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Epprechtstein: Ein Fichtelgebirgs-Krimi
Epprechtstein: Ein Fichtelgebirgs-Krimi
Epprechtstein: Ein Fichtelgebirgs-Krimi
eBook399 Seiten5 Stunden

Epprechtstein: Ein Fichtelgebirgs-Krimi

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Über dieses E-Book

Der Herbst hält Einzug im Fichtelgebirge. Für Hanns ist dies die schönste Zeit des Jahres. Seit den frühen Morgenstunden ist er auf Schwammerl-Tour, doch was er heute hoch oben auf dem Epprechtstein vorfindet, lässt seinen Sinn für die Schönheiten der Natur für immer verblassen. Während Kommissar Hager völlig im Dunkeln tappt, erreicht den Archäologen und Mystiker Martin Streitberg eine ungewöhnliche Bitte ...
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum29. März 2018
ISBN9783744854153
Epprechtstein: Ein Fichtelgebirgs-Krimi
Autor

Matthias W. Seidel

Matthias W. Seidel, Jahrgang 1965, schreibt seit seinem 18. Lebensjahr Kurzgeschichten und Erzählungen. Nach dem Studium der Sozialpädagogik und diversen Tätigkeiten in der freien Wohlfahrtspflege widmet er sich nun ganz seiner Familie und der Schriftstellerei.

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    Buchvorschau

    Epprechtstein - Matthias W. Seidel

    Vorbemerkung des Verfassers:

    Handlung sowie Personen des Romans

    sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden

    oder verstorbenen Personen wäre rein zufällig.

    Die Schauplätze des Krimis habe ich

    den Bedürfnissen meiner Geschichte angepasst.

    Wirklich echt ist nur die wilde Romantik

    des Fichtelgebirges,

    der ich all meine Ideen verdanke.

    Für B.

    FRIEDEN

    Das ist nur ein Wort, kein Gefühl.

    F.R.I.E.D.E.N

    Das sind nur sieben Buchstaben, kein Zustand.

    F-R-I-E-D-E-N

    Das ist der sehnlichste Wunsch des Menschen.

    Frieden ist eine Utopie.

    Inhaltsverzeichnis

    Kapitel

    Kapitel

    Kapitel

    Kapitel

    Kapitel

    Kapitel

    Kapitel

    Kapitel

    Kapitel

    Kapitel

    Kapitel

    Kapitel

    Kapitel

    Kapitel

    Kapitel

    Kapitel

    Kapitel

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    Kapitel

    Kapitel

    Kapitel

    Kapitel

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    Kapitel

    Kapitel

    Kapitel

    Kapitel

    Kapitel

    Kapitel

    Kapitel

    Kapitel

    Kapitel

    I.

    Nie ist der düstere Felsenkeller so klein, so hell gewesen; nie zuvor bot er so wenige Möglichkeiten zum Verstecken. Es riecht nach Erde, nach Kartoffeln und Weißkraut, nach Fäulnis und Kohlen, aber ich nehme es kaum wahr. Manchmal werden unsere Sinne einfach abgeschaltet. Seine uralten Mauern und Gewölbe werden nach wie vor von Feuchtigkeit und Salpeter zusammengehalten, aber heute weiche ich den mehligen Kristallen nicht aus, stürze vorwärts, schramme an der Wand entlang, zerreiße mir die Kleidung, suche, die Hände weit von mir gestreckt, nach Rettung, nach Schutz, nach Halt.

    Ich empfinde keinen Schmerz.

    Ich muss Zeit gewinnen.

    In der Angst sind wir alle gleich.

    Wie oft bin ich hier gewesen, habe, mit bangem Herzen und im Schein der Petroleumlampe, das Dunkel erforscht, Hand in Hand mit dem guten alten Johann. Nun hetze ich vorbei am Vorratskeller mit den unzähligen Einmachgläsern und der Kartoffelhorde, vorbei am Weinkeller mit den mannshohen Regalen und den matt schimmernden Flaschen, die Johann so sehr schätzt, passiere den Aktenkeller mit den verstaubten Ordnern vergangener Jahrzehnte und den polierten Mustersteinen, auf denen sich fingerdick Staub niedergelassen hat.

    Hier wie dort ist die vertraute Finsternis gewichen, hat Platz gemacht für eine neue, grausame Helligkeit, die sich durch jede Ritze zwängt: durch das enge Loch in der Decke, das als Entlüftung dient, durch den schräg nach oben führenden Schacht, ganz hinten im Kohlenkeller, dessen Ende mit Stroh verpfropft ist, und erst recht durch die brüchige Kellertür oben an der Treppe, die mit Lichtspeeren alarmierend um sich wirft.

    Bitte, bitte, lieber Gott, lass die Sonne verschwinden, lass mich unsichtbar werden, nur dieses eine Mal!, bete ich im Stillen.

    Im Stillen? Nein! Jeder konnte es hören, das dumpfe Grollen, das urplötzlich die anheimelnde Ruhe des Herbstnachmittags durchbrach. Dunkle Männer sind ihm gefolgt, nicht auf Donnervögeln, sondern auf den Rücken fauchender Drachen.

    Versteck dich, rasch!

    Und so bin ich gerannt, auf und davon. Erst hinunter in den Flur, dann weiter zur Kellertür, da die Männer bereits vor der Haustür standen. Nun poltert und scheppert es über mir, als ginge die ganze Welt in Scherben. Bestimmt haben sie das Haus längst besetzt.

    Was werden sie mit uns machen?

    Werden sie mir etwas antun?

    Fremde Stimmen zerbrüllen alle Hoffnung.

    Und doch bin ich ihnen entkommen, bin entwischt in allerletzter Sekunde. Alle Wärme habe ich hinter mir gelassen, all die Farben sind zerflossen. Bestimmt werden sie nach mir suchen, werden mich finden und zur Rechenschaft ziehen.

    Der Herr im Himmel vergebe mir meine Sünden.

    Ich schlittere, stolpere, komme in dem Raum vor dem Kohlenhaufen zum Liegen. Nur rasch auf die Beine, den rollenden Berg erklimmen. Aber der Schacht ist zu hoch, ich kann sein Ende kaum mit den Fingerspitzen ertasten. Meine Kräfte reichen nicht aus, mich hochzuziehen.

    Stillstand.

    Die Stimmen werden lauter, nur das Poltern hat sich entfernt. Ich zittere am ganzen Körper, und es ist kaum die Kälte, die mich dazu treibt. Ich will nicht wissen, was da oben vor sich geht. Ich verweigere allen grausamen Bildern, die sich mir unwillkürlich aufdrängen, den Zutritt zu meinem Bewusstsein. Ein Gefühl der Leere überschwemmt mich, macht mich gleichgültig, wischt die Angst und den Schrecken beiseite, macht mich gefühllos, hart, unangreifbar.

    Da, die Tür, die immer verschlossen ist! Nie habe ich auch nur einen einzigen Blick auf das werfen dürfen, was sich dahinter verbirgt. Aber ich kenne die Geschichten, ich kenne sie alle. Der gute Johann hat sie mir erzählt. Ich balle meine Hände zu Fäusten, beiß die Zähne aufeinander, hämmere mit aller Gewalt gegen den Riegel und das rostige Vorhängeschloss.

    Schnapp!

    Das Schloss fällt zu Boden. Ich klappe den Riegel nach oben. Etwas drückt gegen mich. Ich weiche zurück, halte den Atem an. Die Tür dreht sich röchelnd in den uralten Angeln. Ein modriger Wind weht mir um die Nase.

    Da ist er! Es gibt ihn also tatsächlich!

    Am Boden liegen Steine und Geröll. Spinnweben hängen von der niedrigen Decke herab. Dahinter lauert nichts als Ungewissheit. Ein verborgener Ort in einer verborgenen Zeit.

    Niemandsland.

    Tapfer trete ich über die Schwelle. Nur kurz sehne ich mich nach Johanns schützender Hand, nach seiner hellen Petroleumlampe und seinem unerschöpflichen Wissen.

    Plötzlich wird es hell. Es ist soweit! Jemand muss die Tür zum Keller aufgestoßen haben. Schwere Schritte eilen die Stufen hinab. Ich raffe nach dem Schloss am Boden und verberge es in meiner Tasche. Im letzten Augenblick der Klarheit zwinge ich die Tür in den Riegel.

    Die Welt entschwindet. Dumpfe Schwärze verschlingt mich. Die ersten dicken Tränen kullern über meine Wangen, denn ich weiß es ganz plötzlich: Der goldene Herbst ist vorbei, für immer! Was mir bevorsteht, ist ein langer, langer Winter. Mein vertrautes Leben hat hier und jetzt sein Ende gefunden.

    Ich schließe die Augen, obwohl die Aussicht unverändert bleibt. Ich atme tief durch, drehe mich um und denke an die Unauslöschlichkeit alles Geschehenen. Klar und überdeutlich brennt sich die kurze Geschichte des Lebens in die grauen Falten meines Gehirns. Näher bin ich dem Tod nie gekommen.

    Ich will lernen, mich leblos zu machen.

    Das Letzte, was ich wahrnehme, ist das Fauchen der Drachen, aber dies ist bereits unwirklich, wie aus weiter, weiter Ferne. Danach höre ich nur noch die unmenschlichen Schreie, die niemals wieder verklingen sollen …

    II.

    Der Morgen schickte sich an, die Nacht zu vertreiben. Ein Blick auf den Wecker genügte, um ihm zu sagen, dass es höchste Zeit war, aufzustehen. Leise keuchend rappelte er sich hoch und schlich in die Küche hinunter. Er wollte Erna nicht wecken, obwohl ihm dies selten gelang.

    Aus dem alten Röhrenradio tönte bald das Rucksackradio auf Bayern 1. Er hörte nie einen anderen Sender, wenngleich ihn die viele ausländische Musik nervte und er die Zeiten zurücksehnte, wo von früh bis spät die alten Schlager und seine geliebte Volksmusik liefen – und eben nicht dieser neumodische Negerbeat. Heute ging es um eine Tour in Südtirol, die sie beide selbst vor vielen Jahren bewältigt hatten. Er schwelgte in Erinnerungen.

    Während er selbstzufrieden der Sendung und dem Blubbern der Kaffeemaschine lauschte, bestrich er andächtig eine Schnitte Bauernbrot mit Butter. Mit Wonne holte er drei dicke Scheiben weißen Presssack mit seinem Taschenmesser aus dem Glas, schnitt sie in Stücke und verteilte diese wie ein Fliesenleger auf dem Brot.

    Als der Kaffee vor ihm dampfte und er genussvoll in sein Frühstück biss, wurde die Küchentür aufgestoßen.

    »Ich wollt’ dich extra nicht wecken«, brummelte er los und wischte sich mit dem Handrücken Butter von der Oberlippe.

    Erna schlurfte in ihren rosa Pantoffeln zum Tisch und setzte sich. »Du kannst ja nix dafür. Ich hab die ganze Nacht schlecht geschlafen.«

    »Na dann.« Er nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Topf und stellte das Radio etwas lauter. »Horch, da sind wir beide gewesen. Erinnerst dich?«

    »Freilich«, bestätigte Erna, während sie sich erhob und zur Kaffeemaschine hinkte.

    Er biss kräftig in sein Presssackbrot. »Was ist denn los?«, erkundigte er sich schmatzend.

    Erna kam mit einem vollen Topf zum Küchentisch balanciert. »Mir tut alles weh!« Sie stellte die Tasse ab, stemmte die Hände in die Hüften und versuchte, ihren Rücken zu strecken.

    »Mir auch«, brummelte er, schob sich den letzten Bissen in den Mund und schlürfte seinen Kaffeetopf leer. Anschließend erhob er sich wortlos vom Tisch und verließ die Küche.

    »Pass auf dich auf, Hanns!«, rief ihm Erna hinterher. »Nicht, dass du wieder hinfällst …« Sie hielt inne. Der Schmerz war unerträglich.

    Nachdem er die Haustür geräuschvoll hinter sich ins Schloss gezogen hatte, atmete er tief durch. Es würde ein herrlicher Tag werden. Die Frühnebel wabberten über Feld und Flur, stiegen träge aus den tiefgrünen Fichtenwäldern empor, suchten ihr Heil in dem von der Sonne noch unerreichten Firmament. In der Ferne mühten sich die Hügel und Höhen der Berge vergeblich um Bodenhaftung. Wie in einer Waschküche verschleierte der Morgendunst ihre wahren Dimensionen, ließ sie erst anwachsen, bald darauf wieder in sich zusammensinken.

    Er liebte seine Heimat, und er liebte den Lauf der Jahreszeiten. Ganz besonders aber hatten es ihm der Spätsommer und der Herbst angetan. Wenn die Tage kürzer wurden, die Welt von jetzt auf dann bunter und stiller zu werden begann, dann – und nur dann – schlug seine Stunde. Da machte er sich im Morgengrauen auf, den Wegen zu folgen, die nur er kannte.

    Erna hatte natürlich recht, wenn sie ihn zur Vorsicht ermahnte. Letzten September war er gestolpert, über einen dicken Wurzelarm, der im Zwielicht und unter Moos und Schwarzbeersträuchern nicht zu erahnen gewesen war. Längelang war er hingefallen, hatte sich den Fuß verstaucht und den Arm verdreht. Wie ein geprügelter Hund war er erst spät am Abend zu seiner von Sorgen kramen Erna zurückgekehrt, humpelnd und ganz elend anzuschauen. Seither musste er eines dieser neumodischen Dinger mit sich führen. Erna bestand darauf. Und wehe dem, er hatte es nicht die ganze Zeit über eingeschaltet. Dann gab es richtig Krach.

    Obwohl er wusste, dass sie sich nur Sorgen um ihn machte, kam er sich seither auf Schritt und Tritt beobachtet vor. Und überhaupt: Es gab genügend Plätze, an denen dieses Ding einfach nicht funktionierte – Funkloch, oder wie immer sich dieser Zustand schimpfte. Früher hat es solchen Firlefanz nicht gebraucht!, hatte er trotzig verkündet. Eine Woche war er Erna aus dem Weg gegangen, hatte nur das Allernötigste mit ihr gesprochen. Umsonst.

    Gequält zog er das Gerät aus der Jackentasche, hielt es wie ein verrotztes Taschentuch in der Hand und kontrollierte sowohl die Empfangsbereitschaft als auch die Akkuleistung. Sodann schritt er voller Vorfreude die Straße entlang und bog alsbald rechts in einen schmalen Pfad ab, der ihn zunächst zwischen Feldern hindurch, später an einem kleinen Weiher vorbei, schlussendlich hinauf in den Wald führte.

    Nicht ihm galt in den bevorstehenden Wochen seine ungeteilte Aufmerksamkeit, sondern den Pilzen, die jetzt übermütig fast überall aus dem Boden schnellten. Aber die richtigen Plätze, die, wo seine Lieblinge, die Steinpilze, zu wahrer Größe heranwuchsen, kannten nur er und paar wenige alteingesessene Pilzjäger. Kiloweise schleppte er sie jedes Jahr mit nach Hause. Auf dem Dachboden hatte er sich Regale gebaut, wo sie zum Trocknen ausgelegt werden konnten. Inzwischen hatte sich ein schier unerschöpflicher Vorrat angehäuft. So manches Mittagessen wurde damit veredelt. Ob Schweinebraten oder Wiener Schnitzel, Roulade oder Gänsebrust, er liebte sie zu all seinen Leibspeisen.

    Wie man den Gallenröhrling mit einem Steinpilz verwechseln konnte, würde ihm auf ewig ein Rätsel bleiben. Wer keine Ahnung von Pilzen hat, sollte das Sammeln sein lassen und sich mit Konserven begnügen. Außerdem rissen die meisten Laien das halbe Pilzgeflecht bei der Ernte gleich mit aus dem Boden. Was blieb war ein hässliches Loch, in dem bestimmt nie wieder ein Pilz wachsen würde.

    Verfluchte Amateure!

    Auch der Maronenröhrling stand auf seiner Liste, die selten gewordenen Pfifferlinge oder die in Massen vorkommenden Birkenpilze. Zur Not taten es selbst Champignons, die zierlichen Stockschwämmchen oder Butterpilze. Diese galt es jedoch am selben Tag zu verspeisen, denn zum Trocknen eigneten sie sich nicht. So gab es an diesen Abenden für seine Erna und ihn stets eine Pfanne voll herrlich duftender Pilze in Rührei.

    Und Tschernobyl?

    Was soll’s?, sagte er jedem, der es hören wollte. Das Fichtelgebirge strahlt ja von Haus aus. Mein Vater ist sechsundneunzig geworden. Und der hat ein Leben lang hier gewohnt und seine Pilze gegessen.

    Mit Argusaugen (und dem Spürsinn des Kenners) drehte er seine erste Runde. Seine festen Schritte wurden von dem weichen Nadelboden abgefedert; aus den tiefgrün schimmernden Moosteppichen spritzte bei jedem Tritt das Wasser in winzigen Fontänen empor. Vor zwei Tagen hatte es bei milden Temperaturen ausgiebig geregnet. Die Erfolgsaussichten waren hervorragend.

    Hanns hatte eine imaginäre Landkarte von diesem Wald in seinem Kopf, ein auf den Meter genaues Abbild all der Standorte, an denen seine Freunde zuhauf gediehen. Kein Hindernis konnte ihn aufhalten: kein Pflanzzaun, kein Gestrüpp, selbst das dichteste Unterholz nicht. Nach dem warmen Guss benahmen sich die jungen Fichten wie klatschnasse Scheuerbürsten. Das bunte Laub der Buchen, Ahorne und Birken triefte ohnegleichen. Obwohl er eine dicke Jacke anhatte, konnte es leicht vorkommen, dass ihn bei der Kontrolle einer Pilzkolonie unter Ästen und Sträuchern das kalte Nass wie aus Bechern in den Nacken rann. Aber davor scheute ein echter Pilzgänger nicht zurück. Es gehörte einfach dazu, war der Tribut an den Wald, den er seiner Schätze beraubte.

    Im Nu hatte er den ersten Stoffbeutel mit Steinpilzen gefüllt. Er grinste wie ein Honigkuchenpferd, als er aus dem Dickicht brach, sein Messer am Hosenbein abwischte und auf den Forstweg einbog.

    Die aufgehende Sonne entzündete die Spitzen der Fichten. Orangerot leuchteten sie wie brennende Kerzen zu ihm hinunter. An einem Stamm in nächster Nähe rannte ein Kleiber um sein Leben. Hoch über ihm verkündete eine Krähe den Tagesanbruch. Ein aufgeschreckter Hase ergriff die Flucht. Ein verschlafenes Reh kreuzte seinen Weg.

    »Ist das nicht wunderschön?«, murmelte er selbstvergessen vor sich hin. Heute war ein Tag wie kein anderer. Vielleicht sollte er bis hoch zur Ruine laufen, die Aussichtsplattform erklimmen und das Über-den-Wolken-schweben genießen. Lange war er nicht mehr da oben gewesen – zu lange, wie er feststellte.

    Er verließ den Forstweg, wandte sich nach links, kreuzte eine Gruppe junger Erlen, die rings um einen verwachsenen Tümpel gediehen, und fand sich bald auf dem Pfad wieder, der ihn, den Rundwanderweg kreuzend, direkt bis zum Gipfel führte.

    *

    Irgendetwas war heute anders als sonst. Er spürte es in seinem linken Knie, als er sich der Hütte näherte, die als Unterschlupf und Rastplatz diente. Gegenüber standen stumm die drei Leichenstümpfe der alten Buchen, die vor Jahren einem Sturm zum Opfer gefallen waren. Zwischendrin thronten nach wie vor die steinernen Bänke und der massive Tisch aus heimischem Granit. 1805 war an seiner Stirnseite zu lesen, das Jahr, in dem Preußenkönig Friedrich Wilhelm zusammen mit Gattin Luise den Epprechtstein bezwungen hatte. Für den hohen Besuch waren extra Treppen und Wege angelegt worden, damit das Herrscherpaar ungehindert die reizvolle Aussicht genießen konnte. Anschließend tafelte man königlich im Steinrund am Luisensitz. Leider wurde die ausgelassene Stimmung des Tages durch die Kunde von Napoleons Rheinüberschreitung getrübt.

    »Das interessiert heutzutage sowieso keinen mehr«, resümierte Hanns und stapfte weiter.

    Vereinzelt wurden träge Nebelfahnen über den Rand des schmalen, nach Südwest gerichteten Plateaus gespült, das die Gipfelregion in zwei etwa gleichgroße Hälften teilte. Hanns blieb stehen. Direkt neben dem Pfad schimmerte ein Hexenring im taubewehrten Gras. Hier oben hatte er bislang keinen gesehen. Er bückte sich und musterte die kreisrunde Erscheinung. Waren das Feldschwindlinge? Oder späte Risspilze? Er war sich plötzlich nicht mehr sicher, und das war ihm, dem Pilzkenner par excellence, wirklich niemals untergekommen.

    »Teufelnocheins!«

    Er wagte es nicht, einen der Fruchtkörper aus dem Kreis zu nehmen – in dieser Hinsicht war er abergläubisch. Er hatte bisher auch nie einen von ihnen betreten und für nichts in der Welt vor, dies heute zu ändern. Dass das bestenfalls Unglück brachte, wusste jedes Kind. Es gibt Dinge, die lässt man lieber bleiben. Das Schicksal herauszufordern war nicht seine Lebensart.

    Er wollte sich eben aufrichten, als ihn der Schmerz ohne Vorwarnung in die Lendenwirbel fuhr. »Hexenschuss, auch das noch!«, jammerte er mit schmerzverzerrtem Gesicht.

    Jetzt passte alles zusammen. Mit Mühe (und eine Hand stützend in die Hüfte gestemmt) wollte er den Rückweg antreten. Die Lust an der Aussicht war ihm mit einem Mal restlos vergangen. Jetzt würde er Stunden brauchen, um nach Hause zu kommen. Falls sich dies überhaupt bewerkstelligen ließ.

    Während er überlegte, ob es in dieser misslichen Situation nicht besser wäre, die gesammelten Pilze hier zu lassen oder Erna anzurufen, um sich von ihr Rat und Tat zu holen, erkannte er etwas an der steil aufragenden Felswand neben dem Königsweg, das dort nie und nimmer hingehörte. Es sah aus wie ein Kreuz, aber verkehrt herum. Und da hing etwas an ihm. Oder spielten ihm seine Augen einen Streich?

    »K-r-u-z-i-f-i-x«, stammelte er fassungslos. Sein Herzschlag setzte aus; ihm wurde kurz schwarz vor Augen. Gegen seinen Willen (und unter ziehendem Schmerz) humpelte er entschlossen darauf zu, befand sich bald auf dem Steinweg, direkt unter dem seltsamen Gebilde, und erstarrte. »Herrgott, das darf doch nicht …«

    Überall geronnenes Blut. In einer breiten Fahne pappte es am Fels. Unter seinen Füßen hatte es sich zu einer dicken, matt schimmernden Lache verkrustet. Er hatte schon viel Blut in seinem langen Leben gesehen. Früher, als sie zuhause alljährlich das Schwein geschlachtet hatten, das ganz hinten in der Scheune ein kümmerliches Dasein fristete, das er als Kind nur zweimal zu Gesicht bekam, an dem Tag, als sie es in den finsteren Stall führten, und an dem Tag, da es geschlachtet wurde. Er hatte immer das Blut in der Schüssel rühren dürfen, und es hatte ihm nie etwas ausgemacht. Sein Vater hatte ihm gezeigt wie man Hühner, Gänse und Tauben ausnahm, wie man den Hasen das Fell abzog, damit es unversehrt und sauber blieb und für gutes Geld verkauft werden konnte. Aber das hier war etwas anderes. So viel Blut auf einem Haufen hatte er nie zuvor gesehen. Es musste hektoliterweise geflossen sein.

    Zögernd, mit trockenem Mund und schweißnassem Gesicht, hob er scheu den Blick. Da hing ein Kreuz über ihm, ein Holzkreuz, und an diesem Kreuz war ein nackter menschlicher Körper befestigt. Da waren Arme, links und rechts, aber keine Hände, nur Stümpfe. Und auch dazwischen fehlte etwas. Dort, wo der Kopf sein sollte, klaffte ein ausgefranstes, dunkelrotes Loch.

    Hanns wich ein, zwei Meter zurück, ging in Begleitung eines Schmerzensschreis in die Hocke, versuchte sich mit einer Hand am Fels abzustützen, wurde durch das entstandene Ungleichgewicht um 90 Grad gedreht und gegen die Wand gedrückt.

    Schluss, aus, vorbei!

    Ergeben lehnte er sich gegen den kalten Granit und fummelte umständlich sein Handy aus der Jackentasche. Im Speicher befanden sich zwei Telefonnummern: die von daheim und die des Notrufs.

    III.

    Fürchtegott Hager hatte an diesem Morgen verschlafen. Das war ihm, solange er denken konnte, niemals untergekommen. Ob es daran lag, dass er am Abend zuvor vergessen hatte, den Radiowecker auf Alarm zu stellen, wusste er im Nachhinein nicht zu sagen. Er war hochgeschreckt, eilig aus dem Bett gesprungen und ins Bad geschlitzt. Fünf Minuten später hatte er, unrasiert und in den Klamotten vom Vortag, die Wohnung verlassen, hatte sich weder die Zeit genommen, die verdutzte Nachbarin im Treppenhaus zu grüßen noch die Tageszeitung aus dem Briefkasten zu nehmen. Er war, als sei der Teufel hinter ihm her, blindlings über den Rasen gespurtet, hatte sein Garagentor lautstark aufgerissen, keuchend den Schlüssel ins Zündschloss gefummelt und mit durchdrehenden Reifen und lautem Motorgeheul die Einfahrt verlassen. Um ein Haar wäre er dabei von einem Wagen erfasst worden.

    Ganze vierzehn Tage war er bereits Strohwitwer. Noch einmal so lange würde es dauern, bis Irmgard in seinem Leben wieder für die nötige Ordnung und Gleichmäßigkeit sorgen würde. Nie im Traum hätte er gedacht, dass sie ihm derart fehlen könnte. Er ging ihr zwar nicht aus dem Weg, aber wie es eben nach dreiundzwanzig Ehejahren üblich ist, hatte sich jeder seine Freiräume erfochten. Die gemeinsam verbrachte Zeit hielt sich im Rahmen des Unumgänglichen. Für gewöhnlich liebte er die Stille in der Wohnung, selbst bei den Mahlzeiten. Jetzt war es ihm eindeutig zu monoton. Die Geräusche aus den Nachbarwohnungen kamen ihm leiser vor als sonst, wo es leicht passieren konnte, dass er seine Mitbewohner an Rücksicht und – falls unumgänglich – an Vorschriften erinnerte. Verwundert stellte er fest, dass er Selbstgespräche führte: im Bad, im Wohnzimmer, sogar im Schlafzimmer. Zudem war er bereits um drei Kilo abgemagert, und daran war nicht nur das dürftige Kantinenessen schuld. Der Hunger wollte einfach nicht kommen, nicht in der sterilen Kantine, und erst recht nicht zuhause, wenn er allein am Tisch saß und ihn die Einsamkeit übermannte. Das war ganz und gar neu für ihn. Richtig unheimlich!

    Was musste sie auch diese sinnlose Kur antreten. Seit zweiunddreißig Jahren arbeitete er nun ohne Unterlass; an eine Kur für ihn hatte bisher keiner gedacht. Beschweren wollte er sich nicht, weder bei seinem Hausarzt noch bei seiner Frau, aber wenn es einer verdient hatte, alle viere von sich zu strecken, dann er!

    Bad Soundso, irgendwo an der Ostsee. Er hatte den Namen nie gehört und gleich wieder vergessen, nachdem sie ihm allerlei Prospekte und die Kostenzusage der Krankenkasse präsentiert hatte. Nicht im Traum hatte er damit gerechnet, dass sie Ernst machen würde. Alles, was von ihr geblieben war, war eine Telefonnummer für Notfälle. Am dritten Tag, nachdem sie ihn mit zwei Koffern und einer Handtasche bewaffnet in einem Taxi verlassen hatte, hatte er die Nummer in sein Handy eingegeben, an erster Stelle, unter der Rubrik Familie! Je länger er ohne sie auskommen musste, desto stärker wurde der Wunsch, einen Notfall zu konstruieren.

    In Rekordzeit hatte er seinen Parkplatz erreicht. Nicht, dass ihn irgendwer für die Verspätung gerügt hätte oder gar irgendwelche Konsequenzen zu erwarten waren (es war Samstagmorgen), nein, einzig und allein seine Vorstellung von Arbeitsmoral, seine Dienstbeflissenheit sowie ein Berg unerledigter Aufgaben war für den Eifer verantwortlich. Früh war er der Erste, abends der Letzte. Morgenstund hat Gold im Mund! war einer seiner Lieblingssprüche. Was du heute kannst besorgen … ein anderer. Er galt von jeher als hochgeschätzter Kollege, genoss seit Jahren seitens seines Vorgesetzten jedwede Handlungsfreiheit. Man konnte sich allzeit auf ihn verlassen. Hundertprozentig!

    Ungesehen betrat er das Gebäude durch den Seiteneingang, stapfte eilends die Treppe hinauf, den leeren Gang entlang, und huschte unbemerkt in sein Büro. Erst als er hinter seinem Schreibtisch saß und die Kaffeemaschine vor sich hin röchelte genehmigte er sich eine Minute der Ruhe. Sein PC schnurrte leise wie ein Kätzchen. Der Bildschirmschoner zeigte im Wechsel private Urlaubsfotos aus dem vergangenen August: mehr, oft weniger gelungene Aufnahmen von Madeira.

    Er würdigte ihn keines Blickes. Drei Aktenhefter lagen vor ihm in der Mitte: zwei grüne unten, ein roter obenauf – sein heutiges Pensum. In der Ablage links warteten, penibel und in der richtigen Reihenfolge sortiert, diverse Unterlagen für die zu bearbeitenden Fälle: hauptsächlich Vordrucke und Formulare, ein Führungszeugnis, diverse Auflistungen aus der Flensburger Sündenkartei, zwei Zeugenaussagen, eine in miserablem Deutsch verfasste Selbstanzeige, eine mit Fettflecken übersäte Unfallskizze und derlei mehr.

    Das war sein Alltag. Die großen Fische schwammen im Meer; er hatte sich mit den kleinen zu begnügen, die in den Bächen, bestenfalls in den Flüssen vor seiner Haustür herumzappelten.

    Erst vor fünf Jahren war er zum Oberkommissar befördert worden. Ob er es jemals bis zum Hauptkommissar schaffen würde (seine Irmgard glaubte mit Hingabe daran), stand lange nicht fest. Die Dienststelle war zu klein, die Aufgabenstellungen nicht anspruchsvoll genug, und die Kassen des Staates waren ohnehin permanent von Leere bedroht. Für einen bescheidenen Lebensabend würde seine Pension allemal herhalten können. Irmgard würde keinerlei Grund zur Klage haben. Zusammen mit ihrer Sekretärinnenund der Zusatzrente würde sich ihr späteres Einkommen unwesentlich von den jetzigen Einnahmen unterscheiden. Die Eigentumswohnung war annähernd abbezahlt, Geld für ein neues Auto stellte nie ein Problem dar, und für den alljährlichen Sommer- und Winterurlaub würde es ebenso reichen. Bis dahin galt es jede Menge Gesetzwidriger zu überführen und dingsfest zu machen. Für ihn bestand das Leben ausschließlich aus Lug und Trug, aus Neid und Missgunst, aus Mord und Totschlag. Was übrigens den Mord anbelangte, so war er bisher von wirklich Aufsehen erregenden Fällen verschont geblieben. Totschlag, Raub, Vergewaltigung, auch Kidnapping, konnte es heutzutage immer geben, selbst hier, in der Provinz, wo sich eben nicht nur Fuchs und Hase Gute Nacht sagten.

    Selbst der harmloseste Zeitgenosse war in den letzten Jahren rücksichtsloser geworden. Brutalität stand auf der Tagesordnung. Bereits im Kindergarten prügelte man aufeinander ein, von den Straftaten an Schulen ganz zu schweigen. Wir hatten Gewalt längst zur Tugend erklärt, da half keine noch so gut gemeinte Prophylaxe, kein noch so lückenloses Gesetzbuch. Der Krieg war lange her. Die wenigen lebenden Zeitzeugen vegetierten außerhalb von Gesellschaft und Aufmerksamkeit in Pflegeheimen vor sich hin. Kein Lebewesen verlernt und vergisst so schnell wie der Mensch; kein Tier zieht so rücksichtslos mit seinesgleichen zu Felde. Brauchen wir wirklich erst einen neuen Krieg im Lande, um zu realisieren, dass wir miteinander weit besser leben können als gegeneinander? Homo sapiens sapiens, wo bist du?

    In dubio pro reo! Wenn er das schon hörte. Jeder Gangster und Dieb wurde heutzutage regelrecht ermuntert, Straftaten zu begehen, weil es ihm so mancher ungeschoren davongekommene Staatsvertreter, Industrieboss oder Fußballstar ungeniert vormachte. Nehme sich jeder, so viel er will!, so lautete die Devise. Und der Rest schaute weg. Nicht aus Gram um die herrschenden Ungereimtheiten, sondern weil er selbst mit Machenschaften abgelenkt war. Nämlich damit, seine eigenen schwarzen Schäfchen ins Trockene zu bringen, statt sich um die Impertinenzen des Nachbarn zu kümmern. Und überhaupt galt: Eine Krähe kratzt der anderen kein Auge aus. Siehst du weg, sehe ich auch weg. So läuft das!

    All diese Sozialpädagogen und Therapeuten sehen in jedem nur einen auf den falschen Weg gekommenen Engel. Eine katastrophale Kindheit genügt, um sich von aller Schuld freizusprechen. Geldsorgen oder Eifersucht rechtfertigen jedes Mittel. Aber ein gefallener Engel ist und bleibt ein Teufel. Zweifel und Strafe wären nicht nur angebracht, sondern wünschenswert, um das Volk endlich auf den Weg der Tugenden zurückzuführen.

    Er wollte sich eben erheben, um sich eine stärkende Tasse Kaffee einzuverleiben, als das Telefon klingelte. Bevor er abhob, schaute er auf seine Armbanduhr. Es war drei viertel acht. Was er zu hören bekam, konnte er kaum glauben …

    IV.

    Mit der Samstagsruhe war es vorbei. Mit der Ungewissheit ebenfalls. Ein startender Rettungshubschrauber verscheuchte unter lautem Getöse die letzten hartnäckigen Dunstschleier; ein zweiter der Polizei zog lärmend Kreise über dem Gipfel. Die Bergwacht, ein Polizeibeamter und das Team der Spurensicherung mühten sich ab, das wuchtige Holzkreuz mit dem verstümmelten Leichnam über den Rand der Ruinenmauer zu hieven. 135 Aufnahmen vom Tatort waren gemacht, Fußabdrücke für die Dauer der Ermittlungen in Gips festgehalten, sämtliche vorfindbaren DNA-Spuren gesichert. Dem zweiten Streifenpolizisten war die unerquickliche Aufgabe zugefallen, mithilfe einer Videokamera die Geschehnisse rund um den Tatort auf Speicherkarte zu bannen. Es hätte ein Dutzend solcher Kameras und Beamter gebraucht, um den gelieferten Szenen Herr zu werden. Hanns bekam von alldem nicht viel mit. In Rekordzeit war der Rettungshubschrauber auf dem schmalen Grat wie ein monströses Insekt gelandet. Sekunden später waren die Sanitäter und der Notarzt bei ihm gewesen, hatten ihn kurzerhand auf die mitgebrachte

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