Blickdicht: keinen
Von Eugen Bach
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Buchvorschau
Blickdicht - Eugen Bach
Blickdicht
von Eugen Bach
Für
J. Heigl
M.Weig
Evelyn
Inhalt
Vorwort
Track 1 Ingrid
Track 2 Brigitte
Track 3 Henriette (eine Schuldirektorin nimmt mich ins Gebet)
Track 4 Ein angehender Kriminalkommissar will Casanova werden
Track 5 Jagdzeit
Track 6 Die Poolparty
Track 7 Bettgeschichten
Track 8 Im Himmel unterwegs
Track 9 Antiquitäten und ältere Damen
Track 10 Ich fliege auf
Track 11 Frauen über Frauen
Track 12 Ein Künstler unter sich
Track 13 Kunstausstellung
Track 14 Große Erwartungen
Vorwort
Ein Buch für alle diejenigen, die, wenn es sein muss, immer noch Kind sein können.
Für alle, die nie aufgehört haben zu träumen und für die wenigen, die Freude daran finden, oft genug wie gedruckt zu lügen.
Vor allem aber eine Geschichte über Liebe und Aberglauben, verbunden mit einer Zeitreise in die Welt von gestern.
Alle vorkommenden Personen sind reine Phantasiegeschöpfe.
Ähnlichkeiten mit Lebenden und Verstorbenen sind daher so gut wie ausgeschlossen.
Sämtliche Ereignisse beginnen und enden für den Leser im Zimmer eines exklusiven Seniorenstifts, in dem das Licht aber nie ganz verlöscht, weil fortwährend Aschehäufchen vergangener Lieben aufglühen.
Ich bin ein ziemlich alter Mann. Liegen und Lügen kann ich aber immer noch recht gut.
Nur das Aufstehen und Hinsetzen bereitet mir große Mühe.
Da beides mit Schmerzen verbunden ist, liege oder sitze ich die meiste Zeit.
Mein Aschenbecher ist immer gut gefüllt mit Zigarettenkippen und von den Gläsern in meiner Reichweite ist immer eines mindestens zur Hälfte voll mit Wein.
Das macht die Tage erträglicher und etwas leichter.
Zwei Dinge gehören mir immer noch.
Die Erinnerung an mein bisheriges Leben und der noch fehlende winzige Rest.
Ich habe keine Kinder gezeugt, keinen Baum gepflanzt, kein Haus gebaut und kein Buch geschrieben.
Doch gerade die Zeit, in der ich jung war, war auf wunderbare Weise einzigartig und außergewöhnlich, und warum gerade ich der Glückliche gewesen bin, weiß ich nicht.
Irgendwann habe ich beschlossen diesen Teil meines Lebens ganz einfach zu erzählen.
Da mich aber dabei Fragen nur unterbrechen und stören würden, gebe ich die Ereignisse einfach in meinem Phone wieder und drücke erst dann auf Aufnahme, wenn ich genügend Klarheit in meine Erinnerungen gebracht habe und sie in fertigen Sätzen wieder lebendig werden lassen kann.
Mit meinen weit über siebzig Jahren ist das, wie ich finde, ein wunderbares Gehirntraining. Ganz ohne Sudoku und Kreuzworträtsel. mit denen sich einige wenige Mitbewohner hier im Heim herummühen.
Was meine Hörer anbelangt, so habe ich nur einen, dafür aber recht aufmerksamen gefunden. Er hört sich meine fertigen Tracks nicht nur an sondern kommentiert sie wortlos.
An seinem Gesicht erkenne ich sofort, ob ihn das, was ich aufgesprochen habe, langweilt oder ob er begierig ist mehr zu erfahren.
Bevor ich also mit meiner Geschichte beginne, erzähle ich erstmal von dem jungen Mann, der hier im Heim als Altenpfleger arbeitet. Aufgefallen ist er mir vom ersten Augenblick an.
Nicht durch sein Äußeres, denn seine Statur und sein Gesicht sind eher unscheinbar.
Nein, was mich sofort für ihn eingenommen hat, waren seine warmen und aufgeweckten dunkelbraunen Augen, die ausnahmslos jeden, der in seine Nähe kommt, anstrahlen.
Egoismus und sei es auch der Gesunde ist ihm völlig wesensfremd.
Er wirkt auf mich wie ein Ofen,der immer mit der gleichen Temperatur brennt, und diese herzhafte Nächstenliebe ist dann auch der Grund dafür, warum ihm alle hier im Haus mit Achtung und Respekt gegenübertreten.
Der Mann ist ohne Beziehung.
Was sein eigentliches Problem mit Frauen ist, weiß ich nicht.
Ich weiß nur, dass es ihm die eine oder andere junge Dame, wenn sie sich hier in Gestalt von Pflegerinnen oder Besucherinnen durch die Gänge bewegt, ziemlich angetan hat.
Er blickt ihnen dann sofort immer anerkennend nach, ohne dabei mit seinem Charakter zu brechen.
Er bleibt auch in diesem Moment völlig frei und ruht weiter gelassen in sich.
Vielleicht so wie ein Kunde vor einem Autosalon, der zwar die Nase fast an die Scheibe drückt aber sich längst damit abgefunden hat, dass ihm das nötige Kleingeld für die Luxuskarossen fehlt.
Schon in unseren ersten Gesprächen – wir hatten schnell Zutrauen zueinander gefasst – hatte er das blaue Auge seiner Beziehungslosigkeit nicht versteckt, sondern es mich offen sehen lassen.
Er meinte, die Damen, die ihm gefielen, bekomme er nicht und die, die nicht über das für ihn nötige Gütesiegel verfügten, wolle er nicht.
Ich habe das kurz zusammengefasst und nicht mit seinen eigenen Worten wiedergegeben, denn eine weitere Eigenart seines Wesens besteht darin, mindestens drei Sätze zu sagen, wenn einer genügen würde.
Am Anfang war mir das gar nicht so aufgefallen, weil mich seine menschliche Art so faszinierte. Aber dann bemerkte ich es doch irgendwann, vielleicht so wie eine Unebenheit in einem Spazierstock, den man aber dennoch gern in der Hand hält.
Er sagt also beispielsweise: „ He, alter Frauenheld! (das bezieht sich auf meinen unglaublichen Erfolg bei Frauen) Willst du heute zum Abendessen in den Speisesaal oder willst du lieber im Zimmer essen? Ich meine, ich kann dich rüber begleiten. Ich habe auch kein Problem damit, dich hier zu verköstigen."
Es passiert nur noch sehr selten, dass ich mich allein zum Essen in den Speisesaal begebe.
Nicht deshalb, weil der Weg dorthin für mich mühsam und anstrengend ist. Wenn ich mich an den Geländern, die überall in den Gängen angebracht sind, abstütze und festhalte, brauche ich ohne Hilfe zwar eine Ewigkeit, aber es ist zu machen.
Der Grund ist vielmehr, dass ich gar nicht weiß, was ich dort soll.
Es ist so wie bei einem alten Hund, dem man den Napf vor die Hütte stellt. Würde man ihn auch von seiner Leine losmachen, er fräße auch dann an keinem anderen Platz.
Diese halbe Stunde mit all den anderen alten Menschen macht mich schwermütig, weil mir dann klar bewusst wird, dass wir uns alle an der Endhaltestelle befinden.
Schlaffe Wangen, schütteres graues und weißes Haar, Altersflecken an Händen und Armen, Rollatoren und Rollstühle sind hier der Spiegel, in den man jeden Moment blickt. Dennoch nehme ich es manchmal auf mich, weil ich mich bewegen muss und weil ich, sobald ich in mein Zimmer zurückgekehrt bin, die für mich tote Welt des Alters wie einen Vorhang zur Seite schieben kann und auf meinem Bett liegend, den Blick zur Zimmerdecke gerichtet, wieder und wieder eintauche in die süße Welt von gestern.
Track 1 Ingrid
In meiner Kindheit und Jugend gab es kein Handy, keinen Computer und kein Internet.
Aber es gab Frauen und was für welche!
Für mich bedeuteten sie genau dasselbe wie für kleine Meeresschildkröten der Ozean.
Eigenartigerweise ist das Erste, was mir dabei einfällt der Kaugummi.
Damals gab es keine Kaugummis, die die Zähne weißer machten oder in zig Fruchtsorten unterteilt oder frei von Zucker waren.
Der Kaugummi war groß und schwer und süß. Um mit ihm fertig zu werden, brauchte es gewaltige Kauanstrengungen. Die Mädchen in meiner Schule strengten sich auch gewaltig damit an. Manche von ihnen schoben sich zwei oder sogar drei von diesen süßen Brocken in den Mund und nach einiger Zeit formten sie mit ihren genauso süßen Lippen, Zungen und Mündern eine dicke fette Blase, die sie dann in letzter Sekunde gekonnt am Zerplatzen hinderten.
Dann beförderten sie die Riesenkugel wieder ganz zurück in den Mund, um das Kauspielchen wieder von vorne beginnen zu lassen.
Es wurde gekaut wie bei Kühen auf der Weide mit dem Unterschied, dass die Milchlieferantinnen sich selbst genügten, die Mädchen aber ihre kleine oder größere Show damit abzogen.
Wenn die Aufmerksamkeit durch Größe des Ballons, Gang, Bewegung und Blick der Kauenden groß genug war, ließ sie ihn auf einmal mit einem lauten Geräusch platzen.
Diese kontrollierte Explosion war der Höhepunkt der Darbietung, vor allem dann, wenn sie dir im Moment des Knalles ihren Blick schenkten. Das hieß dann:
„Na, schau her! Alles unter Kontrolle. Bin ich nicht einmalig?
Nun damals reflektierte ich nicht so viel wie in späteren Jahren. Ich atmete nur tief durch und wusste: „Ihr seid einmalig!"
Eine von ihnen war Ingrid.
Sie war Arzttochter und damals vielleicht dreizehn oder vierzehn Jahre alt. Ihr Ballon hatte in etwa immer die gleiche Größe und sie musste sich auch gar nicht zu irgendwelchen Rekordversuchen aufschwingen.
Die Blicke der Jungs ruhten auf ihr wie die Ferngläser einer Jagdgesellschaft auf dem einen großen Rehbock. Wenn sie in den Spiegel schaute, sah sie sich sozusagen durch das eigene Fernglas. Was sieh sah, hob sie haushoch über die anderen Mitbewerberinnen hinaus und genauso gab sie sich auch. Sie hatte kurzes rötliches Haar, große blaue Augen und ein paar Sommersprossen.
Die Krönung aber war eine Stupsnase, die dieses bildhübsche Gesichtchen veredelte wie eine Kirsche die Schokoladentorte. Bemerkenswert auch ihre Kleidung. Ein Faltenröckchen, das genau bis zu den Knien ging, die Strümpfe in der Farbe des Rockes und an den Füßen teure dunkle Lederhalbschuhe mit kleinen Silberapplikationen.
Dazu eine weiße Bluse und ein hellblaues Jäckchen. Alles sah aus, als hätte man es ihr gerade gekauft.
Zusammengehalten wurde die gesamte Komposition von einem tadellos gezogenen Scheitel, der welche wilde Bewegungen sie auch immer mit ihrem Kopf ausführte, brav in die ursprüngliche Form zurückfiel.
Zähne, Bluse und der Ballon in seiner dezenten Größe mischten ein Weiß an, für dessen Sauberkeit und Frische mir im Moment nur zwei Vergleiche einfallen. Ein Südseesegel und der Kittel einer bildschönen Apothekenhelferin.
Wenn ich über ihre Figur etwas sagen müsste, würde ich am liebsten schweigen und stattdessen eine Zeitrafferaufnahme von ihr auf irgendeinem Monitor laufen lassen.
Man kennt das ja gut von Naturfilmen, wenn die Kamera die Knospe filmt und die Transformation zur Blüte nicht Wochen oder Monate dauert, sondern sich in Sekunden vollzieht. Dann würde man auch sofort sehen, wie flüchtig und kurz die Schönheit der Jugend eigentlich ist und sie noch weit mehr wertschätzen.
Nun ja, ich durfte sie kennen lernen als die Knospe gerade aufsprang und das Kind sich in genau das bezaubernde junge Ding verwandelte, das ich jetzt ganz deutlich vor mir sehe, während der Rauch meiner Zigarette langsam an die Decke zieht.
Sie hat ihre blaue Jacke über eine Stuhllehne im Tischtennisraum unseres Gemeindezentrums gehängt. Ingrid steht an der Tischplatte, die linke wirft den Ball senkrecht nach oben, der Kaugummi detoniert recht sanft, ohne dass sie dabei jemanden eines Blickes würdigt und der Schläger in ihrer Rechten bringt den Ball zielsicher über das Netz.
Da nicht das Match sondern nur sie allein der Gegenstand unseres Interesses ist, folgen meine Augen und die ein paar anderer Jungs nicht dem Ball sondern nur ihr allein.
Unter der Bluse hält ein weißer Büstenhalter ihren kleinen runden Busen gefangen.
Sein genaues Aussehen bleibt dabei ein Rätsel und die Phantasie schwingt sich deshalb zu den herrlichsten Mutmaßungen auf.
Als der Ball ganz nah vor dem Netz aufschlägt, muss sie sich weit nach vorne beugen und unser Blick geht so auch unter ihr Röckchen. Das Fieber steigt jetzt bei den meisten rapide an und während sie sich aufrichtet und der Rock viel zu schnell wieder an seinen Platz zurückfällt, rahmt mein Gehirn das eben gesehene Bild für die Ewigkeit ein.
Jetzt muss ich an die Turnstunde denken. Während wir Jungs auf Pfiff eiserne Stangen Meter für Meter nach oben klettern müssen, haben die Mädchen im anderen Teil des Saales, abgetrennt durch eine kleine Wand , Bodenturnen.
Gottseidank bleiben sie aber von der Höhe aus in bester Sichtweite.
Oben an der Stange sollen wir mit einer Hand an der Turnhallendecke anschlagen und alle die es schaffen, bekommen von unserem in die Jahre gekommenen Sportlehrer Herrn Waibel dann auch prompt eine Eins ins Notenbüchlein. Einige von uns schaffen es auch wirklich.
Allerdings wurde mein Glied auf dem beinharten Weg nach oben so herrlich von der Eisenstange stimuliert, dass ich mein Glücksgefühl zwischen den Beinen noch einige Sekunden lang auskosten muss, während ich wie ein satter Affe in der eisernen Baumkrone des Turnsaales hänge.
Wann immer es geht, wandert mein Blick zu Ingrid hinüber und die schwarze Turnbekleidung, die sie und auch ihre Mitschülerinnen in der Turnstunde tragen, gehören zur aufregendsten Wäsche, die ich jemals vor meinen Augen hatte.
Alle Mädchen trugen einen schwarzen Turnanzug. Der bestand aus zwei Teilen. Ein Leibchen in der Art eines Unterhemds, das gerippt war und den Blick auf Hals und Arme freigab, dazu ein Gymnastikhöschen, ebenfalls gerippt , das aufregend eng saß und die nackten Beine oder Beinchen ihrer Besitzerinnen erst recht hervorhob. Die meisten liefen barfuß herum oder hatten schwarze Gymnastikschühchen an den Füßen. Die wirkliche Beschaffenheit ihrer Körper blieb durch diese Turnbekleidung zwar wie in einem Tresor versteckt, andererseits ließ aber die Machart dieser Baumwolle unschwer die Zahlenkombination erahnen, die in den Tresor hineinführte und es brauchte gar nicht viel Phantasie, um sich ein genaueres Bild von den Proportionen jenes Mädchens zu machen, das einem nicht mehr aus dem Kopf ging. Vom Bauch oder von Bäuchen war absolut nichts zu sehen, denn das Hemdchen steckte entweder in der Hose oder fiel weit darüber.
Für uns war das eine herrliche und geheimnisvolle nicht bauchnabelfreie Zeit.
Ingrid nahm den Ball für eine weitere Angabe in die linke Hand. Mittlerweile war aber ihre Gegnerin uneinholbar weit vorne und jetzt ging es bloß noch darum, das Match zu Ende zu bringen. Der Ball retournierte scharf zu Ingrid hinüber. Während sie soweit es ging zurückwich, um den Ball doch noch zu bekommen und ihn auf die Tischplatte zu bringen, öffnete sich plötzlich die Tür und herein kam Joachim.
Was jetzt passierte, war an Dramatik für mich reicher als eine Notlandung bei Triebwerksausfall. Ingrid, die bis jetzt nur uns oder besser unseren Augen gehört hatte, ließ den Ball Ball sein und rief nur ein einziges Wort. Nämlich den Namen ihres Liebsten. Dann flog sie in seine Arme wie der Falke auf den ledernen Handschuh seines Trainers.
In meiner Seele war es auf einmal totenstill. Ich hätte mich nicht einmal mehr setzen können, selbst wenn mich jemand mit aller Kraft nach unten gedrückt hätte. Eng umschlungen standen sie da und küssten sich. Seine fünf Finger auf ihrem Scheitel waren dabei so besitzergreifend wie die Tentakel eines Kraken.
Als sich endlich irgendwann seine Zunge von ihrer löste und er sie mit hinaus vor die Tür zog, dachte ich nur noch darüber nach, was mich von Joachim unterschied. Ich war fünfzehn und er drei Jahre älter. Er sah verdammt gut aus und ich mühte mich in Bezug auf Kleidung und Frisur redlich damit ab, etwas über dem Durchschnitt zu liegen.
Im Moment war er der Gewinner und ich der Verlierer. Soviel stand fest. Aus meiner eingebildeten Nähe zu Ingrid war lichtjahrelange Entfernung zu irgendeinem Stern geworden.
Dann, es musste zwei oder drei Nächte nach dieser Niederlage gewesen sein, hatte ich einen ganz besonderen Traum, der für mein weiteres Leben entscheidend werden sollte.
Unser Schulhaus war ein riesengroßer alter Kasten mit uraltem Holzgeländer und breiten Treppen.
Das Geländer war ziemlich steil und manche von uns setzten sich darauf und rutschten gekonnt Stockwerk für Stockwerk hinab. Kurz vor dem Ende musste man abspringen, um gleich darauf mit dem Hosenboden wieder Fahrt aufzunehmen und die Reise bis ins Erdgeschoß fortzusetzen.
Je nach Qualität der Hose wurde das mitunter zu einer ziemlich rasanten Angelegenheit und die besten von uns hatten hierbei den Status eines Zirkusakrobaten und damit natürlich auch die Aufmerksamkeit der Mädchenwelt.
Mein angekratztes Selbstbewusstsein führte wohl dazu, dass ich wenigstens im Traum diesen Joachim übertrumpfen musste. Ich rutschte jetzt nämlich nicht die Treppen hinunter, sondern ich sprang sie in großen Sätzen hinab.
Es war, als ob ich über den Stufen schweben würde. Mit den Fingerspitzen berührte ich lässig das Geländer und dann sprang ich los. Dabei war ich selbst freudig überrascht, dass ich mir dabei nicht weh tat. Selbst wenn ich mitten auf einer Treppenstufe landete, um gleich darauf mit dem nächsten Sprung meinen Flug fortzusetzen, war ich dabei so sicher wie ein Makakenäffchen im Regenwald.
Ich war der eine Artist unter den Artisten. Der eine Held unter den Helden. Der König unter den Königen. Es verstand sich natürlich von selbst, dass ich mein volle Sprungtechnik nur einsetzte, wenn Ingrid auf der Bildfläche erschien. Und es funktionierte so gut, dass ich mich auf einmal in ihren Blicken baden konnte. Ihr Kaugummi zerplatzte genau in dem Moment als sie etwas zur Seite trat, um mich vorbeifliegen zu lassen.
Als ich erwachte, rieb ich mir die Augen und begriff, dass ich alles nur geträumt hatte. Aber es war alles andere als ein Schock. Ich hatte nämlich erkannt, dass ich über ganz besondere Eigenschaften verfügen musste, um genau die uneingeschränkte Aufmerksamkeit zu erreichen, die ein Joachim einfach so bekam.
Wie wäre es, so begann ich mich jeden Tag und jede Woche nach diesem Traum zu fragen, wenn ich zum Beispiel mit einem ganz besonderen Blick oder mit der Kraft meiner Stimme eine andere Person dazu bringen könnte, sie bedingungslos in mich verliebt zu machen. Es wäre nicht nur phantastisch, sondern es wäre, da war ich mir ganz sicher, der Traum eines jeden Jungen.
In den folgenden Wochen und Monaten experimentierte ich wie wild herum. Ich hielt zu allen Frauen, die mir über den Weg liefen und mir dabei beiläufig einen Blick schenkten, nicht nur Blickkontakt sondern versuchte sie mit aller Kraft zum Stehenbleiben zu bewegen.
Manche von ihnen drehten sich auch irritiert nach mir um, weil ich sie so anstarrte. Aber nicht eine blieb stehen. Ich ließ mich aber davon nicht abschrecken. Kein Hund, kein Vogel, keine Katze war vor mir sicher. Ja, ich machte in den Zoogeschäften nicht einmal vor Fischen, Mäusen, Hasen oder Wellensittichen halt.
Mein Blick wurde von Tag zu Tag eindringlicher und fordernder. Aber nichts geschah. Nun entschloss ich mich dazu, Blick und Stimme zu vereinen und ganz gezielt einzusetzen.
Die ersten Versuche machte ich vor allem mit Hunden und Katzen, wenn ihre Besitzer nicht in der Nähe waren. Und wirklich – jetzt erzielte ich bei weitem bessere Ergebnisse. Einmal brachte ich einen Pudel soweit, dass er sich mit mir fast dreihundert Meter von seinem Frauchen entfernte.
Als ich ihn aber gerade dazu bringen wollte, sich auf den Boden zu legen, ertönte ein lauter Pfiff und mein Versuchskaninchen preschte einfach auf und davon.
Aufgeben kam nicht in Frage. Die Tierversuche wurden besser und besser. Irgendwie kam es aber zu keinem nennenswerten Durchbruch. Und dann auf einmal führte mich die zufällige Begegnung mit einer Nachbarin zum ersehnten Ergebnis.
Es war Frau Reilinger, die Oma von Ida, einer Klassenkameradin. Ida selbst war übergewichtig wie alle Frauen in ihrer Familie und ziemlich verschlossen. Unsere Begegnungen im Treppenhaus begannen und endeten deshalb immer nur mit einem kurzen Hallo. Sie hatte gerade die Tür aufgesperrt und war mit einer schweren Einkaufstasche und drei Tüten auf dem Weg nach oben ins fünfte Stockwerk.
Weil es damals üblich war in der Nachbarschaft beim Tragen zu helfen, nahm ich ihr gleich die schwere Tasche aus der Hand und sagte: „ Warten Sie , Frau Reilinger! Ich helfe Ihnen!"
Ich drückte mich schnell an ihr vorbei, nahm wie mein Held im Traum gleich mehrer Stufen auf einmal und hörte sie noch rufen: „ Warte aber bitte vor meiner Tür. Nicht gleich wieder weglaufen!"
Oben angekommen stellte ich ihre Tasche ab und ein Blick nach unten zeigte mir,