Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Der letzte Titan: Gefangen am Rand der Unterwelt
Der letzte Titan: Gefangen am Rand der Unterwelt
Der letzte Titan: Gefangen am Rand der Unterwelt
eBook363 Seiten5 Stunden

Der letzte Titan: Gefangen am Rand der Unterwelt

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Äonen vor unserer Zeit verwüstete der Krieg zwischen Göttern und Titanen die gesamte Erde. In einer letzten epochalen Schlacht wurden die mächtigen Titanen schließlich besiegt und im Tartaros eingesperrt. Seitdem brennen sie darauf auszubrechen und den Kampf wieder aufzunehmen. Dies würde unsere Welt in ein neues, alles verheerendes Chaos stürzen.

Ein einziges Tor steht zwischen unserer Existenz und ihrem Untergang, verschlossen durch acht uralte Siegel. Die größten Krieger ihrer Epochen, von der Antike bis zur Neuzeit, wurden als deren Hüter und gleichfalls Wächter auserkoren, ohne ihre wahre Bedeutung zu kennen. Doch sie werden von finsteren Mächten ohne Unterlass gejagt und über die Jahrhunderte hinweg verblieb nur ein letztes Exemplar in unserer Welt.

Lena, einer jungen Lehrerin, fällt dieses letzte Siegel in die Hände. Bevor sie überhaupt ihre neue Rolle als Wächterin erahnt, wird auch sie entführt und findet sich in den postapokalyptischen, von grauenvollen Kreaturen besetzten Ruinen einer Stadt wieder. Am Rand der Unterwelt ist für sie allein das Überleben eine beinahe unmögliche Herausforderung.

Damit nicht genug steht auch das Schicksal unserer Welt auf dem Spiel. Glücklicherweise haben andere, kampferprobte Wächter aus vergangenen Zeitaltern den Bedrohungen in der Stadt bisher standgehalten. Doch um zu entkommen, müssen sie sich der letzten Schlacht um die Siegel stellen.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum15. März 2015
ISBN9783738019261
Der letzte Titan: Gefangen am Rand der Unterwelt

Ähnlich wie Der letzte Titan

Ähnliche E-Books

Fantasy für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Der letzte Titan

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Der letzte Titan - Maximilian Wagner

    Kapitel 1

    Flucht

    1

    Chicago, eine Stadt mit vielen Namen. An diesem sonnigen Junimorgen dachte man wohl am ehesten an 'the windy city'. Wie der Wind strömten auch Millionen Menschen auf den Straßen zwischen den Häuserschluchten entlang. Unter ihnen, zwischen all diesen Hochhäusern, ging auch William Eagle seiner Wege.

    Für jene, die ihn kannten, ein liebenswürdiger alter Mann oder gar ein guter Freund. Für alle anderen ein unbedeutender Buchhändler. Doch es war egal, für was ihn die Menschen hielten – sie wussten es nicht besser. Auf seinen Schultern lastete mehr Verantwortung, als die gesamte Stadt je hätte tragen können. Er war ein Wächter.

    Wie jeden Tag ging jener William Eagle die letzten zwei Kilometer zu Fuß zur Arbeit. Er wohnte in einem der vielen Vororte und der gesamte Weg wäre zu lang gewesen, deswegen fuhr er den Großteil mit dem Bus.

    Ein beunruhigendes Gefühl begleitete ihn. Ähnlich dem, wenn man nach einem Horrorfilm alleine im Dunkeln durch das Haus geht. Es störte ihn aber nicht, denn er hatte dieses Gefühl seit einigen Wochen. Er hätte sich vielleicht des Öfteren umgesehen oder umgedreht, wäre es neu für ihn gewesen. Doch so ließ er sich nichts anmerken. Unter den vielen Leuten auf der Straße fiel er nicht auf, auch wenn er der Einzige war, der bei diesem warmen Wetter einen Mantel trug. In diesem Großstadtgetümmel war der Einzelne nicht wichtig.

    Ein Augenpaar beobachtete ihn dennoch. Es folgte ihm. William hätte den Besitzer sehen können, hätte er nur einmal nach hinten geblickt.

    Dieser Verfolger war aber auch nicht der Auslöser für sein mulmiges Gefühl. Etwas anderes warf einen viel größeren Schatten auf William. Größer und dunkler, als es die höchsten Gebäude in Chicago gekonnt hätten. Vielleicht waren es die Wesen – William nannte sie einfach nur Dämonen – die ihn vor langer Zeit zur Flucht aus Deutschland veranlasst hatten. Die Geschehnisse von damals – bei denen er fast alles verloren hatte – wollte er eigentlich vergessen, schob sie in die hinterste Ecke seines Kopfes. Doch nun holten sie ihn scheinbar ein.

    Egal was jetzt hinter ihm her war, es war nicht ungefährlicher und es kam näher. Seine Träume verrieten es ihm. In ihnen lief er davon. Auch wenn er sich dort niemals umdrehte, er wusste, jemand oder etwas verfolgte ihn. Am ehesten waren diese Träume vergleichbar mit denen von Kindern, die darin vom Teufel gejagt werden. Doch die Träume von William waren realer, gefährlicher. Die Angst verschwand auch nicht kurz nach dem Aufwachen. Sie blieb den gesamten Tag über erhalten und beschaffte ihm dieses beunruhigende Gefühl.

    Als die Träume begannen, sah er in jedem Schatten einen Verfolger. Alle paar Schritte sah er sich in der Gegend um. Wenn ihn jemand ansprach, auch nur zur Begrüßung, schrak er zusammen. Er war so vertieft in dem Gedanken, jemand würde ihn jagen, dass er nicht selten die Straßenseite wechselte, ohne auf den dichten Verkehr zu achten. Einmal wachte er wie aus einer Trance auf. Er stand mitten auf der Straße und zu seiner Linken blickte er in den Kühlergrill eines Trucks. Das dauerhafte Dröhnen der Hupe hatte ihn geweckt – an die lautstarke Bremsung zuvor, erinnerte er sich nicht mehr.

    Nach diesem Vorfall versuchte er sich mehr zu konzentrieren und es gelang ihm, die Angst allmählich unter Kontrolle zu bringen. So überlebte er wenigstens die täglichen Spaziergänge, ohne überfahren zu werden.

    2

    William hatte sein Geschäft erreicht. Er war jedoch auf der anderen Straßenseite, denn bevor er es öffnen würde, ging er wie jeden anderen Tag in das gegenüberliegende Restaurant Madelaine. Mit dem Schritt durch die Tür unter der Neonreklame ließ er die Angst hinter sich.

    Der Innenraum des Lokals war einem typisch amerikanischem Diner aus den fünfziger Jahren nachempfunden. Große Fenster mit abgerundeten Ecken an der Straßenseite. An der gegenüberliegenden Wand zahlreiche Spiegel und Blechschilder mit Werbung. Dazwischen lange Reihen aneinandergeschraubter Bänke, mit Ledersitzen und Tischen, ähnlich einem Zugabteil.

    Wie so oft, wenn William eintrat, war es fast leer. Die meisten Gäste waren schon auf der Arbeit oder würden erst noch zum Brunch kommen. Nur Jack Harsen – einige meinten, er sollte seinen Nachnamen in Daniel umändern – saß in der hintersten Ecke und trank seinen Kaffee. Vielmehr, sein Kopf lag auf dem Tisch und die Tasse stand daneben. Die Sucht begann als er arbeitslos wurde, vor etwa einem Jahrzehnt. Seitdem war er jeden Morgen Dauergast und genoss Hits aus den Siebzigern und Achtzigern, die das Radio ausspuckte. Eine bessere Zeit, zumindest für ihn.

    „Hey Jack."

    Keine Reaktion. William wollte ihn nicht stören, beachtete ihn daher nicht weiter und näherte sich stattdessen der Theke. Diese war so breit wie der Raum selbst, mit einem Durchgang, etwa in der Mitte. Davor Edelstahlhocker, natürlich auch mit Ledersitzen. Dahinter erneut der Schriftzug „Madelaine’s" als Neonreklame, weitere Spiegel und Schilder und natürlich die Speisekarte. Dazwischen auch die Tür zur Küche. Das Interessanteste für William stand jedoch direkt hinter der Theke. Dieses Lächeln, welches ihn seit zwanzig Jahren begrüßte, ließ beinahe alle Sorgen verfliegen.

    „Da ist ja mein Lieblingsbuchhändler. Guten Morgen William."

    „Guten Morgen Linda, meine Lieblingsbedienung, die selbst in dieser Schürze noch gut aussieht."

    Dafür brauchte William nicht zu lügen. Im Gegensatz zu ihm zierten erst wenige, kaum sichtbare Falten ihr Gesicht. An ihrer glänzenden brünetten Mähne sah man kein einziges graues Haar. Letztes Jahr hatte zwar eine Fünf die Vier an erster Stelle ihres Alters ersetzt, doch ihrem Aussehen nach, hätte es auch noch eine Drei sein können. Dafür sprachen auch die Avancen von Männern in diesem Alter, die nicht selten waren. Jogging und Yoga neben guter Ernährung waren dafür verantwortlich.

    William nahm seinen Hut ab. Er war nicht ungepflegt, doch sein schütteres Haar war so durcheinander wie sein Kopf. An seinem gewohnten Stammplatz am Fenster in erster Reihe ließ er sich nieder. Sein Rücken knackte.

    „Ah, meine Knochen werden auch nicht mehr jünger."

    „Ach komm, du scheinst mir noch immer so fit, wie du das erste Mal in mein Restaurant gekommen bist."

    „Schön wär's." Ihm war bewusst, dass er nicht mehr der Jüngste war und das Alter ihm langsam seinen Tribut abverlangte. Die Einladungen von Linda, mit ihr zu trainieren, schlug er immer wieder aus. Er hatte es probiert, doch nach dem ersten Kilometer zu schnaufen, wie ein Läufer nach einem Marathon, hielt er nicht für besonders vielversprechend. Auch ihre Aussagen, dass es von Mal zu Mal besser werden würde, halfen nicht ihn zu überreden weiterzumachen.

    „Ist so, auch wenn die Ringe unter deinen Augen für zu wenig Schlaf sprechen. Irgendetwas nicht in Ordnung? Die hast du nun schon seit, hm … gut zwei Wochen?"

    Das war das Einzige, was er nicht vor ihr verbergen konnte. In ihrer Nähe fühlte er sich gut. Die Müdigkeit verflog jedes Mal, sobald er sie sah, so wie die Angst vor ihrer Tür blieb.

    „Doch, alles in Ordnung. Ich lese nur etwas zu viel und bleib daher oft zu lange wach." Er belog sie nicht gerne, aber er wollte sie auch nicht beunruhigen. Die Träume und was damit zusammenhing, waren sein eigenes Problem.

    „Okay", sagte sie. Doch es war nicht wirklich okay. Auch wenn sie ihn sehr mochte, oder gerade deswegen, glaubte sie ihm diese Aussage nicht. Neben den müden Augen hatte er zudem einen Vollbart bekommen, was vorher gar nicht sein Stil war. Ihr war auch nicht entgangen, dass er in den letzten Wochen einiges an Gewicht verloren hatte. Er war schon immer schlank, doch nun wirkte er hager, beinahe abgemagert. Seine Wangenknochen traten zunehmend hervor und an den Händen konnte man jeden einzelnen Knochen sehen.

    Aber sie wollte, dass er von alleine mit ihr redet, sie wollte ihn nicht dazu zwingen. Stattdessen ließ sie dieses Thema beiseite. Irgendwann würde er mit der Sprache rausrücken, bestimmt.

    „Was darf ich dir denn heute bringen?"

    „Dasselbe wie jeden Morgen", antwortete er.

    „Ok, dasselbe wie jeden Morgen, Kaffee und Ei mit Schinken. Kommt sofort."

    Linda Smith wanderte schon als kleines Kind mit ihrer Familie in die USA ein. Nach der Schule arbeitete sie einige Jahre als Kellnerin, bevor sie mithilfe ihrer Eltern ihr eigenes Restaurant eröffnete. Benannt hatte sie es nach ihrer Großmutter, die wenige Wochen zuvor verstarb. William war bei Weitem nicht ihr einziger, aber ihr erster Stammgast. Von Beginn an kam er gerne hier her, nicht nur wegen des guten Essens.

    Das hättest du eventuell auch haben können, alter Knabe, dachte William, als er durchs Fenster sah. Auf dem Gehsteig betrachtete er eine junge Frau mit einem deutlich älteren Herren an der Seite, Arm in Arm. Hätte er etwas mehr über seine Schulter gesehen, hätte er eventuell auch den Mann bemerkt, der ihm gefolgt war und nun vor dem Restaurant auf ihn wartete. Doch die verschwommene Gestalt in seinem Augenwinkel interessierte ihn nicht weiter. Zu sehr war er in seinen Gedanken versunken. Gedanken über sich und Linda, die ihm öfter durch den Kopf gingen, wenn er, wie jetzt, in ihrem Restaurant saß und auf die Lincoln-Avenue hinaussah.

    Zehn Jahre trennten die beiden. Doch es war nicht der einzige Grund, dass er es nie bei ihr versucht hatte. Er kam nur sechs Monate vor der Eröffnung ihres Geschäfts und ihrem ersten Aufeinandertreffen in Chicago an. Die Last der Vergangenheit und der Gegenwart ließen ihn damals wenig an Sachen wie eine neue Liebe denken. Zeitweise war sie auch vergeben. Mittlerweile hielt er es für zu spät. Immerhin verband sie eine gute Freundschaft.

    „So bitte, Kaffee und Ei mit Schinken. Wohl bekomms der junge Herr."

    Noch immer eine Schönheit. Er sah sie wie ein verliebter Teenager an - nur nicht ganz so albern, sein Mund war geschlossen.

    „Iss lieber, bevor es kalt wird, statt mich anzustarren."

    Er fing sich im Leuchten ihrer grünen Augen, die ihm zuzwinkerten. Ihre Lippen waren erneut zu einem Lächeln geformt. Diesen Mund hätte er gerne öfter geküsst, als ein einziges Mal zu Weihnachten, vor gut neun Jahren, unter einem Mistelzweig. Auch wenn er kein Kind von Traurigkeit war, die meisten Nächte der vergangenen zwei Jahrzehnte verbrachte er alleine.

    3

    „Danke, dein Frühstück allein wäre ein Grund dich zu heiraten", sagte William, als er fertig mit Essen war und Linda sein Geschirr abholte.

    „Nur das Beste für dich. Ich räum' das mal schnell weg."

    Darauf verschwand sie und kam mit zwei Tassen Kaffee aus ihrer kleinen Küche zurück. Sie setzte sich nun zu William und schob ihm eine davon hinüber.

    „Nun erzähl mal, was macht ein vielbeschäftigter Mann wie du am vierten Juli?"

    „Bis dahin ist es doch noch über eine Woche. Wenn ich das jetzt schon geplant hätte, hätte ich es bis dahin sicher wieder vergessen."

    Das Schmunzeln in seinem Gesicht war nicht zu übersehen, und auch wenn sie dadurch kurz abgelenkt war und selbst grinste, kam sie auf ihre Frage zurück.

    „Noch gar keine Pläne für den Tag?"

    Er überlegte kurz.

    „Naja, wenn ich spontan antworten muss. Ich dachte mir, ich könnte mit einer hübschen Frau wie dir ein Picknick im Park unternehmen und abends noch in irgendeinen Film gehen. Natürlich nicht in die Spätvorstellung, ein alter Mann wie ich braucht seinen Schlaf."

    „Hm, die Idee gefällt mir, abgemacht. Hol mich hier um elf Uhr ab."

    „Okay, mit Vergnügen."

    Dass es so einfach war, verwunderte ihn. Aber er war erfreut, dass sie sein Angebot angenommen hatte, auch wenn er es eigentlich nur als Scherz meinte. Seine erste Verabredung seit einer halben Ewigkeit. Dass er verfolgt wurde, war ihm in diesem Moment entfallen.

    „William?", fragte plötzlich ein Mann in Schwarz neben ihm und holte ihn in die Realität zurück. Dem Anschein nach in etwa so alt wie er selbst. An seinem Hemdkragen trug er ein Kollar, einen weißen Klerikerkragen. Seine Stimme war rau und ernst. Keiner der Beiden am Tisch hatte sein Erscheinen im Café bemerkt und Jack bekam sowieso nichts mit.

    „Ihr?" William klang überrascht und genervt zugleich. Linda war so erstaunt, dass sie nur zusah, statt zu versuchen ihn zu bewirtschaften.

    „Ja, ich bin es William. Wir müssen reden, ihr könnt euch denken, worum es geht."

    Selbstverständlich konnte er sich das denken. Nun hatte er auch wieder dieses unbehagliche Gefühl. Es war mit dem Mann durch die Eingangstür gekommen. Ihm wurde flau im Magen. Und obwohl es draußen schon über zwanzig Grad waren – im Restaurant war es noch wärmer – fröstelte es ihn und er bekam Gänsehaut im Nacken und auf den Armen. Er versteckte seine Hände unterm Tisch, damit Linda nicht sein leichtes Zittern bemerkte.

    „In Ordnung, sagte er. „Lasst mich nur kurz meinen Kaffee austrinken. Wir sprechen in meinem Laden, da drüben auf der anderen Straßenseite. Du lästiger Parasit, fügte William in Gedanken hinzu. Am liebsten hätte er ihn sofort wieder in die Wüste geschickt, zusammen mit dem Unwohlsein, welches nun für den Rest des Tages nicht mehr weichen sollte. Doch er wollte vor Linda keine Diskussion mit ihm anfangen.

    „Ich warte dort auf euch, lasst euch nicht zu viel Zeit Priester."

    Der Mann verließ das Restaurant und begab sich vor Williams Geschäft. Linda sah ihm nach, konzentrierte sich dann jedoch wieder auf ihren alten Freund, der ihr mit nachdenklichem Blick gegenübersaß.

    „Herr William Eagle! Seit wir uns kennen, frage ich dich immer wieder über deine Vergangenheit. Und das Erste was ich erfahre kommt von irgendeinem dahergelaufenen Geistlichen."

    Sie stand vor ihm, die Hände in die Seiten gestemmt. Um ihrem Gesagten Nachdruck zu verleihen, stampfte sie mit dem rechten Fuß einmal auf – so kräftig, wie es einer zierlichen Person wie ihr möglich war. Wie eine erboste Frau die ihren Gatten zur Rede stellen will, weil er wieder Unfug getrieben hat. Vom Gehweg aus konnte man sie durch das dünne Glas hören, doch in einer Stadt wie Chicago interessierte so was niemanden. Jack schnarchte derweilen leise vor sich hin.

    „Tut mir leid Linda. Wenn sich die Gelegenheit ergibt, werde ich es dir erklären."

    „Ach, und innerhalb von zwanzig Jahren gab es die nicht?"

    Er stand auf und trank seinen letzten Schluck Kaffee. Sein Griff war schwach, zittrig und er ließ die Tasse beinahe aus der Hand fallen.

    „Entschuldige, aber ich muss nun rüber."

    „Warum … Warum so eilig? Was ist denn los William, hast du Probleme?"

    „Keine die sich nicht lösen lassen."

    Sie atmete hörbar aus, beinahe resignierend, doch nur beinahe. „Sehr aussagekräftig. Wer ist das überhaupt?"

    „Ein alter Bekannter."

    „Woher bekannt William? Warst du mal Priester, wie er meinte, oder bist du es sogar noch?"

    „Das ist alles lange Zeit her. Wir müssen nur etwas klären."

    „Nach 'nur etwas klären' hörte sich das aber nicht an."

    Eigentlich hatte er es nicht eilig mit dem Geistlichen zu reden. Doch je schneller er ging, desto weniger musste er Linda erklären.

    „Ich muss nun los. Tut mir wie gesagt leid Lin‘. Heute Mittag werde ich wohl nicht vorbeischauen können. Wir sehen uns in den nächsten Tagen", sagte er und sah sie dabei nicht einmal mehr an.

    „In den nächsten Tagen? Sie riss die Augen weit auf. Ihre Stimme klang nicht nur überrascht, sondern auch traurig. „Seit fast zwanzig Jahren besuchst du mein Lokal morgens und mittags, fast ohne Ausnahme. Und kaum kommt so eine seltsame Gestalt vorbei, kannst du tagelang nicht kommen? Was bedeutet das William?

    Er ahnte, dass er keine Zeit mehr haben würde. Und auch wenn er sich nicht sicher war, ging er lieber vom Schlimmsten aus. Das würde bedeuten, dass er endlich Vorbereitungen treffen müsste. Sie hingegen sah sich nun bestätigt in ihren Vermutungen. Irgendetwas Wichtiges verbarg er vor ihr. Etwas das ihn bedrückte und dies seit Wochen. Ihre größte Angst dabei war, dass er in Schwierigkeiten stecken könnte, die gefährlich für ihn waren.

    „Später Linda, nun muss ich aber wirklich in meinen Laden, er wartet."

    „Später … und was wird aus dem Picknick?"

    „Das machen wir, versprochen. Danke noch mal für das Frühstück."

    Er verschluckte sich fast bei der Antwort, auch wenn er es wirklich glaubte. Allerdings war dies das erste und letzte Versprechen, ihr gegenüber, was er nicht einhalten würde.

    „William, du weißt, dass du jederzeit zu mir kommen kannst, wenn du Probleme hast."

    „Ja, das weiß ich, danke."

    Er legte das Geld für sein Frühstück auf den Tisch und begab sich zur Tür. Den Kopf hielt er gesenkt. Er wollte sie nicht mehr ansehen, er konnte nicht mehr. Vor allem konnte er ihr nicht ins Gesicht sehen. Er befürchtete, er würde dann mehr als die eine Träne vergießen, die ihm nun schon im Auge saß.

    „Pass auf dich auf William Eagle!" Am liebsten hätte sie ihn gar nicht gehen lassen. Sie war kurz davor, sich auf ihn zu stürzen und ihn festzuhalten. Aber sie vertraute seinen Worten.

    „Einem alten Fuchs wie mir passiert nichts, nur keine Sorgen, wir sehen uns. Mach's gut."

    Doch die machte sie sich, Große sogar. Auch ihr kullerte eine Träne die Wangen hinunter. Es fehlte nicht mehr viel und die Dämme wären bei ihr gebrochen. Es fühlte sich für sie an, als ob dies ein Abschied für immer wäre. Ihr war zumute wie am Sterbebett ihrer Großmutter. So viele Versprechen, was sie noch hätten unternehmen wollen. Und doch raffte sie der Krebs am nächsten Tag endgültig dahin.

    Bevor sie noch etwas sagen konnte, schloss sich die Tür hinter William. Linda beobachtete, wie er auf der anderen Straßenseite, zusammen mit dem vermeintlich Geistlichen, seinen Laden betrat.

    Sein Geschäft würde sie den ganzen Vormittag im Blick behalten. Sollte er es verlassen, würde sie zu ihm rüber stürmen und ihn zur Rede stellen. Das nahm sie sich zumindest in diesem Moment vor.

    4

    Das Klirren eines Windspiels erklang, als die beiden Männer den Buchladen betraten.

    „Was für ein hübsches kleines Geschäft William. Läuft es gut?"

    „Gut genug, dass man über die Runden kommt. Lasst uns in mein Büro gehen." Nichts lag William ferner als Smalltalk. Er wollte ihn außerdem schnellstmöglich wieder loswerden, bevor er sich bei ihm noch wohl fühlt und öfter vorbeikommt.

    „Geht nur vor, ich folge."

    In dem kleinen Zimmer, im hinteren Teil des Ladens, befanden sich ebenfalls unzählige Bücher in den Regalen. Wie hätte es auch anders sein können? In der Mitte stand ein alter Schreibtisch, der wohl nicht viel weniger zu erzählen hätte, als eines dieser Bücher.

    Sie setzten sich. Aus der Schublade holte William ein kleines Kästchen heraus. Er entnahm ihm eine Zigarre und zündete sie an, danach hielt er es seinem Gegenüber hin – aus Höflichkeit, nicht aus Freundschaft.

    „Auch eine?" Die Frage klang fast so kühl, wie er es empfand, in diesem Raum zu sitzen. Er fühlte sich in seinem Laden besser als auf der Straße, etwas sicherer. Bei Weitem jedoch nicht so wohl wie in Lindas Restaurant.

    „Nein danke, und ihr solltet auch nicht, vor allem nicht in eurem Alter William."

    „Als ob ihr euch Sorgen um mein Alter machen würdet. William lehnte sich in seinen Sessel. „Also, warum seid ihr zu mir gekommen?

    „Wirklich nette Büchersammlung, einige Werke sind älter als wir beide zusammen." Auch wenn er damit abschweifte, er hatte recht. Die eine oder andere Bibliothek wäre neidisch gewesen. Nicht nur von einigen neueren Büchern standen Erstausgaben in den Regalen. Manche waren aus dem 18. Jahrhundert oder sogar noch älter und hatten einen Wert von mehreren Hundert, wenn nicht Tausend Dollar.

    „Hört auf damit, was wollt ihr Edward?"

    „Nun … oh, 'Der grüne Heinrich', ein Original?"

    „Lasst den Unsinn endlich und sagt mir lieber, warum ihr hier seid." Ihm riss allmählich der Geduldsfaden.

    „William, warum so feindselig zu einem alten Freund?"

    „Freund? Ihr ward es nie und werdet es auch nicht mehr sein. Jetzt sagt, was ihr wollt." William wollte diese Farce nicht länger ertragen, als es notwendig war. Seit etlichen Jahren kam Edward ab und zu bei ihm vorbei. Es handelte sich immer um dasselbe Thema.

    „Ihr verletzt mich, aber gut. Es überrascht mich auch, dass ihr euch nicht denken könnt, warum ich zu euch komme. Ich vermute jedoch, ihr wisst bereits, dass 'sie' ebenfalls auf dem Weg zu euch sind."

    Scheiße, natürlich wusste er es. Spätestens ab jetzt konnte er es nicht einfach mehr als irgendein dummes ‚Gefühl‘ abtun. Wenn es schon andere außer ihm wussten, war es mehr als ernst und er musste handeln.

    „Ja, ich befürchtete es schon. Doch was habt ihr damit zu tun?"

    „Das Siegel William. Seid ihr in Gefahr, ist es dies auch. Wir könnten es schützen und euch ebenfalls."

    Selbstverständlich ging es um das Siegel. Dieses verflixte Ding, womit alles begonnen hatte. Welches sein Leben zerstört hatte und weswegen er verfolgt wurde. Dennoch durfte er es nicht einfach weggeben, er war ein Wächter und er hatte die Verantwortung dafür zu tragen. Soviel hatte er in seiner Zeit in Amerika herausgefunden. Und auch wenn er nicht wusste, welchen Zweck das Siegel erfüllte, widerstand er wiederholt dem Drang, es in die nächste Mülltonne zu werfen oder es Edward zu überlassen. In seinen Augen wäre das auf dasselbe hinausgelaufen.

    William verschluckte sich am Rauch seiner Zigarre als er zu Lachen begann. Edward sah ihn dabei mit entsetzten Augen an. Eine Zornesfalte machte sich auf seinem Gesicht breit. „Was ist daran so lustig?"

    „Ihr wollt mich 'und' das Siegel schützen?"

    „Ja, so ist es."

    „Macht euch nicht lächerlich. Wenn ihr wüsstet, wo es ist, hättet ihr es längst gestohlen. Mein Leben schert euch einen Dreck. Wenn ich mit dem Siegel zu euch komme, wären 'sie' nicht mehr die größte Bedrohung für mich, sondern ihr."

    „Erneut verletzt ihr mich William. Ihr habt einmal zu uns gehört, warum sollten wir uns nicht um euch sorgen?"

    „Nichts dergleichen habe ich. Ich war einmal Priester in Deutschland, ja. Aber mit euch habe ich nichts zu tun. Ich diente lediglich Gott und meiner Gemeinde. Und auch damit war es vorbei, als ich flüchten musste und mir dabei niemand geholfen hat."

    „Unsere Brüder in Europa wussten nichts von eurem Schicksal, wie hätten sie euch helfen sollen?"

    „Wussten nichts? Ich bin mir sicher, sie haben mich beobachtet, seit dem mir mein Großvater das Siegel anvertraute, genau wie ihn davor."

    „Das sind alles haltlose Unterstellungen."

    „Redet was ihr wollt, von mir bekommt ihr es jedenfalls nicht."

    William zerdrückte seine Zigarre im Aschenbecher. Der Stuhl fiel beinahe um, als er ihn zurückschob. Er ging zur Tür und öffnete sie.

    „Ihr könnt nun gehen, bei mir gibt es für euresgleichen nichts zu holen."

    Edward trat aufrecht vor William. Dieser würdigte ihn keines Blickes.

    „Seid nicht so dumm Priester, ihr allein könnt es nicht beschützen. Dieses Siegel ist das letzte bekannte, die restlichen haben 'Sie' höchstwahrscheinlich schon. Wenn es in ihre Hände fällt, wird die Apokalypse Wirklichkeit."

    „Mein Blut schützt es schon lange Zeit und das erfolgreich. Ich, mein Großvater und dessen Ahnen vor ihm. Und wir werden weiterhin darauf aufpassen. Euch brauchen und wollen wir dafür nicht. Jetzt geht!"

    Er streckte den Arm aus und zeigte auf seine Ladentür. Edward folgte seiner Aufforderung und schritt hinaus. Als er die Tür öffnete und den ersten Fuß schon auf den Gehsteig setzte, drehte er sich noch einmal um.

    „Ihr macht einen Fehler William. Ein alter Mann wie ihr kann es nicht mit 'ihnen' aufnehmen. Wenn die Welt zugrunde geht, seid ihr schuld!"

    „Ich habe genug Last auf meinem Rücken zu tragen, das bisschen geht dann auch noch. Jetzt kümmert euch um euch selbst!"

    Alter dummer Narr. Edward knurrte in sich hinein. Er schlug die Tür hinter sich zu und verschwand aus Williams Augen. Alleine war er dennoch nicht, das spürte er.

    5

    Seitdem Edward vor wenigen Minuten seinen Laden verlassen hatte, war William noch unruhiger als zuvor. Er war hektisch. Auf der Suche nach seinem alten Notizbuch zerwühlte er seine eigenen Regale. Er warf die Hälfte der Bücher auf den Boden. Dabei lag es wie immer in seiner Schublade am Schreibtisch.

    Ich muss hier weg … ich muss raus aus der Stadt.

    Dieser Gedanke verfolgte und drängte ihn. Zusammen mit seinem Notizbuch und dem Zigarrenkästchen stürmte er zur Tür.

    Du brauchst noch was zum Schreiben.

    Er hastete zurück und nahm Block und Kugelschreiber mit, bevor er wieder nach vorne ging.

    An die Ladentür hängte er ein Schild ‚Im Urlaub‘ und schloss sie ab. Er selbst setzte sich in seine kleine Leseecke und machte sich in dem Sessel so klein wie möglich. Ein Schauer lief ihm jedes Mal über den Rücken, wenn jemand durch das Fenster hinein sah und er dachte, es wären seine Verfolger. Doch sie zeigten sich nicht, noch nicht.

    Im Madelaine’s sah er Linda. Sie kümmerte sich gerade um ein paar Gäste. Ihm war so, als würde auch sie ab und an zu ihm hinüber sehen. In den Sessel gedrückt konnte sie ihn aber freilich nicht erkennen. Er fragte sich, ob und wann er sie wieder sehen würde, ohne eine Straße zwischen Ihnen. Wie zwanzig Jahre zuvor drohte sich alles um ihn herum zu verändern. Verdammt, sein Leben selbst stand auf dem Spiel und drohte jeden Augenblick zu enden.

    Fortwährend schaute er auf die Uhr. Er war nervös und er hatte Angst. Vor einer Tür auf seine mündliche Abschlussprüfung zu warten war ein Witz dagegen.

    Am ganzen Körper schlotterte er - wie Schüttelfrost, doch war dieser getrieben durch die Furcht. Seine Stirn glänzte vom Schweiß. Seine Hände krallten sich in die Armlehnen. Die Spuren seiner Fingernägel würde man wohl für immer im Leder sehen können.

    Ich muss hier weg … ich muss raus aus der Stadt.

    Andere hätten seine Angst vielleicht belächelt, doch nur bis sie erahnt hätten, welche Mächte hinter ihm her waren. Er konnte nur davonlaufen, sich verstecken und hoffen, dass sie lange Zeit wieder nach ihm suchen müssten. In Deutschland kannte er keinen Weg sie auszuschalten und nun würde es wahrscheinlich nicht einfacher werden.

    Es waren nur gut vier Minuten vergangen, doch ihm kamen sie wie vier Stunden vor. Er sprang aus seinem Sessel, schnappte sich seinen Beutel und rannte zur Hintertür hinaus.

    Ein eisiger Hauch erfasste ihn. Bei minus zehn Grad im T-Shirt nach draußen zu gehen, hätte sich nicht kälter anfühlen können.

    Sie waren sehr nah, zu nah. Noch bevor er den ersten Schritt getan hatte, fasste William etwas am Arm oder zumindest bildete er sich das ein. Er wollte gar nicht wissen, was es war, er wollte nur weg. Der alte Mann zeigte,

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1