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Und die Titanic fährt doch: Nordatlantik-Krimi mit Rezepten
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eBook312 Seiten4 Stunden

Und die Titanic fährt doch: Nordatlantik-Krimi mit Rezepten

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Über dieses E-Book

14. April 1912, 23.39 Uhr. Was jetzt? William McMaster Murdoch, der Erste Offizier, steht schockstarr auf der Außenbrücke der Titanic. Vor ihm der Eisberg, der urplötzlich aus der pechschwarzen Nacht getaucht ist. Sekundenbruchteile für die folgenschwerste Entscheidung der Seefahrtgeschichte! Ausweichen oder draufzuhalten? Murdoch weiß um die Sicherheitsmängel des Schiffs und die Gefahren eines Ausweichmanövers. Also entscheidet er sich für die Frontalkollision! Und rettet damit anderthalbtausend Menschen das Leben. Doch noch in derselben Nacht wird er degradiert und festgesetzt, da durch seine Nachlässigkeit die Bugspitze dieses stolzen Schiffs demoliert worden sei. In Murdoch's Kopf beginnt ein Wirbelsturm zu toben, die Gedanken schlagen Kapriolen! Und was will der Revolver von ihm, der da auf dem Tisch der Haftkabine liegt und ihn auffordernd angrinst?
SpracheDeutsch
HerausgeberOktober Verlag
Erscheinungsdatum16. Juli 2012
ISBN9783941895447
Und die Titanic fährt doch: Nordatlantik-Krimi mit Rezepten

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    Buchvorschau

    Und die Titanic fährt doch - Ulrich Land

    www.readbox.net

    1

    Die Tür, wieso scheppert jetzt auf einmal das Türschloss? Was wollen die denn noch von mir? Sollen mich doch schmoren lassen hier unten in dieser verdammten Zelle, zu der sie extra für mich die Ausnüchterungskabine der Krankenstation umfunktioniert haben. Sollen mich doch meinen Gedanken nachhängen lassen, bis wir mit dem angeschlagenen Kahn vor Nova Scotia ankern, in Halifax, Boston, was weiß ich – wenn die überhaupt hinreichend große Liegeplätze zu bieten haben. Oder bis wir direkt in New York gelandet sind.

    Aha, der Alte steht auf der Schwelle, ›Master next God‹, welche Ehre!

    »Sir?«

    Während ich es mit einiger Mühe noch hinbekomme aufzustehn, den Rücken durchzudrücken und den Zeigefinger zur Stirn zu heben, verzichtet Captain Smith mit offenbar auch nicht eben wenig Mühe darauf, meinen Gruß zu erwidern.

    »Murdoch, ich muss Sie bitten ...«

    »Ja?« Kurze Frage, kleine Chance, es dem Chef nicht ganz so leicht zu machen.

    »Ich muss Sie bitten, Ihre Uniformjacke abzulegen und mir auszuhändigen.«

    Wortlos ziehe ich die Jacke aus und leg sie ihm über den hingehaltenen Arm. Wortlos winkelt er den Arm enger an und schlüpft mit den Fingern in die Knopfleiste seiner Uniform. Wer war das noch, der alte Fritz oder Napoleon? Jedenfalls eine Geste, die er bei irgendeinem Potentaten geklaut hat. – Nicht zu fassen, dass ich es in dieser ernsten, bitterernsten Situation geregelt kriege, mir so idiotisch belanglose Gedanken zu machen.

    Aber noch verblüffender zu hören, wie ich hinter dem abziehenden Captain herrede: »Immerhin hab‘ ich dafür gesorgt, Sir, dass Sie gestern Nacht nicht zum ersten und zum letzten Mal in Ihrer Kapitänslaufbahn den Satz der Sätze vom Stapel lassen mussten: ›Now it‘s every man for himself!‹«

    Rette sich, wer kann, geht‘s mir durch den Kopf, als ich Smith nachsehe, der verbissen schweigend hinaus in den Flur tritt und die Nurse von der Krankenstation meine Tür wieder verschließen lässt. In dieser einen Nacht ist er zu einem alten Mann geworden. Was Jahrzehnten seiner an dramatischen Erlebnissen nicht armen Seefahrtskarriere versagt geblieben ist, diese eine Schreckensminute hat es fertiggebracht, ihn niederzuwerfen.

    Vielleicht geht es in meinem Schädel selbst in diesem Moment trostloser Erniedrigung deshalb so drunter und drüber, vielleicht quasseln meine Gedanken deshalb wie ein Bilderbuch, statt sich in deprimiertes Schweigen zu hüllen, weil ich mir trotz allem sicher bin, alles richtig gemacht zu haben. Trotz dieses ungeheuren, dieses markerschütternden Schlags. Absolut sicher. Und genauso absolut sicher bin ich mir, dass man mir genau daraus den Strick drehen wird. Eigentlich hätte mir das klar sein müssen. Aber es war mir nicht klar. Weil ich nämlich über die Konsequenzen überhaupt nicht nachgedacht habe. Weil ich nämlich überhaupt nicht gedacht habe.

    Weil ich nämlich überhaupt nicht dazu gekommen bin nachzudenken. Weil ich nämlich gehandelt habe. Einfach nur so. Ohne Gedanken. Instinktiv, intuitiv, aber richtig. Absolut richtig.

    Dieses Schiff war nur so zu retten.

    Ich wusste es in dem Moment nicht, aber ich weiß es jetzt: Mein Manöver war das einzig richtige. Und je mehr diese Gewissheit wächst, wächst die Ungewissheit, ob ich das irgendeinem Außenstehenden werde klarmachen können. Ganz im Gegenteil. Fahrlässige Tötung, man wird mir fahrlässige Tötung in soundso vielen Fällen vorwerfen. Ich weiß es nicht genau, keiner hat mir die genauen Zahlen genannt, drei Dutzend, vier Dutzend Tote und etliche Verletzte. Die Nacht der Nächte. Geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Wie denn auch?! Schicksalsnacht. Bitterkalt und glasklar. Neumond. Rabenschwarz der Himmel, aber übersät mit winzigen weißen Punkten. Steuerbord schräg voraus vergilbte soeben der lindgrüne, leise schwingende Seidenvorhang eines Nordlichts, bevor er sich endgültig wieder in der Finsternis auflöste, aus der er sich gerade erst vor ein paar Minuten entfaltet hatte. Und plötzlich – plötzlich baute sich dieser schwarze Brocken vor uns auf! Obwohl, eigentlich war er natürlich weiß. Aber nachts sind alle Katzen grau und alle Eisberge schwarz. Zumal dann, wenn sie wie offensichtlich dieser hier schon mal gekentert sind. Von einem Wasserfilm überzogen, spiegelglatt und glasig-blau, sind sie in der Dunkelheit praktisch unsichtbar. Stehen schwarz im schwarzen Wasser vorm schwarzen Himmel. Fallen vor allem dadurch auf, dass man da, wo sie rumdümpeln, die Sterne nicht sieht. Wie ausgestanzt, ein Loch im Sternenhimmel. Genau im Umriss dieses zwanzig, was weiß ich, dreißig Meter hohen Ungetüms. Kommt einem vor, als läge vor uns volle Breitseite ein Windjammer unter Segeln, unter vollen Segeln, unter anthrazitfarbenen Segeln, ein Totenschiff – und würde sich keinen Millimeter vorwärtsbewegen. Denn der Wind schafft es nicht mal, die Segel zu blähen. Das schwere Segelleinen wirft tausend Falten. Und oben in der Mitte läuft der Koloss nadelspitz zu, wirft sich auf zu einem scharf-alpinen Zinken. Fehlt nur das Gipfelkreuz.

    Dann der gigantische Knall! Ein kurzes Zittern erfasste den pechschwarzen eisweißen Klotz. Mich überkam eine Höllenangst, das Ding könnte kippen, könnte durch die Kollision mit unserem Vorsteven einen senkrechten Riss abbekommen haben, könnte sich in der Mitte spalten und umklappen. Könnte Hals über Kopf aufs Vordeck schlagen und zerschellen. Aber hielt, die Drecksau. Gott sei Dank. Paar Zähne abgebrochen, aber der Kern hielt zusammen und stand da mit stoisch stupidem Gleichmut. Schien kurz zu überlegen, soll er steuerbord, soll er backbord sich vorbeitrollen an unserm Rumpf. Er entschied sich für Stehnbleiben. Taumelte leicht, aber blieb eisern eisig stehn vor unserer Nase. Erst als die Schrauben endlich packten, die ich auf volle Kraft zurück hatte stellen lassen, als das Schiff langsam, unendlich langsam die zerquetschte Bugspitze vom Eisberg zurückzog und sich vom umgelegten Ruderblatt überzeugen ließ, über Backbord abzudrehen, da schob der Koloss sich gemächlich nach achtern. Längs unserer Steuerbordflanke. Eckte hier und da kurz an, aber schon war er – schwarzblau jetzt, nass und glibberig glitzernd von dem bisschen Licht, das ihm die Lampen des Schiffs hinterherwarfen – verschwunden. Irgendwo. In der Finsternis. Achteraus und auf Nimmerwiedersehn. Ich weiß nicht, fünf Minuten vielleicht, vielleicht hat er sechs, sieben Minuten gebraucht, um bei der geringen Fahrt, die wir jetzt machten, an den zweihundertsiebzig Metern Schiff längs zu ziehn. Eine Hand voll Minuten, dann war er vorbei. Und alles war vorbei.

    Und ich wischte mir die Schweißlachen von der Stirn und ließ erst mal die Maschinen stoppen.

    Wo, wo mag das verdammte Biest jetzt sein? Was gäb ich drum, seiner habhaft zu werden. Einfangen, festnageln, eine Antwort auf die Frage aus ihm rausprügeln, was er sich dabei gedacht hat! Und wie sich‘s als Eisberg lebt mit diesem pechschwarzen Gewissen, einen britischen Luxusdampfer ramponiert zu haben. Obwohl, die Hinrichtung des Eisbrockens übernehmen ja ohne jedes weitere Dazutun von dritter Seite die Temperaturen der gemäßigteren Breiten, wo er sich jetzt, vom Labradorstrom erfasst, allmählich, ganz allmählich, aber unweigerlich hinbegibt. Kann ich getrost die Hände in den Schoß legen. Gott sei Dank.

    Ich weiß nicht, ob die zwei im Krähennest vorne eingenickt waren, wäre bei der Kälte eher verwunderlich, oder ob die und wenn ja, über was die geredet haben in dieser Nacht unterm schwarzen Lichtpunktfirmament, ob die gerade den Kopf gesenkt hatten und sich die Hände vors Gesicht hielten, um sich eine Zigarette anzuzünden. Jedenfalls kam die Alarmglocke verdammt spät. Aber ich will die andern nicht, will keinen dafür verantwortlich machen. Will die Schuld nicht abschieben. Weil ich selbst keine Schuld habe. Kein Gran. Im Gegenteil. Man müsste mich eigentlich feiern als den Retter. Als einen Held der christlichen Seefahrt. Hätte ich nicht gehandelt, wie ich gehandelt habe, das Schiff wäre abgesoffen mit Mann und Maus und Mokka. Gut, bräuchte ich mir jetzt keine Gedanken mehr zu machen. Bräuchte sich niemand mehr Gedanken zu machen. Auch eine Lösung. Aber ich hab‘ eben gehandelt und also, was weiß ich, an die zweitausend Leben gerettet. Um den Preis von fünfzig, achtzig, ich weiß es nicht, hundertfünfzig Leben. Ohne Opfer war die Rettung nicht zu haben, definitiv nicht.

    Aber darum geht‘s mir nicht, ich muss nicht auf irgendeinen Heldensockel gehoben werden. Ich hab‘ bloß getan, was ich tun musste. Bin nichts als ein einfacher Offizier zur See. Okay, Erster Offizier hier an Bord. Aber mehr auch nicht. Ich will gar nicht in die Annalen der Seefahrtgeschichte eingehen, aber ich will verdammt noch mal auch nicht eingebuchtet werden. Hab‘ noch längst nicht jeden Winkel der Weltmeere gesehn, noch nicht jedem Orkan ins Auge geblickt, nicht jeden weißen Fleck der Ozeanatlanten vermessen. Ich habe noch so viel vor. Also – also lasst mich raus hier, lasst mich hier raus! Ihr habt den Falschen eingesperrt. Nein, niemand, es gehört niemand eingesperrt für diese Nacht. Nicht mal der verdammte Eisberg. Konnte schließlich nichts dafür, dass wir seinen Weg kreuzten. Auch der war von Mordgelüsten nicht beseelt. Auch der war vom Donnerschlag gerührt, von diesem Schuss vorn Bug überrascht. Überraschter noch als wir.

    Dieser Augenblick, dieser eine Augenblick!

    Wir waren genau auf Reisegeschwindigkeit. Endlich. Endlich machten wir die vorgesehenen 22,4 Knoten. Volle Fahrt voraus, westlicher Kurs.

    Position: 41°46‘ Nord, 50°14‘ West.

    23:40 Uhr Bordzeit.

    Am Morgen hatte in der Offiziersmesse für ein paar handverlesene Passagiere der ersten Klasse und Crewmitglieder der Sonntagsgottesdienst stattgefunden. Die letzten Worte des Chorals: »Denen in Gefahr auf See.« Worte, die jetzt natürlich einen völlig neuen Klang haben. Aber davon wusste ich bis 23:39 Uhr nichts. An diesem späten Sonntagabend schien alles ganz normal zu sein. Alles lief präzise nach Plan. Und plötzlich aus heiterem schwarzklaren Himmel ist alles anders. Nichts ist normal. Die Alarmglocke! Aber ich hatte den Eisklotztitan vorher schon gesehn: gradeaus voraus. Blinzle kurz, da trifft mich der Schlag. Kurz bevor er das Schiff trifft. Ich weiß nur eins: Ich hab‘s in der Hand. Ich allein habe es in diesem Augenblick in der Hand. Das ganze Schiff. Mit Mann und Maus und Mokka. 1308 Passagiere, 898 Mann Besatzung. Und eine Entscheidung. Die Entscheidung des Ersten Nautischen Offiziers William McMaster Murdoch.

    In diesen Sekundenbruchteilen. In den Augenblicken zwischen dem Augenblick, als Fleet oben im Krähennest ins Telefon »Iceberg right ahead!« kreischte und Moody »Iceberg right ahead!« nach draußen Richtung offene Brücke brüllte, wo ich stand und starrte, längst mit meilenweit aufgerissenen Augen auf den schwarzblauen Höllenfels starrte, der da langsam, aber erbarmungslos auf uns zu geschwommen kam, right ahead. Und right heißt hier nicht rechts, sondern recht. Recht voraus. Genau gradeaus. Hoffentlich ist das einem Richter begreiflich zu machen. Na ja, da das Verfahren erst mal beim Seegericht landen wird, dürfte das ja wohl klarzustellen sein. Das Biest ist jedenfalls frontal vorm Vorsteven, so frontal, wie‘s nur frontal sein kann. Noch 450 Meter liegen zwischen Eisen und Eis! Keine zwei Schiffslängen. 450 Meter oder 40 Sekunden. Bei unserem Tempo. Zweiundzwanzig Knoten, das bedeutet elf Meter fünfzig pro Sekunde. Also.

    Also gab ich nach einem kurzen Moment des Zögerns »Volle Kraft zurück!« über den Maschinentelegraphen durch und wusste doch, dass allein das Umschalten der Maschinen auf Gegenschub 20 Sekunden frisst. Plus ein gigantisches Mehr an Zeit, bevor überhaupt eine spürbare Geschwindigkeitsdrosselung eintritt. Reine Kosmetik, dieses Kommando. Ein Beruhigungsmanöver für uns selbst, um uns das Gefühl zu geben, dass wir überhaupt was getan haben, nicht einfach kampflos aufgegeben haben.

    Auf alle Fälle den Befehl, das Ruder rumzureißen – na ja, was heißt bei so einem schwimmenden Dinosaurier schon ›Ruder rumreißen‹! – und die linke Schraube ›volle Kraft zurück‹, die rechte ›volle Kraft voraus‹ laufen zu lassen, diesen Befehl hab‘ ich nicht gegeben. Anfängerlektion der nautischen Grundausbildung: Das Schiff einfach auf Linkskurs zu steuern, bedeutet, dass wir den Bug vielleicht grade noch rechtzeitig werden wegziehen können, dass aber das Heck mit Sicherheit genau in den Eisberg hineingedreht wird. Also müsste ich an der entscheidenden Scharnierstelle, an einem ganz bestimmten Punkt wieder nach rechts steuern, um nach dem Bug dann auch das Heck vom Eis fernzuhalten. Aber: Sonnenklar, für ein solches Porting-Around-Manöver mit auch nur einer Spur von Aussicht auf Erfolg, da reichte die Zeit einfach nicht! Hinten und vorne nicht, im wahrsten Sinne des Wortes. Völlig hoffnungslos.

    Das alles schoss mir durch den Schädel, blitzte zwischen den Zeilen dieser winzigen Zeit auf, zwischen dem Ticken des Sekundenzeigers, schoss hin, schoss her, mal hü, mal hott. Ohne dass es wirklich zu einem einigermaßen klaren Gedanken gereift wäre. Aber ich wusste, ich muss mich entscheiden; jedes Zaudern ist tödlich, jede Sekunde, die du ungenutzt verstreichen lässt, kostet soundso viele Menschen das Leben. Ich gab also den Befehl zum Ausweichmanöver nicht! Mit der unausweichlichen Folge, dass ...

    Aber dann spürte ich auf einmal trotzdem, obwohl ich mir absolut sicher war, nichts von Ausweichen gesagt zu haben, spürte ich in den Fußsohlen, dass sich das Schiff einen Hauch Richtung Backbord drehte, millimeterweise, aber das reichte schon; ich musste gar nicht erst zum Rudergänger rübersehn, um zu wissen, was Sache war. Drei Sätze, und ich war direkt neben Hichens. Der sah mich überhaupt nicht an, wandte den Blick keine Sekunde vom Eisberg, starrte ihn gradezu fasziniert an. Ein unglaublicher Magnetismus. Instinktiv drehte er das Steuerrad nach Backbord. Der Mann wollte nur eins: dran vorbei an dem Saustück! Ich sprach ihn an: Er hörte mich nicht. Ich schrie »Mittschiffs«: Nicht mal ein Lidschlag. Ich brüllte, das sei ein Befehl, er solle das Ruder sofort wieder in Geradeausstellung bringen: Er reagierte nicht. Ich rempelte ihn mit den Schultern an, um ihm klarzumachen, dass er hier nichts mehr zu suchen hatte. Aber er hielt sich krampfhaft am Steuerrad fest und wich keinen Zentimeter. Ein guter Rudergänger lässt erst los, wenn er … aber ich kann den Mann doch nicht einfach so … doch, blieb mir nichts andres übrig. Ich schlug ihm mit der Faust ins Gesicht. Ich hatte noch nie jemandem ins Gesicht … irgendwo hatte ich mal gelesen, wenn ins Gesicht, dann immer mit viel mehr Kraft, als man eigentlich will, als man eigentlich kann.

    Hichens blutete aus Nase und Mund, hatte die schreckgeweiteten Augen immer noch starr an den Eisberg geheftet und … und hielt das Steuer. Mit einer Hartnäckigkeit, die eigentlich einen Orden verdient hätte. Ich dröhnte ihm meinen Ellenbogen mit voller Wucht in die Nieren. Er knickte saftkraftlos seitwärts ein, und das reichte mir, um seine schweißnassen Hände vom Steuerrad zu schieben. Das alles spielte sich in Sekundenbruchteilen ab. Ich hatte keinen Blick dafür, wie Hichens jetzt vollends in sich zusammensackte. Ich griff in die Speichen: einen Hauch nach Steuerbord, damit die Nase wieder grade nach vorn kommt. So. Wieder 0° auf der Ruderlageanzeige.

    Und da … da war er, dieser Schlag, auf den ich gewartet hatte … ich sah den Göschstock wegknicken wie ‘n Streichholz! Der Rückschlag warf mich aufs Steuerrad, die Brust dröhnte, stechender Schmerz in den Rippen. Ich konnte mich mit Mühe aufrecht halten, während der willenlos nach vorn rutschende Hichens dem inzwischen dazugekommenen, völlig konsternierten Lightoller die Beine wegriss.

    Nicht selten wird eine Wende des Schicksals von einem Rums eingeleitet. Und dann fängt‘s an, interessant zu werden. Dieser Rums hier hatte sich gewaschen! Sechzigtausend Tonnen Stahl krachten frontal auf dreihunderttausend Tonnen Eis. Eins zu fünf. Eigentlich war gar nicht der Knall das Erschütternde. Nicht das grausige Heulen und Knistern der wie Stanniolpapier nachgebenden Stahlplatten, das Knirschen der Eisenträger, das wie Hammerschläge dröhnende Aufspringen der kindskopfgroßen Nieten der Außenhautplatten, nicht das Wimmern der zerknüllten Spanten und Wrangen im Bug, das knarrende Holz, das Zersplittern der Glaskuppel überm A-Deck-Foyer, nicht das Gurgeln und Rauschen der in die beiden vorderen Rumpfkammern einschießenden Wasserfontänen, nein, das Erschütternde war die Stille nach dem Knall. Als das Schiff stand und auf den Eisfels starrte. Diese brüllende Stille.

    Mit einem Schlag liegt der Titanic-Traum in Trümmern, ist zum Trauma geworden.

    - . -

    2

    Keine große Kunst, sich auszumalen, wie‘s da unten zuging, im Salon der verlorenen Seelen. Wo sich zu nachmitternächtlicher Stunde immer ein paar versprengte Figuren einfanden, die an Schlafstörungen litten. Nichts schöner, als sich dort ab und zu an einen abgelegenen Ecktisch zu pflanzen und diesen seltsamen Vögeln beim Zwitschern zuzuhören. Schade, dass ich in der vergangenen Nacht Wache auf der Brücke hatte. Aber, wie gesagt, ich kann‘s mir lebhaft ausmalen, wie sich da unten das übliche harmlos-ahnungslose Geplänkel angelassen hatte. Da, mitten drin im Pott, wo man vom Wellengang selbst dann nichts hört, wenn‘s nicht so mucksmäuschenstill zugeht wie letzte Nacht. Mit Sicherheit einer der sichersten Punkte auf dem ganzen Dampfer, oder besser gesagt: einer der Punkte, wo man sich am sichersten fühlt. Eben: mittendrin. Und stabil. Denn da ist wahrhaftig die Mitte. Konnten die Konstrukteure der Harland & Wolff-Werft natürlich nicht ahnen, dass dorthin, nur ein paar Meter vom Massenschwerpunkt entfernt, wo man den Seegang deshalb so wenig spürt, weil hier der Mittelpunkt der Achse ist, über die sich das Schiff dreht, wenn‘s hoch hergeht, dass also die Nachteulen dorthin, ausgerechnet in die Messe für Butler und Zofen retirieren würden. Direkt überm Speisesaal der ersten Klasse. Und konnten noch weniger ahnen, dass diese graugesichtigen, tränensackbeladenen Gestalten sich regelmäßig erdreisten würden, den vorderen Teil der Butlermesse in einen Rauchsalon für späte, für sehr späte Stunden umzumodeln.

    »Hier, wo selbst das Motorengeräusch so verhalten ist, dass man beim besten Willen nicht auf die Idee kommt, man könnte mitten im Atlantik sitzen«, wie diese Brünette jeden zweiten Abend zu sagen pflegt, die attraktive Mittoder meinetwegen Endzwanzigerin, die sich während der fünf Tage, die die Reise bis zum großen Schlag währte, keine Nacht vor vier Uhr in ihre Kajüte zurückzieht. Trotz ihres jugendlichen Alters aber sieht sie jetzt – in der Nacht danach – mit einem Mal so unglaublich schal aus, so blutleer, irgendwie erheblich älter. Falbe, welke Haut. Lichtleere Haut. Ein schattenloses Gesicht ohne jede Kontur. Bei allen Figuren übrigens hier in diesem Panoptikum! Einfach nur eigenartig. So, dass ich auf keinen Fall hinsehn will, aber ich kriege den Blick nicht losgeeist.

    »Aayyyh! Bringen Sie das grässliche Tier zur Strecke!«, schreit die Schöne mir plötzlich ins Ohr! Wie, in drei Teufels Namen, kommt ihr Schrei hierher zu mir in die Haftkabine? Was will die mir sagen? Wieso ist die mit einem Mal vollkommen nüchtern?! Und diese Stimme! Die Stimme hört sich an, als wäre ihr Kehlkopf mindestens hundertzwanzig Jahre alt.

    Der Steward baut sich an ihrem Tisch auf, um ihren spitzen Schrei mit dem Bassbaritonbrustton der Überzeugung zu parieren: »Sie befinden sich hier an Bord eines Luxus-Restdampfers. In unserm Laboratorium gibt‘s keine ...«

    Während die Hübsche gar nicht daran denkt, ihm zuzuhören, sondern vom Stuhl hochschnellt und durch die Gegend kreischt: »Da vorne, unter die Anrichte gehuscht, das Vieh, hat eine, seltsam, eine Hutnadel, größer als es selbst, hinter sich hergezerrt. Tun Sie, machen Sie was!«

    »Wir befinden uns hier an die zweitausend Meter unter der Meeresoberfläche, Lady. Und ich darf Sie daran erinnern, wir haben uns seinerzeit vor, ich weiß es nicht, vielleicht hundert Jahren auf der Jungfernfahrt befunden, und innerhalb der hundert Stunden, die diese währte, bevor … nun, wir haben ja vereinbart, das kleine Malheur nicht mehr beim Namen zu nennen, jedenfalls innerhalb so kurzer Frist nisten sich keine Tiere, auch nicht so wollige drollige, im guten Salon ein.« Der Steward unterbricht seine Expertise kurz, ganz kurz, um den Kragen seines Livrees zurechtzuzupfen und sich bei der Gelegenheit mit flatternden Fingern ein paar aufdringliche Schuppen von der Schulter zu wedeln. »Und sollte tatsächlich eine Maus zwischen den Mehlsäcken an Bord gelangt sein, so dauert‘s eine halbe Ewigkeit, bis das Geschöpf aus den Vorratskammern, die sich bekanntlich ganz hinten im Heck befinden, bis hier rübergewandert ist. Aber, schöne Lady, bis zum Verstreichen dieser halben Ewigkeit waren die Heckräume längst feucht geworden, komplett geflutet. Und schließlich weggebrochen. Hier gibt‘s keine Tiere!«

    »Aber Mäuse«, zischt die verdammt, verdammt gut aussehende Brünette, bei der man eigentlich so eine gestelzte Empfindlichkeit gegenüber Kleinnagern gar nicht vermutet hätte.

    Russel, der hagere Bestatter, der drüben auf der anderen Seite des großen Teichs nicht nur seine kärglichen Verhältnisse abschütteln, sondern auch die Profession wechseln und endgültig zum Lyra-Virtuosen und rechtmäßigen Nachfolger des himmlischen Hermes mutieren will, dieser Russel also gibt eines seiner selbstgestrickten Meisterwerke moderner Lyrik zum Besten:

    »die Toten die Untoten fressen

    die schwarzen Wellen

    der sieben Weltmeere

    spiegelglatt«

    Mme Godot wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel, während Heizer Hart sich auf die Lippen beißt, um nicht loszuprusten, und der Bordanimateur namens Batman sein Fledermauslachen frank und frei durch die betretene Stille gackert. Indes die junge Schönheit mit dem alten Gesicht und der uralten Stimme bleibt – lyrische Höhen hin, atlantische Tiefen her – bei ihren irdischen Problemen: »Eine Maus! Hab‘ ich mit meinen ureigenen Augen gesehn!«

    Aha, verdammt, jetzt – so ganz langsam – kapiere ich, das sind meine eigenen Gespinstgespenster, die mich da in der wasseraufgeweichten Hand haben. Die Hirnwindungen verknäulen

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