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Sie ist wie sie ist
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eBook364 Seiten4 Stunden

Sie ist wie sie ist

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Über dieses E-Book

Nach dem Tod ihres Mannes, dem nur wenige Jahre später ihr neuer Lebenspartner in den Tod folgt, verlässt die neunundsechzigjährige Wilhelmina Groß die „äußere Welt“ und setzt sich in der „inneren Welt“ eines Altersheims zur Ruhe. Ihr Bekanntenkreis ist von ihrer Entscheidung völlig überrascht. Auch ihr einziges Kind, ihr achtundvierzigjähriger Sohn Andreas, versteht die Entscheidung seiner Mutter nicht. Sie könne sich mit Vaters Pension einen „anspruchsvolleren“ Lebensabend gestalten. Seine Sorge um die Mutter deckt ungeklärte Ressentiments ihr gegenüber auf. Er wird mit den daraus resultierenden Selbstvorwürfen nicht fertig. Auch sieht er in seiner Über-Sensibilität hinter allem, was die Mutter sagt, versteckte wie offene Angriffe gegen seine Person. Während Andreas an seinen Bemühungen, das Verhältnis zwischen sich und der Mutter zu verbessern, verzweifelt, entdeckt Wilhelmina in ihrer neuen Umgebung überraschenderweise neue Perspektiven. Ohne sich dagegen wehren zu wollen, akzeptiert sie die Werbung eines sympathischen noch frischen Mitbewohners. Sie nehmen beide an einem Französischkurs für Senioren teil. Wilhelmina sieht darin die Chance, ihren Traum von Paris, wenn auch nur als Touristin, einzulösen.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum13. März 2015
ISBN9783738677522
Sie ist wie sie ist
Autor

Rolf Baldsiefen

Rolf Baldsiefen, geboren 1943 in Lindlar, arbeitete zunächst als Schriftsetzer, später als Lehrer an Haupt- und Gesamtschule, als Liedermacher und als Maler. Mit Laienspieler (2007) gab er sein Debut als Schriftsteller.

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    Buchvorschau

    Sie ist wie sie ist - Rolf Baldsiefen

    Kapitel

    1. Kapitel

    Wenn etwas Erfreuliches, von niemandem Erwartetes und für niemanden Vorstellbares geschieht, dann sprechen die Leute gerne von einem Wunder. Auch Wilhelmina Groß tat etwas, was niemand verstand. Die Wenigen, die zum kleinen Kreis ihrer Bekannten zählten, sahen in ihrem plötzlichen Entschluss, ihre Zelte abzubrechen, nichts Erfreuliches. Waren die Kontakte auch gering, so war Wilhelmina doch eines dieser kleinen Mosaiksteinchen, ohne das das Bild von Gewöhnung, Verlässlichkeit und ewiger Harmonie erschüttert wurde. Auch befürchteten sie, dass sie schon bald ihre Entscheidung bedauern würde. Obwohl die Zeit, in der sie Wilhelminas Weggang verdauen mussten, nur kurz war, zeigten sie doch in ihren Gesprächen, wie sehr sie sich darüber wunderten. Von einem Wunder im klassischen Sinne konnte allerdings nicht die Rede sein. Sie nannten es denn auch in ihrer rheinischen Art lustvoller Übertreibung ein „blaues Wunder". Nach dem Abklingen kurzfristigen Verwirrtseins brauchten sie wieder eine Zeit, bis sie sich erneut wunderten. Diesmal allerdings über sich selbst. Sie wunderten sich, dass sie Wilhelminas Handeln damals so falsch verstanden hatten.

    Seit einer Stunde steht sie am Fenster. Sie hat ihren Kopf ein wenig nach hinten gebogen. So kann sie besser durch ihre Brille sehen. Eine neue, eine Kassenbrille, könnte sie beantragen. Für eine schickere müsste sie etwas zuzahlen. Sie sieht nicht ein, für „das bisschen Verbesserung an ihre Ersparnisse zu gehen. Sie ist neunundsechzig. Lesen hat sie schon seit längerem stark reduziert. Für die wichtigen Informationen der Versicherungen und die Mitteilungen des Hauses reichen die Dioptrien ihrer alten Brille. Da braucht sie nur ihre Pupillen an den unteren Rand ihrer Augen zu senken, ohne den steifen Nacken strapazieren zu müssen. Was in der Welt geschieht, erfährt sie aus der „Tagesschau. Auch darauf könnte sie verzichten. Die machen ja doch, was sie wollen. Damit meint sie alle wichtig scheinenden und wichtigtuerischen Personen, die in den wenigen Sendeminuten auf dem Bildschirm in Erscheinung treten. Zu oft ist sie von „denen in ihrem bisherigen Leben betrogen worden. Das sagt sie, obwohl die meisten von „denen schon längst nicht mehr auf der Erde weilen und sie aufgrund ihres ausgesprochenen Desinteresses über die heute vor der Kamera Agierenden so gut wie nichts weiß.

    Die viel zu schwere Brille drückt ihr auf die Nasenwände. Die sind in den letzten Jahren dünner geworden, fast wie Schmetterlingsflügel. Was soll’s, dann atme ich eben mehr durch den Mund.

    Sie schaut auf die vielen kleinen Bäche, die der Regen schon seit Tagen mit kurzen Unterbrechungen über das zweiflügelige Fenster ihres kleinen Zweibettzimmers fließen lässt. Ein Vorhang wie aus Gaze. Sie schaut mehr des Schauens wegen. Sehen kann sie nicht viel. Die Krone der alten Kiefer ragt bis über den dritten Stock des Elisabethstiftes hinauf. Den Tanz der Äste nimmt sie nur schemenhaft wahr. Die Autos auf der entfernt vorbeiführenden Schnellstraße singen auf dem nassen Asphalt. Aquaplaning. Andreas sprach bei seinem letzten Besuch von Aquaplaning. Je länger Wilhelmina vor sich hinstarrt, desto leichter entfernt sich ihr Blick aus der Monotonie des ewig fließenden Wassers. Auch ist es ihr, als dringe der Regen ungehindert durch die dicken, schweren Brillengläser in ihre alten Augen. Sie sind oft feucht und es ist schwer, auszumachen, ob es nicht hin und wieder Tränen sind. Der Regen ist ihr Freund. Auch heute gewährt sie ihm Einlass in ihr Fensterprogramm und es ist so, als ob er als Freundschaftsbeweis ihre Gedanken reinwaschen wolle.

    2. Kapitel

    Vor fast zehn Jahren, ich war gerade neununddreißig geworden, hatte mich meine Firma mit der Verkaufsleitung ihrer Hamburger Zweigstelle betraut. Herr Groß, wir sind überzeugt, dass sie dieser schweren Aufgabe gewachsen sind. Wenn das so ist, wenn die soviel von mir halten – na denn, ran an den Speck. Bis dahin war ich einige Jahre lang kreuz und quer erst durch die alte Bundesrepublik und die letzten zwei Jahre dann auch durch die neuen Bundesländer gereist. Dabei hatte ich oft genug meine Qualitäten als Verkäufer beweisen können. Ein schwerer Beruf. Die ständige Angst, morgen schon Kunden zu verlieren. Die Konkurrenz tags und nachts im Nacken. Oft war es nicht möglich, mehr als vier Stunden zu schlafen. Aber mein zweites Ich hatte gelernt zu funktionieren. Verständnis gab es nicht in meinem Verkäufervokabular. Ich wusste um die Gefährlichkeit eines Nachgebens. Ich hielt mich an die einmal geschluckte Order, nie ein Nein eines Kunden ohne hartnäckiges Nachsetzen hinzunehmen. Nie ließ ich einen prospektiven Käufer von der Angel. In meiner Einstellung auf den jeweiligen Kunden nutzte ich das Erlernte aus den Kurzseminaren in Verkaufspsychologie. Ich fehlte nie auf den Konferenzen der Firma, auch wenn ich gerade, weit weg von der Zentrale, meiner gewohnten Kundenbetreuung nachging. Nach meiner Beförderung zum Verkaufsleiter war ich dann, Gott sei Dank, nicht mehr so viel unterwegs, hatte eine geregelte Arbeitszeit und die Höhe meines Gehalts gab meinem ersten Ich bessere Möglichkeiten, etwas mehr vom Leben mitzubekommen. Ich musste dafür allerdings bei häufigen Konflikten zwischen meinen beiden Ichs unliebsame Entscheidungen treffen, die nicht nur den von mir gemaßregelten Mitarbeitern qualvolle Tage und Nächte bereiteten. All mein Handeln hatte im Dienst der Firma zu geschehen. Da durfte es keine Rücksichten geben. Und genau das machte mir sehr zu schaffen, waren doch die kleinen und größeren Übeltäter mit der Zeit zu sympathischen Mitarbeitern geworden, die ich nicht verlieren wollte. Einen Kollegen musste ich vor den Betriebsrat bringen, weil seine Kilometerangaben in keiner Weise mit den realen Entfernungen zwischen Wohnung und Kunde übereinstimmten. Es waren die Verführungen eines „heißen Mäuschens", die ihn weit weg von der Wegstrecke gelockt hatten. Seine Entlassung macht mir heute noch zu schaffen, aber Betrug gehörte zu den Vergehen, die ich nur so ahnden konnte, um nicht selbst in die Bredouille zu geraten.

    Meine Eltern sahen mich nur wenige Male im Jahr. Nur an verlängerten Wochenenden oder in den Ferien waren meine Kurzbesuche möglich. Fünfhundert Kilometer Autobahn sind kein Pappenstiel. Doch das Kilometerfressen gehörte zu meinem Beruf.

    Ich erinnere mich an eine dieser Fahrten. Am Abend zuvor war es spät geworden. Paul, mein bester Freund, hatte zur Geburtstagsparty eingeladen. Da durfte ich auf keinen Fall fehlen. Paul war mir und den anderen Freunden oft schon Retter in großer Not gewesen. Egal mit welchen Defekten unsere Autos liegen blieben, Paul machte sie wieder flott. Ich wollte mich vor meiner Fahrt ausschlafen. Der Tag war lang und es war egal, ob ich erst am Nachmittag ankommen würde. Aber wie gewohnt, war schon um acht Schluss mit der Nachtruhe. Auch drängte es mich, zu meinen Eltern zu fahren. Nach vierhundert Kilometern war dann trotz Routine auf meine Konzentration nur noch wenig Verlass. Als ich mich nach der Fahrt fragte, woran ich mich erinnerte, hatte ich es mit einer Antwort schwer. Erinnerte ich mich vielleicht an Mitbenutzer der Autobahn wie PKW, LKW, die mich durch ungewöhnliches Manövrieren zwangen, wach zu bleiben? Oder fielen mir Unregelmäßigkeiten ein, wie Baustellen, Neuregulierungen der Strecke, Hilfestellungen durch Schilder, Blinkanlagen oder gar durch lebendige Verkehrspolizisten? Und das war meine Erkenntnis: ein Stück Deutschland durchquert, Verkehr bewusst und unbewusst gemanagt, Lebensgefahr ausgeschaltet, siebten Sinn hoch gepuscht und unverantwortlich überfordert. Und – meine berufliche Laufbahn gefährdet. Ich hätte mit der Bahn fahren sollen. Aber die Fahrt mit dem Auto, so sah ich das damals, hatte ihre Vorteile: mehr Freiheit in der Zeitplanung, kein wehrloses Ausgeliefertsein an logorrhöekranke Mitreisende, hygienische Toiletten in den Autobahnrestaurants und noch einiges mehr. Zum Glück waren es nur die wenigen Fahrten im Jahr.

    Auch als Mutter schon im Elisabethstift wohnte, änderte sich dieser Besuchsrhythmus nicht. Ich weiß noch, wie ich damals von der Autobahn runter gleich zum Stift gefahren bin. Ich weiß auch noch, dass schon während der letzten Kilometer mein Magendrücken eingesetzt hatte. Es war immer das Gleiche. Ich hatte schon aufgehört, mit Freunden über dieses Problem zu sprechen, nach einer Erklärung zu suchen und einen Weg zu finden, um aus diesem Dilemma herauszukommen. Wie kann man als Mann sich mit solchen Lappalien aufhalten, hieß es dann. Als Mann in meinem Alter, mit der Lebenserfahrung. Peng! Da wusste ich es. Also ließ ich es bleiben. Ich tröstete mich damit, dass mein Mutter-Frust sich schon kurze Zeit nach meinem Abschied ohnehin auflösen würde. Und als ich nun auf dem Parkplatz stand, kamen sie wieder, diese Fragen, auf die ich bis heute nicht die richtigen Antworten gefunden habe. Warum fuhr ich nicht gleich zum Hotel, um mir eine halbe Stunde lang den Stress der langen Fahrt aus den Knochen zu schlafen? Was war das, was mich zu meiner Mutter hindrängte, mich aber gleichzeitig wie gelähmt auf dem Fleck verharren ließ? Konnte ich vielleicht das Gefühl nicht ertragen, Mutter an die zweite Stelle meiner momentanen Bedürfnisse gestellt zu haben? Fürchtete ich ihre spitzen Pfeile, die sie abschießen würde, wenn ich unter einem unerklärlichen Zwang mich verplappern und ihr Anlass bieten würde, ihre Zweitrangigkeit herauszuhören? Als ich die Tür meines BMW abgeschlossen hatte, schaute ich noch eine Weile über das Auto hinweg auf Mutters neue Heimstatt.

    3. Kapitel

    Wenige Monate, nachdem sie volljährig geworden war, hatte sie mich zur Welt gebracht. Sechs Jahre nach dem Krieg. Es waren noch nicht alle Trümmer beseitigt. Ob das der richtige Augenblick war, eine Familie zu gründen? Sie hatte diese Frage später immer mit Nein beantwortet. Als das Geschehen um mich herum begann, sich als Erinnerung in mein Gehirn einzugraben, muss in meinem Elternhaus Friede, Freude, Eierkuchen geherrscht haben. Fast unbeschwert verlief unsere Beziehung während der ersten Jahre. Ich betone „fast", wären da nicht Mutters kaum zu begreifenden sporadischen Wutausbrüche gewesen. Es muss in der Zeit gewesen sein, als ich mich freute, endlich in die Schule gehen zu dürfen. Sie machte gerade Hausputz. Ich wollte in mein Zimmer und hätte an ihr vorbei gemusst. Natürlich wartete ich, bis sie den frisch geschrubbten Boden frei gegeben hätte. Ich stand mit keinem Fuß im Nassen. Auf einmal riss sie ihren Körper herum, packte mich am Arm und zog mich einige Zentimeter heraus aus der Gefahrenzone. Sie hatte mir wehgetan. Doch war das noch nicht alles. Sie brüllte mich an, ich solle ihr nur ja nicht über den nassen Boden laufen. Dabei schleuderte sie mir tödliche Blicke entgegen. So hatte ich sie noch nie erlebt. In meinem kindlichen Kopf entstand der Eindruck, Mutter nicht nur räumlich im Wege zu sein. Später, ich lag im Bett und war schon eingeschlafen, hörte ich aus dem Schlafzimmer meiner Eltern einen heftigen Streit. Ich war plötzlich hellwach. Nichts entging mir von ihren gegenseitigen Anfeindungen. Ich hörte, wie Mutter meinem Vater vorwarf, durch ihre Heirat sie vom Traum, eines Tages in Paris arbeiten zu wollen, dort zu lernen und die Welt der Haute Couture schnuppern zu wollen, abgebracht habe. Auch wenn sie nur ein kleines Rädchen bei der Schöpfung schöner Kleider geblieben wäre, fügte sie an. Dann hörte ich, wie Vater sagte, sie seien doch verliebt gewesen, ob sie das denn nicht mehr wisse. Ich wunderte mich über Vaters ruhige Art zu antworten. Nach einer kurzen Pause wurde auch ich Gegenstand der Auseinandersetzung. Man habe sich zu Beginn der Ehe geeinigt, kein Kind zu bekommen. Jawohl, das habe man. Er alleine sei schuld, dass es dann doch anders gekommen sei. Er habe schließlich sein Versprechen, beim Geschlechtsverkehr aufzupassen, nicht eingehalten. Sie könne ihm seither nicht mehr trauen. Und dann ging es weiter in ihrem vorwurfsvollen fast jämmerlichen Ton. Wegen mir habe sie ihren Beruf aufgegeben. Als Hausfrau und Mutter eigne sie sich ganz und gar nicht. Aber das wolle er ja nicht begreifen. Ich hörte, wie mein Vater sie beruhigte. Es sei doch bis jetzt eine schöne Zeit mit mir gewesen. Dann muss er wohl eingesehen haben, besser nichts mehr zu sagen. Nach einer langen Pause war denn meine Mutter wieder an der Reihe. Das stimme ja auch. Er habe ja Recht. Es sei ja auch bisher schön gewesen, aber… Was dann noch gesprochen wurde, kam bei mir nur noch verschwommen an. Sie hatten leiser gesprochen. Außerdem hatte sich meine Müdigkeit in lähmender Weise gegen meine Neugier durchgesetzt. Gott sei Dank hielten Mutters Wutausbrüche nicht lange an. Ich hatte mir allerdings vorgenommen, in Zukunft ein wenig wachsamer zu sein, um möglichst früh genug ihren Stimmungsumschwung zu erkennen.

    Viel lieber, als an diese unverständlichen Szenen, erinnere ich mich an Mutters großartige Schauspielkunst in unserem Mutter-Kind-Theater. Ihre spontanen Einfälle, ihre Lust, mit Sprache zu jonglieren, hatten mich schon früh gereizt, es ihr nachzumachen. Nie konnte ich genug kriegen von ihrer Zauberei, von ihrer Stimme, ihrer Gestik und Mimik, womit sie die unterschiedlichsten Charaktere in ihren Märchen oder selbst erfundenen Geschichten gegeneinander abgrenzte und eine Vielfalt an Stimmungen erzeugte.

    Ich war gerade zehn geworden. Es war das Jahr, in dem das Ulbricht-Regime aus einem Berlin zwei machte. Tagelang war von nichts anderem die Rede als vom Mauerbau. In einer Pause zwischen den Fernsehberichten teilte Mutter mir und Vater mit, sie wolle eine Heimarbeit annehmen, die ihr wahrscheinlich große Freude mache. Gleich vom nächsten Tag an nähte sie für ein Brautmoden-Fachgeschäft. Dieses hatte von ihrer Profession als Schneiderin gehört und schon bald ihre Qualifikation erkannt und zu würdigen gewusst. Vater war froh, dass sie neben ihrer Aufgabe als Mutter in ihrem erlernten Beruf Erfüllung finden konnte. Wer geglaubt hatte, Mutters Launen würden nun aufgrund von Zufriedenheit mit ihrer Arbeit nachlassen, der hatte sich getäuscht. Immer häufiger wurde ich Opfer ihrer Ungeduld. Um nicht von ihrer Arbeit abgelenkt zu werden, bediente sie sich des Repertoires ihres Gesichtstheaters. Statt ihre Gedanken auszusprechen, gab sie mir durch brummiges Benehmen, durch Seufzer, melancholische Augenaufschläge und andere durchsichtige Hinweise zu verstehen, dass mein Verhalten von ihr in diesem Moment keine Zustimmung erfahren könne. Mein Vater überließ ihr, selbst an seinen Feierabenden, die Erziehungsarbeit. Er konnte nicht schnell genug auf sein Rennrad. Wenn er dann vom „Kilometermachen" zurückkam, war es schon spät. Vielleicht wäre einiges besser gelaufen, wenn er sich mehr in die täglich anfallenden Aufgaben eingebracht hätte, wenn er Mutter nicht allein gelassen hätte mit Erziehung, Hausarbeit und Organisation.

    Trotzdem schien es mit uns Dreien noch eine Weile einigermaßen zu funktionieren. Ich hatte mich immer besser auf Mutters Stimmungsschwankungen eingestellt. Doch dann, mit einemmal: Kursänderung. Ich war jetzt vierzehn. Ich pubertierte. Ich wollte nicht mehr so wie bisher. Aber ein pubertierender Andreas war nicht in Mutters Programm vorgesehen. Sie musste sich damit abfinden, dass ab sofort ein anderer an ihrem Tisch saß, einer, der immer häufiger seine von Pickeln übersäte Stirn in Falten legte. Ich besuchte derweil das Gymnasium. Meine nun häufiger geäußerten Zweifel und Kritiken empfand Mutter als Niederlage. So jedenfalls musste ich ihre oft unverständlichen Reaktionen deuten. Statt sich in mich hineinzuversetzen, mich auf dem neuen Weg interessiert zu begleiten, nutzte sie jede Gelegenheit, mich auf meine Unvollkommenheit hinzuweisen. Dabei scheute sie nicht vor abwertenden zynischen Bemerkungen zurück. Auch Häme und Hohn waren ihr als Mittel des Deckelns nicht fremd. Hatte ich dank besseren Wissens sie auf einen Fehler, einen Irrtum ihrerseits hingewiesen, dann scheute sie nicht davor zurück, mich mit einer Bemerkung, wie „Der Herr Gymnasiast weiß das natürlich besser, zu verhöhnen. Ertappte sie mich denn einmal bei einer Dummheit, so bediente sie sich gerne der Häme und sagte: „Und dafür haben wir dich aufs Gymnasium geschickt. Ihre taktlosen Bemerkungen brüskierten mich deshalb so sehr, weil sie von meiner Mutter kamen. Aus dem Munde eines anderen hätte mich das weniger berührt. Während meiner Adoleszenz hatten die Schwierigkeiten zwischen uns nicht aufgehört und als ich Mama dann später aus beruflichen Gründen, aber auch, um ein Leben ohne sie auszuprobieren, verließ, empfand sie das geradezu als Verrat. In späteren Jahren blieb daher meine Erinnerung an diese wunderbare Frau meiner Kindheit getrübt. Als Vater noch lebte und auch noch danach, während Mutters vierjähriger Freundschaft mit Albert, fühlte ich mich ihr gegenüber stets befangen. Oft hinderte mich eine innere Blockade daran, meiner Mutter mit Ungezwungenheit und Herzlichkeit zu begegnen. Manchmal mussten Lügen her, um mein Verhalten zu erklären. Ich weiß heute, dass mir das nie in überzeugender Weise gelungen ist. Als ich dann nach Hamburg ging, kam es aufgrund des großen räumlichen Abstandes zwischen Bonn und Hamburg und wegen meiner beruflichen Gebundenheit gezwungenermaßen nur noch zu wenigen Begegnungen im Jahr. Und dann jedes Mal dieser grässliche Abschied: die gezwungenen Worte des Dankes, die gezwungenen guten Wünsche. Alles, was man glaubt, sich unbedingt zum Abschied sagen zu müssen, krepierte schon im Ansatz. Ich merkte, wie auch Mutter sich bemühte, natürlich zu wirken. Wo war sie die Herzlichkeit, die Innigkeit, die Freude auf ein Wiedersehen? Wenn wir auch gewusst hätten, wo wir diese Kostbarkeiten hätten finden können – es wäre uns nicht gelungen, nach ihnen zu greifen, weil wir beide den Schlüssel dazu schon vor längerer Zeit verlegt hatten. Und ohne dass wir uns dagegen hätten wehren können, drückten unsere grotesken Gesichtsverzerrungen dem Abschiedsritual jedes Mal den Stempel auf. Es wäre mir, bestimmt auch meiner Mutter, peinlich gewesen, wenn die Umstehenden unsere Hilflosigkeit entdeckt hätten. So verwandelten wir denn die Szenerie in ein einigermaßen gelungenes Theater. Zumindest darin wirkten wir beide überzeugend.

    4. Kapitel

    Ich verließ den Parkplatz und überquerte die wenig frequentierte Straße. Am Haus angekommen schleppte ich mich die Treppen zum Eingang hinauf. Ich schaute noch einmal hinüber zu meinem Auto. Hatte ich es abgeschlossen? Besser, ich seh’ noch einmal nach. Es war abgeschlossen. Ich ärgerte mich kurz über meine Unkonzentriertheit. Die Bewegung hin und zurück und wieder hin hatte mir gut getan. Ich glaubte, ein wenig Frische getankt zu haben. Als ich dann vor Mutters Türe stand, spürte ich das zähflüssige Blei, das durch meine Adern floss. Und dann kam es, wie es kommen musste. Wir quälten uns durch die immer gleichen Begrüßungsfloskeln und schon bei den Fragen nach dem Befinden spürten wir beide die Unechtheit unserer Konversation. Am Telefon, ja da ging das. Und ich dachte bei mir, dass manchmal eine körperlose Kommunikation einiges für sich hat. Zum Glück verfügte ich heute über das unschlagbare Argument, übermüdet zu sein und so vertrösteten wir uns auf den nächsten Tag.

    In meinem Hotelbett lag ich noch lange wach. Ich konnte es nicht begreifen: wir hatten uns begrüßt wie zwei Geschäftsleute, höflich und ohne Emotionen, doch auch mit deren Misstrauen im Blick, übers Ohr gehauen zu werden. Warum haben wir uns nicht in den Arm genommen? Warum haben wir uns nicht gedrückt? Körper gegen Körper? Wir sind doch Mutter und Sohn, verdammt noch mal.

    Aus der Zimmerbar nahm ich eine Flasche Sprudel und trank sie leer.

    Und am nächsten Tag - wieder diese innere Spannung. Gut, da war der Park, da war das alte rheinische Esslokal, wo ich mit ihr hinspazierte und wo ich ihr mal wieder ein Eisbein spendieren durfte. Die weich gekochte Schwarte hatte es ihr angetan.

    „Die schmeckt mir am besten. Mit Mostert. Und dann das leckere Sauerkraut. Hm."

    Nach wenigen Bissen wollte sie plötzlich nicht mehr. Sie legte ihr Besteck auf den Teller und putzte sich mit der Serviette den Mund ab.

    „Das ist aber warm hier, nicht? Empfindest du das nicht auch so? - - Andreas, warum sagst du denn nichts?"

    „Ach, Mama, was soll ich denn sagen? Zuerst sagst du, dass es dir schmeckt und dann isst du nichts mehr, obwohl der Teller noch dreiviertel voll ist. Und dann sagst du, dass es dir zu warm ist. Okay, aber was soll ich denn groß sagen? – Entschuldige. – Ich bin halt immer noch müde von der langen Fahrt. Geschlafen habe ich so gut wie gar nicht."

    „Ich auch."

    Sie betonte die zwei Wörter, als wenn sie sagen wollte: glaub’ nur ja nicht, dass es mir besser geht als dir. Und schon rührte sich in uns das bockige wehrhafte Ich, das sich aber schon bei den ersten Zuckungen in einer verletzlichen Wehrlosigkeit verstrickte.

    Dann diese eine Minute, wieder diese gefürchtete eine Minute, wo jeder den anderen das erste Wort sagen lassen möchte. Eine unendlich lange Zeit!

    Ich sehe dir an, Mutter, dass du ratlos bist. Warum nehme ich nicht einfach deine Hand und streichle sie? Aber, könnte ich das denn überhaupt? Blödsinn, diese Frage zu stellen. Ich weiß genau, dass es nicht geht.

    Seltsam, dass dies erst angefangen hatte, als ich schon einige Jahre von zu Hause weg war. Ich weiß noch, als ich bei einer dieser verkorksten Berührungen plötzlich das Gefühl hatte, ein abstoßendes Kleintier in der Hand zu halten. So, als ob ich besagtes Tier vor Ekel fallen lassen wollte, zog ich ziemlich schroff meine Hand zurück. Wir sagten nichts. Es waren dann unsere Beine, die die Peinlichkeit erfassten und uns schnell vom Ort des Versagens wegtrugen. Dabei hatte Mutter schöne Hände, deren Pflege sie viel Aufmerksamkeit widmete. Und nun sollten diese Hände auf einmal nicht mehr Spielhände, Streichelhände sein? Hände, die mit dazu beitrugen, sich nahe zu sein? Ich erinnere mich an Mutters Einfallsreichtum während meiner frühen Kindheit. Dieses von ihr Tausende Male in meine Hand hinein gekitzelte „Maler, Taler, Kühchen, Kälbchen, Entchen, Gänzchen, Dibbeldibbeldenzchen". Ich sehnte mich geradezu nach ihren Berührungen. Und als später dann die Hand immer mehr zur Mahn-, Warn- und Drohhand wurde, verstand ich die Welt nicht mehr. Nicht, dass ich vor dieser Hand in Deckung hätte gehen müssen, nein, es war die Verwandlung, die plötzliche Auflösung eines Zaubers, den ich als kleiner Junge mit ein bisschen Geschick jederzeit hatte abrufen können. So stand ich dann immer öfter da, völlig irritiert und suchte nach meiner Schuld.

    Ach, Mutter, Mutter, Mutter, was ist bloß los mit uns? Warum können wir nicht unbefangen miteinander umgehen? Jetzt schaust du auch noch drein wie ein „bedröppeltes Huhn". (Das ist so ein Wort aus Mutters Repertoire an Sprachbildern.)

    Sie hatte gespürt, dass es mich Überwindung kostete, mich ihr zwanglos zu nähern. Jedes Mal dieses innere Zerreißen. Mein Gott, es war doch meine Mutter. Lag mir denn so wenig an dieser Frau, der ich doch so viel verdanke? Die mir schließlich das Leben geschenkt hat, hallo! Klar, dass Eltern und Kinder sich nach einer Zeit nicht mehr viel zu geben haben. Jeder ist mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt, der eine mehr, der andere weniger. Und dann das Hindernis der großen Entfernung. Es schlich sich bei mir ein Gefühl ein, als ob auch Mutter sich mit einem längeren Zusammensein schwer tat. So glaubte ich jedenfalls, ihre doch sehr distanzierte Verabschiedung verstanden zu haben. Das ließ sie mich unüberhörbar durch versteckte, teils ironische Spitzen merken.

    „Für alles habt ihr Zeit, nur für eure Eltern nicht."

    Damit traf sie voll in die Zwölf meines lauernden Gewissens. Ich hätte mich auch gewundert, wenn da nicht noch ein Giftpfeil in ihrem Köcher gewesen wäre. Konnte sie das nicht einfach mal lassen? War es ihr denn nicht möglich, einfach die Dinge so zu sehen und anzunehmen, wie sie nun einmal sind.

    In den ersten Jahren meiner Volljährigkeit traf sie mich oft mit dem Stereotyp:

    „Wenn die Dame nicht warten kann, dann ist es besser, du lässt sie laufen."

    Ich bemühte mich, ihr diese unsinnigen Gedanken, ihre Eifersüchtelei auszutreiben.

    „Ach Mutter, warum dieser Vorwurf? Warum noch mal schnell auf den Busch geklopft? Es gibt im Moment keine Dame. Glaubst du wirklich, ich würde mich davor drücken, dir die Wahrheit zu sagen?"

    Dann schaute sie mich an mit einem Blick, der mich lange nicht losließ. Und dann bekam sie doch eines Tages was sie wollte. Ich belog sie. Ich log, um ihr ein besseres Gefühl zu geben. Seltsam dabei war, dass auch ich diese Abschiedsszenen jetzt besser ertragen konnte.

    Vater, das glaube ich hundertprozentig, sah, was da für ein Schmierentheater ablief. Wenn er mir Lebewohl sagte, waren seine Augen weit geöffnet, und wenn wir uns die Hand reichten, erwärmte ich mich an seinem Blick. Manchmal denke ich, dass wir uns gerne umarmt hätten. Wir spürten aber beide, dass wir damit Mutter nur noch mehr Anlass zur Eifersucht gegeben hätten.

    Wenn ich heute an meinen Vater zurück denke, umfängt mich ein Gefühl von Heimat. Ich erinnere mich nicht, dass jemals seine Zuneigung einer irritierenden Störung unterlag. Ich mochte es geradezu, wenn er mich kritisierte. Dabei pflegte er den kameradschaftlichen Umgangston. Auch sparte er nicht mit Lob und nach jeder positiven Bekräftigung spürte ich in mir die Lust zu neuen Taten. Er sagte mir, wie sehr er sich freue, dass ich alleine klar komme. Wenn er, wie er mir einmal klar zu machen versuchte, als „Lonesome Rider" auf seinem Fahrrad die Momente der Zufriedenheit erlebte, die er als Regeneration seiner Kräfte brauche, so zeigte ich dafür Verständnis. In den wenigen halben Stunden, die wir zusammen waren, lernte ich seinen Spaß am Umgang mit Sprache kennen. Wir pflegten den Wortwitz. Mit Mutter war das eigentlich nicht viel anders. Auch mit ihr gelang es immer mal wieder, kurzlebige Heiterkeit zu erreichen. Was sollte man aber machen, wenn es am Ende dann doch wieder

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