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Abhängig: Powerless-Earth-Serie
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eBook323 Seiten3 Stunden

Abhängig: Powerless-Earth-Serie

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Über dieses E-Book

Eine Sonneneruption sorgt für globale Stromausfälle – eine vorübergehende Unannehmlichkeit oder der Beginn totaler Anarchie?

Als verrückter Verschwörungstheoretiker abgestempelt, tut sich Martin Monroe, Dozent für Astrophysik, schwer, die Bevölkerung von der bevorstehenden Katastrophe zu überzeugen.

Sein einziger Freund, Simon Wilson, der immer noch mit dem Verlust seiner Frau ringt, ist gleichzeitig auch der Einzige, der ihm Glauben schenkt.

Lisa Keenan, Kommunikationsbeauftragte der Regierung, muss gegen Bürokratie und mangelndes Selbstbewusstsein ankämpfen, um die Öffentlichkeit zu warnen. Entgegen der Meinung ihrer Kollegen zieht sie den Dozenten aus Belfast, Martin Monroe, hinzu.

Gefängnisaufseher und Familienvater Derek Henderson steht vor einer unmöglichen Entscheidung: Familie oder Dienstpflicht.

Die Welt ist von der Technologie und der Elektrizität, die sie antreibt, komplett anhängig. Wird diese Abhängigkeit zu einem gesellschaftlichen Zerfall im globalen Maßstab führen?

»Einige Romane sorgen einfach für Unterhaltung, andere hingegen gehen einen Schritt weiter. ›Abhängig‹ zeigt auf, wie wenig es braucht, bis die meisten Gesellschaften einen Tipping-Point erreichen.«

– STEVE ROGAN (Autor von ›Tracks‹ und der Rain-Saga-Trilogie)

SpracheDeutsch
HerausgeberBadPress
Erscheinungsdatum15. Apr. 2021
ISBN9781071595299
Abhängig: Powerless-Earth-Serie

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    Buchvorschau

    Abhängig - Paul McMurrough

    Für meine Eltern Ann und Eddie:

    Danke für eure unerschütterliche Unterstützung

    in all diesen Jahren.

    KAPITEL I

    ––––––––

    Die Wohnungstür fiel hinter Simon ins Schloss. Sein Smartphone lag immer noch auf dem Schreibtisch, wo er es gestern Abend hingelegt hatte, und zeigte geräuschlos einen weiteren Anruf in Abwesenheit an. Er drückte den Knopf für den Aufzug.

    Simons Block hatte zwanzig Wohnungen und war eines von drei identischen Gebäuden einer bewachten Wohnanlage in der Innenstadt. Am Haupteingang gab es ein schmiedeeisernes Tor, hintenrum verlief der Fluss und ein hoher Eisenzaun grenzte die anderen drei Seiten des Komplexes ein.

    Simon betrat den Fahrstuhl. Er war klein: Vier Personen passten gerade mal so hinein. Mit einem Blick in den Spiegel an der Rückwand rückte er seinen Kragen zurecht. Die Wanderjacke, die er so gerne trug, wurde langsam ein wenig eng. Er hatte zwar den Körperbau eines alternden Rugbyspielers, naschte aber auch gerne wie ein zehnjähriger Junge. Aus diesem Grund hatte er vor Kurzem einen neuen Anlauf genommen, fitter zu werden. In den zwei Wochen seit seinem Entschluss war er jeden Morgen zu Fuß zum Laden gegangen und hatte es sogar einige Male ins Fitnesscenter geschafft, wo er es erst einmal ruhig angehen lassen wollte. Er hatte Mitte zwanzig mit dem Rugbyspielen aufgehört. Simon konnte an einer Hand abzählen, wie oft er in den zehn Jahren seit seinen Tagen auf dem Rugbyfeld im Fitnessstudio war.

    Die Türen des Aufzugs öffneten sich und Simon sah seine Nachbarin, Frau Flemming, die rückwärtsgehend schwere Einkaufstaschen über die Schwelle am Eingang hievte. Ihr grellgrüner Mantel dehnte sich dabei über ihre nicht ganz so schlanke Hüfte. Simon hastete zum Eingang, streckte seinen Arm aus, um die zufallende Tür hinter ihr offen zu halten, erreichte sie aber etwas zu spät und fand sich schließlich in einem ungeschickten Beinahe-Heimlich-Manöver mit Frau Flemming wieder.

    »Immer mit der Ruhe, mein Junge«, sagte Frau Flemming grinsend. »Geben Sie mir wenigstens zuerst einen Drink aus.«

    Beschämt trat Simon einen Schritt zurück, die Hitze stieg ihm ins Gesicht. »Guten Morgen, Janet, Sie sind heute aber schon früh unterwegs.«

    Frau Flemming musste Ende siebzig sein. Eine pensionierte Rechtsanwältin, die alleine lebte. Sie schien an seinem Unbehagen Gefallen zu finden.

    »Kann ich Ihnen mit den Einkaufstaschen helfen?«, fragte er und zeigte auf ihre schweren Tüten.

    »Seien Sie nicht albern, ich muss ja nur bis zum Aufzug, aber danke der Nachfrage. Ein echter Gentleman.«

    Das ›Ding‹ des Aufzugs spornte sie zu einem wackeligen Spurt an, ihre ausgetretenen Turnschuhe quietschten auf dem Fliesenboden.

    »Bis später, Romeo!«, rief sie ihm neckisch über ihre Schulter hinweg zu.

    Frau Flemming und ihre Taschen nahmen fast den gesamten Platz im Fahrstuhl ein. Sie schien sich immer noch über ihren Spruch zu amüsieren und schenkte Simon ein warmes Lächeln. Die Türen schlossen sich.

    Simon strich sich mit den Händen übers Gesicht, um die Verlegenheit loszuwerden, schüttelte kurz den Kopf und trat schließlich mit einem Lächeln hinaus in das helle Sonnenlicht. Es war ein wunderschöner Sonntagmorgen.

    Der Spaziergang bis zum Laden würde etwa zehn Minuten dauern. Er musste zugeben, dass er sich auf etwas Bewegung an der frischen Luft freute. Bevor er mit seinen täglichen Spaziergängen angefangen hatte, zeigte sein Fitbit-Aktivitätstracker, den er von seiner Schwester geschenkt bekommen hatte, selten mehr als tausend Schritte pro Tag an.

    Der Weg würde ihn über die Brücke am Bahnhof und dann am alten überdachten Markt vorbeiführen. Noch vor dem Bahnhof würde er sich jedoch durch das Gedränge an einer der belebtesten Bushaltestellen der Stadt kämpfen müssen. An Wochentagen herrschte dort ein fürchterliches Gewühl von übermüdeten Berufspendlern, die beim Warten sogar die Straße versperrten. Eine Schneise durch die Menschenmenge zu pflügen, war ein Akt höflicher Aggression. Obwohl heute Sonntag war, standen bereits acht bis zehn Menschen an der Bushaltestelle.

    Simon beobachtete die Leute aus der Ferne. Alle Augenpaare im Bushäuschen waren nach unten gerichtet, auf Smartphones oder Tablets. Er schüttelte selbstgerecht den Kopf. An jedem anderen Tag wäre er ein Heuchler gewesen, doch sonntags lebte er ›vom Netz abgekoppelt‹, das heißt ohne Telefon, Internet oder Fernsehen. Heute durfte er sich also darüber aufregen, dass Jugendliche zukünftig mangelnde soziale Kompetenzen haben würden.

    Es waren aber nicht nur junge Menschen an der Bushaltestelle, die mit den Augen am Bildschirm klebten; alle Wartenden hatten die Köpfe gesenkt, manchmal mehrere Köpfe pro Display.

    Er schnaubte und dachte sich im Stillen: Eine Generation von Robotern.

    Simon erreichte die Haltestelle, als einer dieser neuen Busse mit Hybridantrieb wegfuhr. Im Bus das gleiche Schauspiel: Alle Passagiere schauten gebannt auf ihre Smartphones. Die Ausnahme war eine junge Frau mit rotem Hut, die begeistert einem Freund zuwinkte. Der Freund auf dem Gehweg winkte ebenfalls und warf ihr einen Luftkuss zu. Der Austausch weckte Erinnerungen. Manchmal sah, hörte oder roch er etwas, das eine tiefe Traurigkeit in ihm weckte. Simon fühlte sich plötzlich hoffnungsleer und senkte den Blick. Er spürte, wie seine Augen feucht wurden.

    Die letzte Geste seiner Frau war ebenfalls ein Luftkuss gewesen. An jenem schicksalsträchtigen Tag saß sie in ihrem Auto an der Kreuzung, wo sie ihn zuvor abgesetzt hatte. Sie wartete auf das grüne Licht und er auf das grüne Männchen, um vor ihr die Straße überqueren zu können. Beide machten alberne Gesichter. Sie gewann. Als die Ampel von Rot auf Grün wechselte, warf sie ihm einen Handkuss zu und fuhr los.

    Sie war keine zehn Meter weit gekommen, als ein riesiges Etwas quietschend auf sie zu schleuderte und ihr Auto seitwärts rammte. Ein Lieferwagen. Wie ein Schneepflug stieß er ihr Auto quer über die Fahrbahn vor sich hin, bis es schließlich an einem Laternenpfahl zum Stehen kam. An manchen Nächten rissen Simon die Schreie der Umstehenden aus dem Schlaf – auch heute noch. Sarah war sofort tot.

    Als sie sich kennenlernten, spürten sie schnell, dass es Liebe war und freuten sich auf ein langes Eheleben zusammen. Sie hatten zwei Monate.

    Manchmal wünschte sich Simon, dass er mit ihr im Auto gewesen wäre. Ohne Sarah schien das Leben sinnlos.

    Der Lenker des Lieferwagens hatte später zugegeben, dass er am Handy und somit abgelenkt war. Er wurde wegen fahrlässiger Tötung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Er war jetzt seit vier Monaten im Gefängnis.

    Als das Lebensmittelgeschäft in sein Blickfeld rückte, riss sich Simon aus seinen düsteren Gedanken. Er kaufte oft in diesem kleinen Laden ein. In den letzten zwei Wochen war er geradezu Stammkunde geworden. ›Owens’ Groceries‹ war nur etwas größer als ein Tante-Emma-Laden und versorgte die Gemeinde schon seit über fünfzig Jahren mit Lebensmitteln. Seamus und Ethna Owens gründeten und führten das Geschäft zusammen, bis Ethna vor ein paar Jahren verstarb. Seither stand Seamus alleine an der Theke. Er machte seine Sache gut, schien den Druck der großen Ketten mit ihren riesigen Kaufhäusern im Stadtinneren aber zu spüren.

    Etwa hundert Meter vor dem Laden sprintete ein Teenager – und dann gleich noch einer – an Simon vorbei, der wie angewurzelt stehen blieb.

    Die Jugendlichen kamen vom Lebensmittelladen, aus dem Owens nun hervortrat. Er war rot vor Wut, schrie und fuchtelte mit einem bedrohlich aussehenden Knüppel. Die Schlagwaffe war fast einen halben Meter lang und aus poliertem Hartholz. Der Knüppel würde bei einer Schlägerei viel Schaden anrichten, auch wenn der Besitzer selbst nicht mehr ganz jung war.

    »Lasst euch hier nochma’ blicken und ich brech’ euch die Beine, ihr kleinen Arschlöcher.« Die Schimpfwörter kamen Owens nur unnatürlich über die Lippen. Er musste von den Ladendieben wirklich die Nase voll haben.

    Simon näherte sich und fragte vorsichtig: »Alles okay, Seamus?«

    »Die Scheißkerle stehlen schon seit Wochen«, schäumte Seamus vor Wut und gestikulierte dabei mit seinem antiken Schlagstock wild umher. »Wenn ich die zu fass’n krieg, hau ich denen den Schädel ein.«

    »Hast du die Polizei angerufen?«

    »Bringt nichts«, sagte Seamus knapp und schlurfte gleich wieder zurück zum Laden, sein linkes Bein hinkte etwas hinterher – ein Überbleibsel eines vor ein paar Jahren erlittenen Schlaganfalls.

    Wahrscheinlich war er in jüngeren Jahren mal richtig fit, und seine krumme Nase – wohl ein Boxer, überlegte Simon. Die krumme Nase überschattete einen grauweißen Schnauzbart. Simon musste immer an den Cowboy der Y.M.C.A.-Band ›Village People‹ denken, der in diesem Fall seine Chaps an den Nagel gehängt und einen Tante-Emma-Laden eröffnet hatte.

    Der Laden – oder vielmehr Seamus – hatte einen ganz bestimmten, nicht unangenehmen Geruch, der Simon an Pears-Stückseife erinnerte. In seiner Kindheit hatten alle seine älteren Verwandten das durchsichtige, goldschimmernde Oval im Badezimmer.

    »Was hältst du davon?«, fragte Seamus und deutete zum Fernseher in der Ecke über der Kasse. »Sie könn’ sich nicht entscheiden, ob er tot ist oder nicht.«

    »Wer? Was ist passiert?«, fragte Simon stirnrunzelnd.

    »Trump wurde letzte Nacht angeschossen«, sagte der Ladenbesitzer, während Simon die Laufschrift am unteren Rand der Sondermeldung las.

    »Scheiße, wann ist das denn passiert? Ich habe davon gar nichts mitbekommen.« Simon las die verschiedenen Nachrichtenmeldungen auf dem uralten Fernseher mit großen Augen.

    »Gestern Nacht, so um vier Uhr morgens unsere Zeit.«

    Simon bedauerte es nun, sein Handy zu Hause gelassen zu haben. Stattdessen begnügte er sich mit einer Zusammenfassung der Ereignisse von Seamus, der sehr aufgeregt schien.

    »Vor einer Stunde sagten sie noch, er sei tot, jetzt heißt es plötzlich, er sei auf der Intensivstation. Die haben keine Ahnung, was los ist«, meinte Seamus und deutete mit dem Kopf zum Reporter. Er zappte mit der riesigen Fernbedienung durch die Kanäle, bis er einen Nachrichtensprecher fand, den er wiedererkannte. Jeder Sender unterbrach das normale Programm mit einer Eilmeldung zu Trump.

    »Sie vermuten, es sei ein Agent des Secret Service gewesen«, sagte eine Stimme hinter ihnen.

    Ein zweiter Kunde hatte den Laden betreten, während Simon und Seamus auf die Nachrichten fixiert waren. Simon hatte den Mann schon einige Male gesehen, hatte aber erst einmal mit ihm gesprochen, als sie vor einem heftigen Regenschauer im Türdurchgang Schutz suchten. Sie hatten sich damals nicht gegenseitig vorgestellt, Simon hatte aber überhört, wie Seamus ihn Derek nannte.

    Der große Mann gesellte sich zu ihnen an die Theke und verfolgte die Nachrichten aufmerksam.

    Dereks Aufmachung war heute viel lockerer, als es Simon an anderen Gelegenheiten beobachten konnte. Normalerweise war er frisch rasiert und trug formelle Hosen, passend zu den makellos polierten Schuhen. Heute trug er Jeans und ein graues Sweatshirt. Sein Gesicht sah müde aus, die Bartstoppeln und die dunklen Schatten unter den Augen standen in starkem Kontrast zu seinem sonst so dynamischen Auftreten.

    »Das Internet ist voll mit Theorien«, sagte Derek. »Wahrscheinlich ist er tot und sie überlegen sich, was sie als Nächstes tun und wie sie die Nachricht am besten veröffentlichen sollen.«

    »Ich wäre nicht überrascht«, sagte Seamus, der aufhörte, herumzuzappen und die Fernbedienung unter der Theke verstaute.

    Die drei Männer schauten, ohne etwas zu sagen, die Nachrichten.

    Nach einer Weile unterbrach Simon das Schweigen. »Also, ich brauch noch ein paar Sachen.« Er stand auf und griff nach der Tageszeitung. Zur Schießerei stand nichts drin; die Morgenauflage musste vor dem Ereignis gedruckt worden sein.

    Er kaufte die Zeitung und einen ›Krisen‹-Blaubeermuffin. Derek und Seamus diskutierten immer noch über das Ereignis in den USA, als er das Geschäft verließ.

    Auf seinem Nachhauseweg hatte Simon etwas mehr Verständnis für all die Leute, die an ihren Geräten klebten, außer für einen Fahrer, der in seinen Schoß anstatt auf die Straße schaute.

    Zu Hause angekommen warf Simon seine Jacke über die Stuhllehne und schnappte sich die Fernbedienung. Die Sender schienen zum normalen Programm gewechselt zu haben, zeigten aber noch einen Lauftext mit der Sondermeldung im unteren Drittel des Bildschirms an. Auf jeden Fall war es auf dem ersten Kanal so, den Simon wählte. Dort wurde jetzt wie jeden Sonntagmorgen eine Kochshow ausgestrahlt. Die Laufschrift zeigte eine Schlagzeile nach der anderen: US-amerikanischer Präsident bei einem Bankett im Golfklub angeschossen – Gesundheitszustand unbekannt.

    Stellungnahme aus dem Weißen Haus: Berichte über den Tod des Präsidenten nicht korrekt.

    Der Islamische Staat bekennt sich für die Ermordung des amerikanischen Präsidenten verantwortlich.

    Trump, tot oder am Leben?

    In der Nacht werden weitverbreitete Stromausfälle erwartet.

    Der Handel an der Wall Street wird am Montag ausgesetzt.

    Simon wechselte zum Nachrichtensender ›Sky News‹. Der Moderator hielt eine Podiumsdiskussion mit Experten aus Sicherheit und Politik. Alle Gäste legten basierend auf den wenigen verfügbaren Informationen ihre Einschätzungen der Situation dar.

    Aus Washington D. C. und Seattle, wo die Schießerei stattfand, kamen via Satellitenverbindung ständig neue und oft widersprüchliche Informationen.

    Simon drehte die Lautstärke auf und setzte sich auf die Armlehne seines Sofas, gespannt auf die neuesten Entwicklungen.

    [...] Das Krankenhaus hat sich geweigert, zu den Gerüchten über den Tod des Präsidenten Stellung zu nehmen und lediglich bestätigt, dass er eingeliefert wurde. Es wird keine weiteren Angaben zum Gesundheitszustand des Präsidenten machen. Wie wir wissen, Kay, tweetete ein Mitarbeiter im Weißen Haus, dass der Präsident tot sei, doch der Tweet wurde kurz darauf von der Plattform entfernt. Die offizielle Linie aus dem Weißen Haus ist, dass der Tweet ein sehr unglücklicher Verwaltungsfehler war. Könnte dies die letzte merkwürdige Wendung einer seltsamen Präsidentschaft sein? Ich bin Joy Little und berichte live aus dem Larsson Memorial Hospital in Seattle.

    Der Moderator im Studio leitete zu einer Reporterin im Weißen Haus weiter.

    Guten Morgen Kay, hier herrscht immer noch Chaos. Der Pressereferent des Weißen Hauses spricht mit niemandem aus dem Pressekorps. Es ist einfach nur die Hölle los. Seit dem ersten Tweet mit der Aussage, der Präsident sei tot und dem darauffolgenden Widerruf keine zehn Minuten später hat es noch keine offizielle Stellungnahme gegeben. In all meinen Jahren in Washington habe ich noch nie so ein Chaos und eine derartige Panik miterlebt.

    Die Berichterstatterin in Washington D. C. wiederholte den Verlauf des Geschehens. Danach wurde im Studio das Programm, das sich aus Debatte und Zusammenfassung der Ereignisse zusammenzusetzen schien, wieder aufgenommen.

    Simon ging zu seinem Schreibtisch, der in einer kleinen Nische neben dem Wohnzimmer stand. Von hier aus konnte er durch das große Fenster auf den trüben braunen Fluss hinuntersehen. Er hörte das vertraute Brummen, als er den PC einschaltete, und die drei riesigen Bildschirme erwachten flackernd zum Leben.

    Sein virtueller Arbeitsbereich war so eingerichtet, dass nach dem Hochfahren auf jedem Bildschirm bestimmte Finanzanalysen und Portale sichtbar waren. Mit einigen Tastenkombinationen waren die Fenster verkleinert und ein neues Browserfenster stand bereit.

    Er wollte wissen, was das Internet zu den Geschehnissen zu sagen hatte, und verspürte gleichzeitig eine makabre Neugier, die ihn nach einer Videoaufnahme der Schießerei suchen ließ. Öffentliche Events wurden heutzutage immer aus den verschiedensten Winkeln gefilmt.

    Die großen Nachrichtensender hatten das offizielle Bildmaterial der Veranstaltung nicht gezeigt. Irgendwo im Äther musste es aber eine Kopie oder andere Quellen geben, die Aufnahmen davon veröffentlichten.

    Simon hat schon immer mit sich selbst gerungen, wenn er das Verlangen verspürte, nach solchen Videos zu suchen. Es war eine Sache, sich Gewaltszenen oder brutale Todesfälle in Spielfilmen anzusehen. Es war ja nur Fiktion, Spezialeffekte und Make-up. Wenn er sich aber ein Video von echten Menschen in realen, beängstigenden Situationen ansah, hatte das eine viel tiefgreifendere Wirkung auf ihn. Danach fühlte er sich schuldig und schämte sich dafür, dass er eine reale Tragödie auf einen Moment der billigen Unterhaltung reduziert hatte.

    Einige würden argumentieren, dass es für die Öffentlichkeit von Interesse wäre, das wahre Geschehen zu sehen. Er wusste aber, dass er in Wirklichkeit nur seine voyeuristische Neugier befriedigte.

    »Alexa, schalte den Wasserkocher ein«, rief Simon in Richtung Küche, während er eine Suchmaschine aufrief. Seine Worte lösten das unverwechselbare ›Klick‹ des intelligenten Wasserkochers aus, der nun das Wasser erhitze.

    Seine Suchanfrage ergab Tausende Ergebnisse mit angeblichen Videos der Schießerei. Bei den meisten handelte es sich um Clickbait, Websites, die Benutzer mit falschen Einträgen auf ihre Inhalte locken wollten. Nach etwas Suchen fand er einen Eintrag, der echt schien. Er klickte auf das Video, das eine Menschenmenge vor einer Bühne mitsamt Podium zeigte, hinter dem das unverkennbare Gesicht Donald Trumps zu erkennen war.

    Erschrocken wandte Simon sein Gesicht vom Bildschirm ab. Wenn ich mir das ansehe, werde ich es nie wieder aus meinem Gedächtnis streichen können, dachte er und schloss das Video. Sein Gewissen hatte schließlich über seine Neugier triumphiert.

    Das Browserfenster verschwand und er ging zur Küche, um sich einen Kaffee zu machen. Simon kam mit einem Blaubeermuffin und einem Americano in seiner Lieblings-Game-of-Thrones-Tasse zurück.

    Er ließ sich wieder auf den Bürostuhl fallen und hob sein Smartphone vom kabellosen Ladegerät ab. Er hatte dreizehn Anrufe, sechs SMS und zwölf Sprachmitteilungen verpasst.

    KAPITEL II

    ––––––––

    Lisa Keenan saß in ihrem vertrauten, etwas abgetragenen Morgenmantel warm eingewickelt und mit angezogenen Knien auf ihrem Sofa. Von ihrer jüngsten Verabredung mit einem Mann, den sie im Internet kennengelernt hatte, war nur noch ein schwacher Duft übrig geblieben. Sie genoss das angenehme Prickeln, das ihr bei dem Gedanken an das Treffen über den Rücken lief.

    Sie fühlte sich voller Selbstvertrauen, was sie in Hochstimmung versetze, bis ihre Gedanken kurzzeitig zum jüngsten Treffen mit ihrem Chef abschweiften. Sie schüttelte beim Gedanken an das Mitarbeitergespräch den Kopf: Zaghaft, der kann mich mal. Ich bin alles andere als zaghaft!

    Sie strich sich eine Strähne ihres roten Haars aus dem Gesicht und zappte zwischen den Nachrichtenkanälen hin und her. Normalerweise war sie um diese Zeit am Sonntag in der Kirche – eher aus Gewohnheit als Glaube.

    Ihr Telefon surrte.

    STAC: Alle Personen im Bereitschaftsdienst müssen sich unverzüglich in den ihnen zugewiesenen Bereitschaftsräumen melden. Bestätigen Sie den Erhalt der Nachricht und geben Sie ihre voraussichtliche Ankunftszeit an.

    »Och nee.«

    Als Kommunikationsbeauftragte für die Lokalverwaltung wurde Lisa mit dem Verfassen offizieller Pressemitteilungen und Notfalldurchsagen beauftragt und war für die Verwaltung von Social-Media-Inhalten verantwortlich. Da sie das Gefühl hatte, in ihrem Job nicht wirklich wahrgenommen zu werden, hatte sie sich freiwillig für den Bereitschaftsdienst der Scientific and Technical Advice Cell (STAC) gemeldet, ein Notfallgremium, das bei nationalen oder lokalen Krisen zurate gezogen wurde. Bis heute wurde sie in dieser Funktion nur einmal zur Übung ins Büro zitiert.

    Was hat ein Attentat in Amerika mit uns zu tun? Diese Information lag ziemlich sicher über ihrer Gehaltsklasse. Sie antwortete also auf die SMS und ging ins Badezimmer, um sich fertig zu machen.

    Vierzig Minuten später zeigte sie dem Sicherheitsbediensteten an der Schranke ihren Ausweis und parkte ihren knallgelben VW Käfer im Personalparkplatz. Zur Abwechslung konnte sie sich einen Parkplatz auswählen.

    Barry Greer, ihr Vorgesetzter, musste kurz vor ihr angekommen sein, denn er hielt für sie die Tür auf.

    »Guten Morgen, Lisa«, sagte er und musste dabei seinen Kopf in den Nacken legen, um ihr ins Gesicht sehen zu können. Lisa war nicht sonderlich groß, überragte Barry aber um mindestens fünfzehn Zentimeter, dessen Kopf ihr bis zur Brust reichte. Eine Situation, die er oft auszunutzen schien.

    »Ich hoffe, du hattest für heute nichts geplant?«, fragte Barry.

    »Nicht wirklich. Du?« Sie war fasziniert von seinem überaus fettigen Haar.

    »Nein, ein Tag für ›Netflix und Chill‹.«

    Sie wandte ihren Blick ab, damit er ihr Grinsen nicht sah; er kannte wohl die tatsächliche Bedeutung des Ausdrucks nicht, sie wollte aber nicht diejenige sein, die sie ihm erklärte.

    »So, um was geht es? Noch eine Übung?«, fragte sie auf dem Weg zum Büro.

    »Ich glaube nicht. Ich werde eigentlich immer vorgewarnt, wenn eine Übung ansteht.«

    »Der Mordanschlag auf Trump?«, überlegte sie laut. »Was hat das mit uns zu tun?«

    »Keine Ahnung«, antwortete Barry etwas knapp. »Ich werde mich erkundigen.« Barry mochte es nicht, wenn Mitarbeitende Fragen stellten, die er nicht beantworten konnte. Er war als Chef im Großen und Ganzen in Ordnung, konnte aber im Handumdrehen den ›Arschlochmodus‹ aktivieren, wie die Mitarbeitenden sein Verhalten gerne beschrieben. Dieser Modus wurde meistens dann aktiviert, wenn die Geschäftsleitung in Hörweite war und vor allem dann, wenn Barry die Ideen männlicher Teammitglieder verwarf.

    »Hol dir, was du brauchst, und richte dich im Konferenzraum 2 ein«, sagte Barry zu Lisa, bevor er sein kleines, vom Großraumbüro abgetrenntes Bürozimmer betrat und die Tür hinter sich schloss.

    Lisa stellte ihre Tasche auf ihren aufgeräumten, eher leeren Schreibtisch, auf dem die Schreibtischgarnitur ordentlich und logisch angeordnet war.

    Kugelschreiber und Bleistifte befanden sich in einem mehrteiligen Stifthalter aus Plastik, daneben ein batteriebetriebener Spitzer, der in einer perfekten Linie an Hefter und Locher ausgerichtet war. Die meisten dieser Büroartikel hatte sie, seit diese bei ihrem Dienstantritt vor drei Jahren ausgestellt wurden, noch nie gebraucht. Wir sind ja auch nicht mehr in den 90er-Jahren, dachte sie.

    Ihr Hang zur Ordentlichkeit

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