.

    Die Waffe fühlte sich nicht mehr kalt an, ihr Griff war warm geworden unter dem Druck der Hand. Ein sehr viel angenehmeres Gefühl als eben, das Stärke verlieh und das plötzlich einem jähen Schrecken wich. Sie war gar nicht durchgezogen, sie war nicht funktionsfähig! Verdammt, wie konnte das passieren? Das hätte längst erledigt sein müssen! Aber es blieb noch Zeit, der Mann war zehn Schritte vom Gebüsch entfernt. Noch ganze zehn Schritte.

    Also durchziehen … zehn, neun … zurückspringen lassen … acht, sieben … verdammt, warum springt sie nicht richtig zurück … sechs, fünf … schießen … vier, drei … nun geh endlich los. Aber die Pistole gibt keinen Schuss frei, sie klemmt. Also noch mal durchziehen … zwei, eins … jetzt schieß endlich … Aber sie klemmt, verdammt noch mal, sie klemmt.

    Der Mann stand jetzt direkt vor dem Gebüsch, er musste das Klicken der Pistole gehört haben. Er starrte auf die Zweige, als glaubte er, etwas dahinter erkennen zu können.

    Wenn er jetzt die Zweige auseinander biegt, sieht er alles. Dann kapiert er, was passieren sollte, schlagartig. Und der ganze Plan, die übernommene Aufgabe, die Anerkennung … alles zerstört durch einen dummen Fehler. Er darf die Zweige nicht auseinander biegen, er darf nicht sehen, was sich dahinter verbirgt. Da, da liegt ein Ast, den irgendwer hierhin geworfen hat. Die Pistole fallen lassen, den Ast greifen, was anderes geht nicht mehr. Soll er jetzt die Äste auseinander biegen.

    Aber der Mann zögerte. Ahnte er etwas?

    Nun mach schon, worauf wartest du? Du hast doch gehört, dass sich hier jemand versteckt. Willst du ihn nicht sehen?

    Jetzt war seine Neugier doch größer, er griff nach einem der Zweige, er bog ihn zur Seite, langsam, ganz langsam.

    Jetzt muss es sein, im nächsten Moment. Noch einmal einatmen, tief einatmen. Dann ausholen und aufpassen, dass der Schlag nicht an einem Ast des Busches hängen bleibt.

    Der Mann bog den Zweig plötzlich mit einem Ruck zur Seite, und im selben Moment traf ihn der Ast mit voller Wucht an der Stirn. Er ließ den Zweig los, sein Körper taumelte, schwankte nach vorn, dann nach hinten. Er versuchte, das Gleichgewicht zu finden, schaffte es aber nicht. Im nächsten Moment fiel er um und schlug rücklings auf die Böschung.

    Jetzt weg hier, nichts wie weg. Die Pistole mitnehmen, am besten auch den Ast. Losrennen, weg vom Kanal, hinein in das Naturschutzgebiet. Sich nicht mehr umblicken.

    Wenn der Mann doch nicht ohnmächtig war, wenn er sich aufrappeln würde, könnte er nur einen Schatten sehen, auf keinen Fall ein Gesicht. So, wie er getroffen worden war, würde er es auf keinen Fall schaffen, hinterherzurennen. Unter einer Eiche lagen mehrere trockene Äste, hier wird der Ast nicht auffallen. Hoffentlich nicht! Bloß keine Spuren hinterlassen. Bloß nicht die Aufgabe gefährden! Und jetzt weiterrennen, bis zu jenem Gebüsch, in dem alles vorbereitet steht, was für die Flucht nötig ist. Ein kurzer Kontrollblick über den Weg, der zu dem Gebüsch führt. Niemand zu sehen, also los. Da ist es. Nur noch ein paar Schritte, und dann dahinter verschwinden. Jetzt kann nichts mehr schief gehen. Wenigstens das hat geklappt. Wenigstens die Flucht.

    Ein Kahn näherte sich aus Richtung der Brücke. Tief lag er unter der Last seiner Ladung im Wasser. Er war auf dem Weg zum nächsten Kraftwerk ein paar Kilometer entfernt, um Steinkohle zu entladen. Der Schiffer hatte freie Sicht, kein anderer Kahn, kein Motorboot kam ihm entgegen. Er hatte genügend Zeit, hinüberzublicken zum Ufer. Aber dort war alles ruhig. Niemand ging um diese Zeit am Kanal spazieren. Und was sich an der Böschung abspielte, ob dort ein Mann lag mit blutender Stirn oder nicht, konnte er sowieso nicht sehen.

    2

    2.

    Anselm Becker saß an seinem Dienstcomputer und tippte eine Anzeige wegen Dealerei. Es war Dienstagnachmittag, er hatte den üblichen Kleinkram zu erledigen. Der Typ vor seinem Schreibtisch war ein Stammkunde, der sich auf dem Stuhl lümmelte, Kaugummi kaute und mit jeder Regung zu verstehen gab, dass ihn überhaupt nicht interessierte, was Anselm tippte. Er war mit deutlich mehr Stoff erwischt worden als er für den Eigenbedarf brauchte, trug eine verschlissene Lederhose mit Fransen an den Beinen, dazu eine schwarze Jeansjacke, die neueren Datums zu sein schien. Nur an zwei Knopflöchern war sie ausgefranst. Anselm beobachtete gerne genau. Es war Training für jene Momente, in denen es auf die kleinste Kleinigkeit ankam.

    Der Typ bekam mit Sicherheit nicht mit, wie genau Anselm ihn musterte, zu sehr war er mit seiner Eigendarstellung beschäftigt. Und Anselm seinerseits tat alles, um Desinteresse zu demonstrieren. Seine Art, auf die Lümmelei zu reagieren. Früher hätte er sich um ein Gespräch bemüht, hätte versucht herauszufinden, an welcher Stelle seines Lebens er nicht die Kurve gekriegt hatte. Aber die Momente, in denen er das Gefühl hatte, durch Erklärungen etwas bewirken zu können, waren selten gewesen. Sehr selten sogar.

    Hinzu gekommen war, dass er vor ein paar Monaten die dämliche Entscheidung getroffen hatte, in die Schleswiger Straße im Dortmunder Norden zu ziehen. Seitdem war sein Interesse an solchen Typen auf null abgekühlt. Es war ein Haus mit Resten einer Jugendstilfassade gewesen, die ihn an sein Elternhaus erinnerte und ihn deshalb veranlasst hatte, die Wohnung zu mieten. Ein Fehler, denn schräg gegenüber lag eine Grünanlage, die hübsch ausssah, wenn sie verlassen da lag. Aber verlassen war sie höchstens bei Platzregen. Ansonsten war sie bevölkert von Leuten, die Anselm zunehmend auf den Geist gingen.

    Wenn er nach dem Aufwachen aus dem Fenster schaute, waren die ersten Alkis da. Wenn er nach dem Frühstück das Haus verließ, trudelte die Drogenszene ein. Wenn er am späten Nachmittag nach Hause kam, gab es zwischen den Besoffenen und Bekifften keinen Platz mehr. Die Kinder taten ihm Leid, weil sie keinen Ort zum Spielen hatten. Dauernd schlichen sie um die Anlage herum, als suchten sie nach einer Stelle, an der sie sich austoben könnten. Aber die gab es nicht.

    Eines Tages hatte Anselm sich gefragt, ob die Suche nach einem Spielplatz wirklich der Grund war, weshalb sie dort auftauchten. Oder hatte die Lebensweise der Szene schon begonnen, sie zu faszinieren? Je länger er in der Schleswiger Straße wohnte, desto mehr hielt er es für möglich. Und desto mehr störte ihn, was dort passierte.

    Wer zugedröhnt war, pinkelte oder kotzte dahin, wo er gerade stand. Ein paar Mal in der Woche stand ein Krankenwagen auf dem Seitenstreifen, dann war wieder einer zusammengeklappt.

    Eines Tages hatte er sich bei dem Gedanken ertappt, zu bedauern, dass der Zusammengebrochene vom Vortag, ein völlig abgemagerter Typ, der an normalen Tagen stundenlang vor sich hinstierte, wieder auf der Bank saß. Ein Gedanke, der ihn zutiefst erschreckt hatte. Da war ihm klar geworden, dass er dort weg musste, so schnell und so weit wie möglich.

    Harald, sein früherer Klassenkamerad und jetziger Skatbruder, der in Werne an einem Gymnasium unterrichtete, hatte ihn überredet, es mit der Kleinstadt zu versuchen. Die Fachwerkidylle von Werne mit dem alten Rathaus am Markt, in dem sich eine Kneipe befand, schien genau das Richtige zu sein. Bei einem Spaziergang hatte Harald ihm das Städtchen gezeigt. In der Schulstraße, ganz in der Nähe einer Grundschule, hatte er eine kleine Wohnung gefunden. Vor drei Monaten war das gewesen.

    Seitdem bemühte sich Anselm bei dienstlichen Begegnungen mit der Szene um absolut korrekten Umgang. Zu groß war seine Sorge, dass sich der unerwünschte Gedanke wieder einstellte.

    Der Typ tat so, als gäbe er mit jeder Antwort ein weltbewegendes Geheimnis preis. Dabei waren seine Daten längst gespeichert, Anselm prüfte nur, ob die Einträge noch stimmten. Nur bei der Schilderung des Drogenverkaufs wollte er sich an nichts erinnern. Anselm ersparte sich die Mühe, nachzuhaken und übernahm die Angaben der Streifenpolizisten. Denn wie es weiterging, war auch klar. Gleich, nach Aufnahme der Anzeige, würde der Typ nach Hause gehen, schließlich konnte er einen Wohnsitz vorweisen. Immer dieselbe Leier, über die Anselm ebenfalls nicht mehr nachdachte. Auch dies aus Selbstschutz.

    Gerade, als er dem Typen das Blatt zur Unterschrift hinhielt, ging die Tür auf. Rautert kam rein, genauer gesagt Oberkommissar Rautert, Anselms Chef. Rautert begriff gleich, welchen Kunden Anselm verarztete.

    „Na, sind wir fertig?, fragte er und guckte den Dealer mit durchdringendem Blick an. „Dann können wir ja gehen und weiter unsere Geschäfte betreiben, die die Menschheit voranbringen.

    Manchmal schlug Rautert einen Tonfall an, der die Typen wenigstens für Augenblicke aus der Fassung brachte. Deshalb verzieh Anselm ihm den Sarkasmus. So war es auch jetzt. Der Typ verlor seine coole Haltung.

    „Was haben Sie denn für eine Ahnung von Geschäften? Immer das dicke Beamtengehalt, da kapieren Sie doch gar nicht, was draußen los ist."

    Rautert grinste. „Aber immerhin ehrlich verdient." Eine Antwort, die den Typen noch weiter provozierte. Er blitzte Rautert an, aber der tat so, als bemerkte er es gar nicht, sondern klopfte ihm fest auf die Schulter.

    „Und jetzt Abmarsch. Wir wollen hier wieder menschliche Gespräche führen."

    Bis gerade war Anselm mit Rauterts Auftritt einverstanden gewesen, bei dem Stichwort „menschliche Gespräche befürchtete er das Schlimmste. Rautert hatte nämlich die Angewohnheit, für gute Stimmung sorgen zu wollen. Deshalb kam er manchmal in den Raum gerannt, rief alle zusammen und erzählte Witze. Zum Beispiel, welches Wort jeder in Dortmund kennen müsste. „Vietnam hieß es. Konnte einem nämlich immer mal einer begegnen, der fragte: Weisse, vietnam Bahnhof geht? Die Antwort war dann: Jau. Alte Hüte, die längst die Kleinsten in der Grundschule erzählten.

    Jetzt nicht einer von diesen Witzen!, dachte Anselm. Und auch kein Gespräch über Fußball! Nicht, dass Anselm kein Interesse an Fußball hätte, weiß Gott nicht. Seit Borussia die

    Ecken im Westfalenstadion zugebaut hatte und es im freien Verkauf wieder Karten gab, ging er drei- oder viermal in der Saison hin. Aber Rautert verstand nichts davon. Er wusste nur, was in den Zeitungen über die Form der Spieler oder den Zustand der Mannschaft stand. Wie der Ball laufen musste, welche Taktik funktionierte und welche nicht, davon hatte er keine Ahnung.

    Er wollte gerade rufen, dass er noch nicht fertig sei mit dem Kunden, da erschien hinter Rautert eine junge Frau im Türrahmen. Sie trug eine schwarze Jeanshose, dazu einen ebenso schwarzen, knapp sitzenden Pulli. Die Lippen waren dunkelrot gemalt. Donnerwetter! Anselm schätzte sie auf höchstens fünfundzwanzig. Nicht nur an ihren funkelnden dunklen Augen, sondern am gesamten Gesichtsausdruck merkte er, dass sie Türkin war. Abwechselnd starrte er sie, dann Rautert an, der grinsend näher kam, als wollte er sagen: Na, da staunst du. Mit so einer Überraschung hast du nicht gerechnet, stimmt‘s?

    Der Dealer nutzte Anselms Verwirrung, legte das unterschriebene Protokoll auf den Schreibtisch und verschwand.

    „Na, da staunst du!, rief Rautert jetzt auch, „wen ich dir da mitgebracht habe. Beinahe hätte Anselm in seiner Verwirrung genickt.

    „Darf ich dir Frau Dogan vorstellen, Frau Sibel Dogan?"

    Anselm erhob sich, noch immer verwirrt. Wozu wollte Rautert ihm diese Frau vorstellen, die jetzt strahlend auf ihn zukam?

    „Guten Tag, Herr Becker."

    Ach, seinen Namen kannte sie auch schon?

    „Tag, Frau Dogan." Er blickte wieder zu Rautert hinüber, der noch immer mit breitem Grinsen dastand. Nun sag schon, was du von ihr hältst. Tue ich nicht alles, um dich bei Laune zu halten?, sollte das bedeuten.

    Langsam wurde es Anselm zu blöd. Sie waren hier nicht beim Ratespiel im Kindergarten. Rautert schien seine Gedanken zu erraten.

    „Das ist also deine neue Kollegin, sagte er. „Grad frisch von der Polizeischule, voller neuer Ideen. Von dir die Routine und von ihr neue Ideen, das müsste was werden mit euch beiden. Dabei kniff er Anselm ein Auge zu.

    Anselm begriff sofort, wie Rautert den Satz gemeint hatte. Er hatte mitgekriegt, dass Anselm sich vor ein paar Monaten von Birthe getrennt hatte. Besser gesagt hatte Birthe sich von ihm getrennt. Aber solche Anspielungen sollte er lassen. Zum Kuppler taugte er noch weniger als zum Fußballexperten. Außerdem konnte sein Satz missverstanden werden: Von dir die Routine … Da konnte er doch gleich sagen, dass er Anselm für einen alten Sack hielt. Aber er wusste, dass Rautert es nicht böse meinte, deshalb ließ er sich nichts anmerken.

    „Das ist ja eine schöne Überraschung, sagte er. „Wissen Sie, bis vor ein paar Minuten wusste ich noch gar nicht, dass ich eine Mitarbeiterin bekomme. Mein Chef, der Herr Rautert, liebt nämlich Überraschungen.

    „Papperlapapp. Offensichtlich hatte Rautert Anselms ironischer Ton amüsiert. „Sag mir lieber, ob es da nicht einen Fußballnationalspieler gleichen Namens gibt. Das müsstest du doch wissen.

    Oh Gott, jetzt kamen doch noch Rauterts gesammelte Fußballweisheiten. Aber bevor er etwas erwidern konnte, antwortete schon die Frau.

    „Mustafa heißt er mit Vornamen. Spielte beim 1. FC Köln, wo er jetzt ist, weiß ich nicht. Aber er ist nicht mein Bruder. Sie schwieg einen Moment lang. „Leider, fügte sie dann hinzu. „Der Name ist unter Türken so häufig wie bei den Deutschen Müller oder Schulze."

    Rautert machte ein verdutztes Gesicht.

    „Übrigens heißt er nicht Dogan, fügte sie hinzu. „Das g ist stimmlos. Doan wird das ausgesprochen.

    Donnerwetter, jetzt war auch Anselm erstaunt. Geschickter hätte sie gar nicht darauf hinweisen können, wie ihr Name auszusprechen war. Er begann, Sympathie zu entwickeln. Auch Rautert schien beeindruckt zu sein. „Nationalspieler Mustafa Doan also, sagte er. „Dann natürlich auch Frau Kommissaranwärterin Sibel Doan. Wir werden es uns merken.

    Er lächelte, die Frau nickte. „So ganz frisch von der Polizeischule bin ich übrigens nicht. Ein paar Monate Streifendienst hab ich schon hinter mir."

    Anselm ging um seinem Schreibtisch herum. „Schön, dass Sie als nächste Station zu uns kommen. Er reichte ihr die Hand. „Hilfe ist nämlich willkommen. Und neben ihren neuen Ideen brauche ich jemanden, der Türkisch kann. Vor allem, wenn ich türkische Frauen befragen muss.

    „Tja, antwortete sie und verzog die Mundwinkel, „ich weiß nicht, ob ich Ihnen da so gut helfen kann.

    „Wollen Sie etwa sagen, dass Sie kein Türkisch können?"

    „Das nicht. Aber richtig gut spreche ich es auch nicht. Sie lächelte wieder. „Meine Eltern haben Wert auf Integration gelegt.

    „Naja, für uns wird‘ s schon reichen. Sind ja keine philosophischen Diskussionen, die ich mit den Befragten führe."

    „Frau Doan wird Schreibers Zimmer beziehen, erklärte Rautert. „Seit dessen Pensionierung …

    In diesem Moment betrat Wermann das Zimmer. „Da hat sich ein Mann gemeldet und behauptet, es wäre ein Mordversuch auf ihn verübt worden. Er glaubt, es sollte auf ihn geschossen werden. Das ist was für uns."

    „Mordversuch?, fragte Anselm. „Wo denn?

    „Am Lippe-Seitenkanal, etwa in Höhe des Kraftwerks von Bergkamen."

    „Von Bergkamen? Rautert sah Anselm an. „Das ist ja direkt vor deiner Haustür. Na, dann kennst du ja den Weg.

    Anselm hatte es nicht gern, auf sein neues Zuhause angesprochen zu werden. So ganz überzeugt, dass die Kleinstadt das Richtige für ihn ist, war er noch nicht.

    „Ist das auch sicher?, fragte er. „Ich meine, bildet der Mann sich nicht etwas ein?

    Wermann zuckte mit den Schultern. „Weiß nicht. Aber seine Stimme soll ganz vernünftig geklungen haben, als er die Werner Polizei anrief. Jedenfalls haben die Kollegen das so eingeschätzt. Deshalb meinen sie, wir sollten uns darum kümmern."

    Anselm nickte. „Tun wir. Du kommst mit und sicherst die Spuren. Wo ist der Mann jetzt? Steht er noch am Kanal?"

    „Ne, der ist im Werner Krankenhaus. Hat eine Platzwunde an der Stirn, die mit vier Stichen genäht wurde. Von da aus hat er sich bei der Polizei gemeldet."

    „Wieso eine Platzwunde? Ich denke, es sollte auf ihn geschossen werden."

    „Ist es aber nicht, entgegnete Wermann. „Irgendwas sei schief gelaufen bei dem Anschlag, meint der Mann. Deshalb sei er mit einem Gegenstand niedergeschlagen worden, damit der Täter unerkannt entkommen konnte.

    „Schief gelaufen ist gut", sagte Rautert.

    Wermann musste selber schmunzeln über seine Formulierung.

    Anselm bemerkte die auf sich gerichteten Augen von Sibel Dogan.

    „Wollen Sie mit?" Einen Moment lang hatte er die Hoffnung, sie würde absagen. Seit Schreiber nicht mehr da war, hatte er seine Fälle allein erledigt. Er hatte sich angewöhnt, dabei seinen Gedanken nachzuhängen, außerdem musste er niemandem erklären, warum er dieses zuerst und jenes danach tat. Ein bisschen Zeit, sich umzustellen, könnte sie ihm schon lassen. Aber den Gefallen tat sie ihm nicht.

    „Gerne, sagte sie, „ist ja heute mein erster Arbeitstag hier. Und außer dass ich dem Polizeipräsidenten vorgestellt worden bin, habe ich noch nichts geleistet.

    Rautert nickte, als wollte er sagen: Siehst du, fleißig ist sie auch noch.

    „Könnten Sie vielleicht mit dem eigenen Auto fahren?, fragte Anselm. „Wissen Sie, das ist fast vor meiner Haustür. Je nachdem, wie spät es wird, bleibe ich gleich da.

    „Sie wird mit Wermann zum Tatort fahren, mischte sich Rautert ein. „Die erste Vernehmung im Krankenhaus führst du alleine. Wenn der Mann überhaupt vernehmungsfähig ist. Wermann, du erkundigst dich inzwischen bei der Werner Polizei nach dem Tatort und untersuchst ihn zusammen mit Frau Dogan.

    Anselm nickte. Das war ein Vorschlag, wie er zu Rautert passte. Pragmatisch, die Interessen aller berücksichtigend. Rautert war eben ein guter Chef, bis auf … Naja, niemand war perfekt.

    3

    3.

    Anselm erkannte den Mann sofort, als er in die Ambulanz kam. Er saß auf einem Stuhl im Wartezimmer und trug einen Kopfverband, der einem Turban glich.

    Anselm taxierte ihn. War er ernst zu nehmen? Oder gehörte er zu den Wichtigtuern, die mit Hirngespinsten die Polizei in Atem hielten? Mit dem Turban wirkte er alles andere als seriös, aber sein wacher Blick sprach dagegen. Die Kleidung, die schwarze Hose, das schwarze Hemd, dazu eine braune Wildlederjacke, die neben ihm auf dem Stuhl lag, alles kam Anselm ganz normal vor. Auf keinen Fall überkandidelt. Er war schlank und wirkte durchtrainiert, Anselm schätzte ihn auf knapp über vierzig.

    Mit raschen Schritten ging er auf ihn zu. „Haben Sie bei der Polizei angerufen?"

    Der Mann erhob sich, im selben Moment verzog er schmerzverzerrt das Gesicht.

    „Bleiben Sie doch sitzen."

    Der Mann schüttelte leicht den Kopf. „Es sind nur die Kopfschmerzen, sonst geht es. Er reichte Anselm die Hand. „Ja, ich war das.

    Anselm stellte sich vor. „Warum hat die Werner Polizei Sie denn nicht abgeholt, sondern Sie hier einfach sitzen lassen?", fragte er dann.

    „Oh, die waren hier, sehr schnell sogar, antwortete der Mann, „aber ich wollte nicht mit zur Wache. Es tat mir ganz gut, einen Moment allein zu bleiben und meine Gedanken zu ordnen. Nach dem Schreck.

    Anselm fühlte seinen Eindruck bestätigt. Nein, so redete kein Aufschneider.

    „Dann sind Sie also in der Lage, mir ein paar Fragen zu beantworten?"

    „Auf jeden Fall. Ist ja auch in meinem Interesse."

    Anselm blickte sich um. „Wo kann man hier in Ruhe reden?"

    „Wissen Sie was? Der Mann blinzelte ihn unter seinem Turban an. „Am liebsten wäre es mir, wir würden drüben ein paar Schritte im Stadtwald laufen. Frische Luft täte mir gut.

    Anselm fand die Idee gut. Sah man von den Autofahrten nach Dortmund und zurück ab, hatte er die restliche Zeit im stickigen Büro verbracht.

    Sie liefen einen breiten Waldweg entlang. Ein Jogger kam ihnen entgegen, verwundert blickte er auf den Mann mit dem weißen Turban. Die Blätter zeigten im Sonnenlicht eine gelbliche Färbung. Unmerklich leitete der Sommer seinen Abschied ein.

    „Dann erzählen Sie mal."

    „Aber wo anfangen?" Der Mann fuhr sich mit der Hand übers Gesicht.

    „Am besten damit, was am Kanal passiert ist."

    „Am Kanal, natürlich. Also, ich bin dahin bestellt worden. Jemand wollte mir etwas Wichtiges mitteilen, das meinen Betrieb betrifft."

    Anselm unterbrach ihn. Er hatte völlig vergessen, sich nach Namen und Beruf des Mannes zu erkundigen.

    „Achim Schwientzik, sagte der Mann. „Doktor Achim Schwientzik genauer gesagt. Ich arbeite im großen Chemiewerk, in der Fermentation.

    „Ach …" Anselm wollte sich gerade erkundigen, was eine Fermentation ist, unterließ es aber, um den Mann nicht noch mal zu unterbrechen. Das Chemiewerk kannte jeder. Es war der Hauptarbeitgeber der Stadt Bergkamen, aber was da produziert wurde, darum hatte er sich noch nicht gekümmert. Dass der Mann Akademiker war, wunderte ihn nicht. Auf einen Intellektuellenberuf hätte er auch von sich aus getippt.

    „Also, ich sollte am Kanal entlanggehen bis kurz vor die Fußgängerbrücke. Dort gäbe es einen Lehmweg, der hinunterführe in das Naturschutzgebiet. Und genau da, vor einem Gebüsch, sollte ich jemanden treffen. Da bin ich auch hingegangen zur verabredeten Zeit, aber es war niemand zu sehen."

    Er schwieg einen Moment lang, auch Anselm sagte nichts. Trockenes Laub knisterte unter ihren Schuhen.

    „Wissen Sie, ich muss jetzt ein bisschen aus meinem Gefühl heraus formulieren, fuhr Dr. Schwientzik fort. „Es war zwar niemand zu sehen, aber ich hatte trotzdem das Gefühl, dass jemand da war. Gehört habe ich ihn nicht, nur gespürt. Ein diffuses Gefühl, das mir von einem Moment zum anderen Angst einjagte, wie ich sie noch nie gespürt habe. Warum sollte mir jemand etwas antun, ich habe keine Feinde. Höchstens mal welche, die sich mal über mich geärgert haben, aber richtige Feinde? Auf keinen Fall. Aber ich hatte die Gefahr trotzdem geahnt. Warum, kann ich nicht erklären.

    Anselm blickte heimlich auf die Hände des Mannes und sah, dass seine Finger zitterten.

    „Ich wusste, dass es zu spät war, um wegzurennen. Ich saß in der Falle. Deshalb gab es nur noch eines. Ich musste wissen, wer sich im Gebüsch verbarg. Wenn ich ihn entlarvte, gab es vielleicht eine Chance, ihn zu verunsichern. Glauben Sie nicht, dass mir das alles so klar war in dem Moment. Ich habe ganz instinktiv gehandelt."

    „Sie sind also auf das Gebüsch losgegangen und sind dann niedergeschlagen worden. Aber Sie haben doch erzählt, dass auf sie geschossen werden sollte."

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