Aus dem Rahmen gefallen: Praktische Autismuskunde von einem, der es wissen muss
Von Peter Schmidt
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Über dieses E-Book
Dr. Peter Schmidt, selbst Asperger-Autist und hochbegabter Geophysiker, erklärt die typischen Verhaltensweisen von Autisten und wie diese aus der Innenund Außensicht wahrgenommen werden. Missverständnisse im Zusammenleben und am Arbeitsplatz sind vorprogrammiert, wenn Nicht-Autisten die andersartige Wahrnehmung und die speziellen Bedürfnisse von Autisten nicht berücksichtigen. Das Buch liefert hierzu einen fachlich fundierten und dennoch unterhaltsamen Beitrag.
>> Autismus verstehen
>> ein Sachbuch über Autismus aus der Innen- und Außenperspektive
>> mit Empfehlungen für autistenfreundliche Schulen und Arbeitsplätze
Peter Schmidt
Peter Schmidt, the author of Color and Money and the co-author (with Anthony Carnevale and Jeff Strohl) of The Merit Myth: How Our Colleges Favor the Rich and Divide America (The New Press), is an award-winning writer and editor who has worked for Education Week and the Chronicle of Higher Education. He lives in Washington, DC.
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Buchvorschau
Aus dem Rahmen gefallen - Peter Schmidt
Peter Schmidt
Aus dem Rahmen gefallen
Praktische Autismuskunde von einem, der es wissen muss
Patmos Verlag
Inhalt
Auftakt
Vorwort von Prof. Dr. Dr. Kai Vogeley
Der aus dem Rahmen fällt
Was isn das, Autismus?
Die zerrissene Jeans – Bug oder Feature
Eine knappe, knackige Antwort
Die mysteriöse, unsichtbare Mauer – wie ich Autismus als Kind fühlte
Inseln und Kontinente – ein Autismus-Modell
Das Muster, das Autismus charakterisiert
Autistische Begleitsymptome wie Reizüberflutung, Prosopagnosie und andere
Autismus-Folgen – Depressionen, soziale
und andere Phobien
Wie ich Kommunikation erlebe – wenn Grau
Rot oder Grün sein kann
Finden Sie die Swimming-Pools! – was
Kompensation bedeutet
Die plattgebügelte Katze – Autisten haben alle Gefühle, die es gibt
Strukturen geben Halt – Ordnungen, Pläne,
Rituale, Stereotypien
Stereotypien sind keine Zwänge
Wenn es tilt macht – Overload, Meltdown
und Shutdown
Der AH-Effekt, intensive Gefühle und
andere Wahrnehmungen
Wenn aus normal-unangenehm
unerträglich-schmerzvoll wird
Anders geboren – allein unter Kindern
Die tollen Tapeten und die tolle Tante
Die Reise nach Jerusalem
Der Arm, der nicht brechen wollte
Die Mautstelle im Supermarkt
Die unteilbaren Süßigkeiten
Mensch-ärgere-dich-nicht!
Der Weihnachtsliedersingplan, die Autonummernbücher und weitere Tabellen
Im Land der blauen Freunde –
Das Lied vom Anderssein
Merkmale einer autistenfreundlichen Schule
Der Zuckertütentag – aus meiner Sicht
Keine zweite Chance für den ersten Eindruck – die Lehrersicht
Eine Schule voller Straßen
Das Autochen-Ritual
Der Junge, der nur Einsen oder Vieren schrieb
Blue or black? – das Erreichen des Lernziels ist nicht nach Schema F prüfbar
Bilder haben eine Aussage
U wie United – über Sitzordnungen
und reizarme Räume
Der Unterricht ist Erholung – die Pause ist Stress
Konflikte und Mobbing – Brennendes Fett in der Pfanne
Opfer und Täter bei Störungen durch Mitschüler
Die gegenseitige Angst vor dem Unbekannten
Steif wie ein Brett? – Auch Bretter biegen sich! – Sport gehört dazu
Bad und Bus – auf Jugendfreizeiten
und Klassenfahrten
Autisten lernen anders – konkurrierende Erlasse und die ideale Schule
Gesetze für den Take-Off ins Leben –
die geplante Flexibilität
Der autistenfreundliche Arbeitsplatz
Die Kantine und der Achtstundentag
»Stell dich nicht so an!« – im ersten Job
als Werkstudent
Widerstand oder Kapazität – Die Wirkung des polarisierten Fähigkeitenprofils
Bärendienste und andere unverstandene Spielchen – Alltag im Berufsleben
Konflikte und Mobbing – Die Gratwanderung der Gerechtigkeit
Einzelbüro statt Kommunikationslandschaften
Kontaktalarm und Gelassenheit
Was mir hilft und was ich brauche, um abzuliefern
Als Autist erfolgreich im Team – so kann es gehen!
Konkurrierende Sehnsüchte – Partnerschaft und Liebe
Allein, aber nicht einsam
Pubertät jenseits von Cliquen und Disco
Innere Konflikte – selbstverletzendes Verhalten
Gewaltfreie Kommunikation
Von Checklisten, Tests und der Liebe im Koordinatensystem
Herausforderndes Verhalten –
die Mohnbrötchengeschichte
Voraussetzungen beim nicht-autistischen Partner
Geplante Gefühle und sexuelle Leidenschaften
Was ich mit meinen Kindern (nicht) anfangen konnte
Vulkanisches Fazit
Auch das noch!
Die Störung als System der Stärke
Innen- und Außensichten –
Autismus durch das JOHARI-Fenster
Vor- und Nachteile einer frühen oder späten Diagnose
City – Stadt – Großraum
Abgrenzung zu anderen Störungen und Mischformen: ADHS, schizoide und narzisstische Persönlichkeitsstörung
MASC und mehr – über Sozialverhalten und Empathie
Outing? Jein, bitte! – Von klinischer Relevanz
und vermeintlicher Gewissheit
Training statt Therapie – Lebenshilfe versus Psychofolter – ABA bitte mit Sahne!
Schlussakkord – die Nimm-Mits
Was Inklusion ist – von Schnittmengen, Integration und Extrawürsten
Fazit – Ein Autist kann aufblühen, wenn …
Who is Who
Disclaimer
Danksagung
Weiterführende Literaturhinweise
Über den Autor
Über das Buch
Impressum
Hinweise des Verlags
»Du kannst einen Menschen nichts lehren;
du kannst ihm nur helfen, es in sich zu finden.«
GALILEO GALILEI
Für alle, die im Bizarren zuallererst
das bewundernswert Besondere sehen und
mir damit helfen, meinen Weg zu gehen.
Auftakt
Vorwort von Prof. Dr. Dr. Kai Vogeley
Das Phänomen Autismus ist mindestens seit dem letzten Jahrzehnt in der Öffentlichkeit sehr prominent geworden. Besondere Beachtung haben dabei insbesondere erwachsene Personen mit Autismus bekommen. Dies kann daran liegen, dass das Konzept des Autismus 1981 durch die britische Psychiaterin Lorna Wing wiederbelebt wurde und die Kinder, die zu dieser Zeit eine Autismus-Diagnose erhielten, nun das Erwachsenenalter erreicht haben. Autismus aus der Perspektive von erwachsenen Betroffenen zu betrachten, ist aus zwei Gründen besonders wichtig. Zum einen bringt Autismus im Erwachsenenalter ganz neue Herausforderungen mit sich, etwa die Gestaltung von Partnerschaften oder den Einstieg ins Berufsleben. Zum anderen sind erwachsene Menschen mit Autismus natürlich in einer ganz besonderen Weise in der Lage, über charakteristische Eigenschaften von Menschen mit Autismus zu berichten und zu informieren.
Eine solche, hochinformative Lebensbeschreibung aus der Innenansicht eines Menschen mit Autismus wird in der vorliegenden »Autismuskunde« von Herrn Dr. Peter Schmidt mit den Lebenserfahrungen des autistischen Jungen in seiner Schulzeit, seinem Einstieg in den Beruf, der Teilhabe am Arbeitsleben als junger Erwachsener und der Gestaltung von Partnerschaft und Familie vorgelegt. Sämtliche Lebensphasen und Alltagswelten werden sorgfältig analysiert. Diese Beschreibung ist auch ein interessanter Einblick in gelungene Inklusion und das gesamte Bedingungsgefüge dahinter: die vielen verschiedenen wechselnden Kontexte von Peergroup, Arbeitskollegen und Familie. Eine wichtige Besonderheit an dem vorliegenden Buch ist, dass sich Peter Schmidt in einer sehr differenzierten und reflektierten Weise über sein eigenes Leben im jeweiligen Umfeld seiner Lebenswelt äußert, so dass wir nicht nur über die äußerliche Entwicklung informiert werden, sondern vor allem auch darüber, wie es sich anfühlt, immer nur wie hinter einer »Glasmauer« mit anderen zu kommunizieren oder auf einer von den »Kontinenten« abgegrenzten »Insel« zu leben oder eine Partnerin mit der »Checkliste Ehefrau« zu suchen.
Die vielen Beispiele machen den Zugang zu den Besonderheiten des autistischen Erlebens leicht nachvollziehbar und ermöglichen auch dem Leser, Empfehlungen für den Umgang mit autistischen Menschen abzuleiten, sei es in der Gestaltung von Schule oder Arbeitsplatz. Damit ist es ein sehr praktisches Buch. Obwohl das Buch das Thema Autismus inhaltlich auf hohem Niveau bearbeitet, ist es dennoch sehr kurzweilig und unterhaltsam geschrieben, so dass man es, einmal in die Hand genommen, kaum wieder weglegen kann.
Dabei werden in den Ausführungen von Peter Schmidt drei übergeordnete Aspekte immer wieder deutlich. Erstens: Das Leben eines autistischen Menschen in einer nicht-autistischen Umwelt ist mit enormen Anstrengungen verbunden. Zweitens: Auch wenn Autismus allgemeine Merkmale aufweist, die Grundlage der Diagnosestellung sind oder die eine Einschränkung am gesellschaftlichen Leben im Sinn einer Schwerbehinderung definieren, ist Autismus zugleich auch immer als Folge der jeweiligen Lebensgeschichte der einzelnen Personen ganz individuell ausgestaltet; das bedeutet auch, dass Menschen mit Autismus auch Eigenschaften besitzen, die gar nichts mit Autismus zu tun haben. Drittens: Autismus beschreibt Eigenschaften einer inneren Verfassung, die lebenslang besteht und nicht durch einfache Maßnahmen »korrigiert« werden kann, wenngleich von der Frühförderung junger Kinder bis zur therapeutischen Begleitung von Erwachsenen auch substantielle Hilfe bereitgestellt werden kann.
Das wiederum bedeutet, dass sich nicht nur Menschen mit Autismus auf die oft unverständliche Welt von Nicht-Autisten einstellen müssen. Vielmehr müssen wir alle offen und neugierig für andere Menschen bleiben, insbesondere für die, die in mancherlei Hinsicht vielleicht anders wahrnehmen, erleben, fühlen, denken oder handeln als wir selbst. Nur dann wird es uns gelingen, Menschen, die »anders« sind, nicht auszugrenzen, sondern an unserem eigenen Leben teilhaben zu lassen. Dieses »Anderssein« schließt natürlich nicht nur die vermeintlichen Schwächen von autistischen Menschen ein, sondern mindestens genauso ihre Stärken, beide Seiten sind in diesem Buch als »bug« versus »feature« oder – in eine physikalische Metapher gewendet – als »Kapazität« versus »Widerstand« sehr eindrucksvoll dargestellt. Damit ist auch die Leserschaft definiert. Profitieren werden von diesem Buch nicht nur autistische Personen selbst, die einer anderen autistischen Person bei ihrem Lebensvollzug zuschauen und aus ihren Erfahrungen für sich selbst lernen können, sondern auch alle nicht-autistischen Personen, die offengeblieben sind, sich mit Anders-Denkenden und Anders-Erlebenden auseinanderzusetzen, unabhängig davon, ob sie in einem therapeutischen Kontext tätig sind oder nicht.
Ich persönlich wünsche dem Buch eine breite Leserschaft und hoffe, dass dieses Buch Diskussionen anregen kann, besonders zwischen den sogenannten Autisten und Nicht-Autisten.
Kai Vogeley, Köln, im Oktober 2019
Der aus dem Rahmen fällt
Liebe Leserin, lieber Leser!
Stellen Sie sich vor, Sie seien als Blinder auf einem Gehweg unterwegs, ohne zu wissen, was »Sehen« wirklich ist. Am laufenden Band kommt es zu Kollisionen mit anderen Menschen. Immer wieder fragen diese Sie vorwurfsvoll: »Können Sie bitte mal genauer hingucken, wo Sie hintreten?« Und Sie wundern sich dann und kontern: »Was soll das sein, sehen, hingucken? Wie muss ich mir das vorstellen? Wenn Sie das können, dann gehen Sie mir doch einfach aus dem Weg!«
Wenn meine Tochter wissen wollte, ob ihr Kleid gut aussieht, antwortete meine Frau: »Geh zu Papa, wenn der dir sagt, dass es gut aussieht, dann kannst du davon ausgehen, dass das stimmt!« Meine Antwort war stets ehrlich und aufrichtig, aber mitunter auch unpassend und schmerzvoll. Es sind gerade diese sozialen Situationen, die Autisten ins Abseits bringen, weil hier oft nicht die Wahrheit, sondern eine Höflichkeitslüge, zumindest aber eine höfliche, ausweichende Antwort erwartet wird. Denn Wahrheit kann schwer verletzen.
Wenn man zu mir als Schulkind gesagt hätte: »Solange du deine Hausaufgaben nicht gemacht hast, darfst du nicht spielen gehen!«, wäre ein ewiger Aufstand die Folge gewesen. Aus Sicht meiner Eltern, die mich möglicherweise gar als unerziehbar hingestellt hätten, hätte ich »herausforderndes Verhalten« gezeigt. Dabei wären sie es gewesen, die sich mir gegenüber vollkommen danebenbenommen hätten, wenn sie strikt auf der Einhaltung dieser aus meiner Sicht völlig willkürlichen Regel bestanden hätten. Für mich war es nicht die Frage, dass ich die Hausaufgaben machen will oder muss, sondern wann und wie! Denn ich war motiviert, hatte aber ein großes Erholungsbedürfnis. Erst musste der »Kommunikationskater«, auch gerne als »Sozialkater« bezeichnet, abgebaut werden, dann war ich bereit. Punkt 17 Uhr begann ich, meine Hausaufgaben zu machen!
Drei Beispiele, die charakterisieren, wie Autismus auf Außenstehende wirken kann. Autisten können die Beziehungsebene einer Kommunikation nicht intuitiv erkennen, sie verhalten sich in sozialen Situationen anders als erwartet und bestehen auf Rituale und Regeln, die ihnen guttun. Alle verbindlichen Vorgaben, die mein Gefühlsleben und meine Wahrnehmung infrage stellten, blockier(t)en meine Weiterentwicklung! So ließen meine Eltern mich letztendlich, wenn auch zunächst mit Widerstand, stets meinen eigenen Weg zum Ziel gehen. Wer neue Wege gehen will, muss ohne Wegweiser auskommen.
Ich war, bin und werde lebenslang ein Mensch bleiben, der aus dem Rahmen fällt. Im Jahr 2007, im Alter von 41 Jahren, war ich geschockt und erleichtert zugleich, als mich ohne Vorwarnung »wie ein Blitz aus heiterem Himmel« die Diagnose erreichte, dass ich lebenslänglich ein Autist mit einem lehrbuchartig ausgeprägten Asperger-Syndrom gewesen sei, ohne das zu wissen. Das Leben bekam durch das, wofür dieses Wort »Autismus« steht, eine generalschlüssige Erklärung. Der mittlerweile großkronig verzweigte, dick- und hochstämmig gewachsene Warum-Baum verzweifelter, unbeantworteter Fragen wurde mit einem Schlag gefällt.
Auf der Suche nach Hilfe fanden es andere Menschen interessant, wenn ich erzählte, was ich erlebt habe, wie ich meinen Weg gegangen bin. Dies führte auf einen Weg, der mich als Autor und Referent für Autismus in die breite Öffentlichkeit führte. Immer öfter fragten mich die Menschen, wo sie denn das nachlesen könnten, was ich über das Phänomen Autismus erzähle. So kam es schließlich zu diesem Buch!
Das vorliegende Buch veranschaulicht, was Autismus ist und dass eine andersartige Wahrnehmungsverarbeitung Grundlage aller autistischen Verhaltensweisen ist.
Konkrete Beispiele zeigen, wie ich als Kind und Jugendlicher die Schulzeit (üb)erlebt habe, wie ich mich als Erwachsener durch die Untiefen der Arbeitswelt navigierte und wie ich die himmelhohen Hürden auf dem Weg zur eigenen Familie überwand. Strategien, die mich weitergebracht haben, zeigen grundsätzlich, wie Autisten und ihr Umfeld besser miteinander klarkommen können. So wird deutlich, was ein Leben als Autist und ein Leben mit Autisten ausmacht, welche Herausforderungen bestehen und welche Lösungen es dafür geben kann.
Dieses Buch ist ein Beitrag für Außenstehende, Bedürfnisse autistischer Menschen zu erkennen, zu verstehen und zu akzeptieren. Autisten können inspiriert werden, indem sie die Analyse meiner Lebenserfahrungen auf die eigene Situation übertragen. Das hilft Autisten, sich selbst besser zu verstehen, um daraus Rückschlüsse für die Gestaltung ihres weiteren Lebensweges zu ziehen und ein fruchtbares Zusammenleben mit anderen Menschen zu ermöglichen. Dabei zeigt sich grundsätzlich, was Energie kostet und was Energie liefern kann.
Die konkrete Ausprägung allgemeiner autistischer Verhaltensmuster ist verschieden. Daher gibt es kein allgemeingültiges Rezept, wie man mit Autisten umgehen kann! Es sind immer individuelle Lösungen! Das Buch liefert auch keine Anleitung, wie man aus einem Autisten einen normalen Menschen macht! Denn das geht nicht!
Stattdessen wird herausgearbeitet, was helfen kann, den Alltag zu bewältigen, ohne dass eine wie auch immer geartete Therapie dabei die Persönlichkeit verändert.
Ein autistischer Mensch entwickelt sich am besten, wenn man seine Stärken fördert und ihm hilft, damit aufblühen zu dürfen. Denn das ist das Einzige, womit er es schaffen kann, sich nutzbringend in die Gesellschaft einzubringen, was mit weiterer motivierender Anerkennung und Teilhabe verbunden ist.
Vor Ihnen liegt nun meine kleine Autismuskunde für eine autistenfreundlichere Welt.
Mit diesem Werk, dessen Inhalt auf eigenen Beobachtungen, auf Austausch in vielen Diskussionen und Selbsthilfegruppen und natürlich auch auf Inhalten in der Literatur beruht, übergebe ich meine brücken- und tunnelreiche Autobahn durch das ansonsten nur schwer zugängliche, bizarr geformte autistische Gebirge dem Verkehr. Viel Spaß beim Entdecken einer anderen, bereichernden Weltsicht!
Was isn das, Autismus?
Die zerrissene Jeans – Bug oder Feature
Für die einen ist es eine Krankheit, eine Störung oder eine Behinderung. Für die anderen ist es eine Form des Andersseins, der Neurodiversität. Und wenn man genauer nachfragt, stellt man fest, dass keiner ganz genau sagen kann, was Autismus wirklich ist. Oder alle wissen es! Autismus ist zu verschieden. Autismus ist in aller Munde. Viele Menschen fragen sich mittlerweile, ob überall, wo Autismus draufsteht, auch wirklich sinnvoll definierter Autismus drin ist. Denn Autismus ist »in«.
Autismus ist umstritten! Besonders bizarr ist die Diskussion, ob es sich bei Autismus um eine bloße Form des Andersseins handelt oder ob dieses Wort für eine klinisch relevante Diagnose steht. Ein Anderssein kann durchaus attraktiv sein; klinisch auffällig sein, das möchte eigentlich niemand, und es wirkt sich auf das Leben eher nachteilig aus.
Ist Autismus nun ein Bug oder ein Feature? Bug steht negativ konnotiert für Störung und Feature positiv konnotiert für Merkmal. Die Antworten sind dieselben, die man auf die Frage »Ist eine zerrissene Jeans ein Bug oder ein Feature?« geben kann!
Ob eine zerrissene Jeans kaputt oder ein modisches Accessoire ist, hängt davon ab, in welchem Kontext die Hose getragen wird, wie sie ganz konkret aussieht und welchen Geschmack der Betrachter hat. Weiterhin spielt es eine ganz wichtige Rolle, wie die Löcher aussehen, wo sie sich genau befinden und wie groß sie sind. Eine Jeans, die man löchrig gerissen im Laden kaufen kann, gilt sicherlich als schickes Feature. Eine beim Bücken geplatzte Hose, die den blanken Po freilegt, dürfte als Bug einzustufen sein. Ob die zerrissene Jeans oder Autismus als Bug oder Feature wahrgenommen wird, hängt somit von der Einstellung, Perspektive und Erwartungshaltung ab.
Eine knappe, knackige Antwort
Wenn sich mir ein noch unbekanntes Wort präsentierte, nervte ich als kleiner Junge alle meine Mitmenschen mit der Frage: »Was isn das?« Und nicht immer war die Antwort leicht. Bei komplexen Dingen muss man ganz einfach anfangen. So war das auch mit der Antwort auf die Frage »Wat is en Dampfmaschin« aus dem Film »Die Feuerzangenbowle«: »Da stelle mer uns janz dumm.«
Wer so gar keine Ahnung von irgendwas hat, der zog in internetlosen Zeiten ein dickes graues Buch aus dem Regal, das alle Wörter wohlgeordnet listete. Und darin wurde auch ich, sobald ich endlich lesen konnte, oft kurz und bündig fündig.
In der Ausgabe des Dudens, den ich zu Hause habe, wird das Wort »Autismus« ganz schlicht wie folgt definiert: »angeborene Entwicklungsstörung, die sich durch extreme Selbstbezogenheit und soziale Kontaktunfähigkeit ausdrückt«. Ergänzend wird erläutert, dass das Wort »autos« aus dem Griechischen stammt und schlicht »selbst« bedeutet. Autismus ist also knapp und knackig »Selbstismus«.
Im Bedeutungswörterbuch von »Google« im Internet war 2018 zu lesen: »Autismus (Substantiv, maskulin; Medizin, Psychologie) – Entwicklungsstörung, die sich u. a. in (gravierenden) Schwierigkeiten im Umgang mit Mitmenschen, in der Kommunikation und in sich wiederholenden und stereotypen Verhaltensweisen äußert.«
Sowohl die »alte« Duden-Definition als auch die »neue« Internet-Definition bringen die Bedeutung von »Autismus« knapp, aber sehr prägnant auf den Punkt. Beide Definitionen beschreiben das Muster, das Menschen, die »Autismus haben«, die »Autisten sind« oder wie man es heute ganz genau nennt, »im autistischen Spektrum« liegen, verbindet und wie dieses Muster auf andere wirkt.
Autismus, der »Selbstismus«, ist dabei von Egoismus, dem bewussten Streben auf Kosten anderer, zu unterscheiden! Indem ich mich damit auseinandersetze, wodurch diese von Autisten gar nicht gewollte Fremdwahrnehmung zustande kommt, wird deutlich, was schließlich Autismus ausmacht, was damit in Zusammenhang steht und auch was damit wohl eher nichts zu tun hat und vielfach anderweitig erklärbar ist.
Das Phänomen Autismus zeigt sich durch verschiedene Symptome, die die Medizin in einem »Katalog der Krankheiten«, dem International Catalogue of Diseases (ICD), listet. Sie sind der Versuch, das Unbeschreibbare, aber augenscheinlich dennoch Vorhandene zu beschreiben.
Hans Asperger, Leo Kanner und andere prägten den Begriff Autismus medizinisch, doch die verblichenen Wissenschaftler helfen hier nicht mehr wirklich weiter. Denn die Klarheiten, die diese Menschen einst zu verbreiten schienen, indem sie unter anderem Begriffe wie Asperger-Syndrom und Kanner-Syndrom prägten, sind Geschichte. Zu viele Menschen gibt es, die nicht eindeutig in diese Strukturen passen und Mischformen darstellen. Und überdies gibt es mittlerweile verwirrende und zum Teil sich gar widersprechende Auffassungen unter Forschern und Ärzten darüber, was denn zum Beispiel speziell ein Asperger-Syndrom und ganz allgemein Autismus sein soll und was nicht. Die Wissenschaft spricht vom »autistischen Spektrum«, ohne jedoch klar zu umreißen, was denn Teil dieses Spektrums sein soll und was nicht.
Das Phänomen Autismus geht mit einer spezifischen Wahrnehmung einher. Diese manifestiert sich in erster Näherung als Kontaktstörung auf der Beziehungsebene, was sich wiederum durch charakteristische Symptome im Alltag äußert. Allgemeine autistische Verhaltensmuster sind individuell verschieden ausgeprägt.
Begabungen und Talente autistischer Menschen bleiben oft ungenutzt, weil sie nicht selten hinter der autistischen Fassade, die auf andere Menschen meist abstoßend wirkt, verborgen bleiben.
Sämtliche in diesem Buch vorgestellten Beispiele, aus denen Anregungen, Strategien und Wege zur Gestaltung des Lebens von und mit autistischen Menschen abgeleitet werden, orientieren sich an der grundlegenden Bedeutung des Wortes »Autismus«. Dabei ist es völlig unerheblich, ob Autismus aus der Innensicht heraus nun als Störung, Krankheit, Behinderung oder nur als eine andere Seinsform gesehen wird.
Die mysteriöse, unsichtbare Mauer – wie ich Autismus als Kind fühlte
Als Kind und Jugendlicher habe ich, ohne über das Phänomen Autismus Bescheid zu wissen, mein Sein unter Menschen so gefühlt, wie ich es in meinem ersten Buch Ein Kaktus zum Valentinstag beschrieben habe: »Es ist alles wie Glas, das man durchschauen kann, das zwischen dem Innen und dem Außen liegt. Unsichtbar. Ich erinnere mich an einen Vogel, der am Fenster sterben musste. Der wollte da einfach nur langfliegen, aber plötzlich gefror die Luft. Beständig fliege ich gegen etwas, das unsichtbar da ist. Ich begreife es nicht, genauso wenig wie dieser Vogel.«
Als ich im Alter von 41 Jahren, ohne danach zu suchen, herausfand, dass ich ein Autist sein soll und beim diesbezüglichen Aufarbeiten meines Lebens in der Literatur Bilder entdeckte, die Autismus durch ein Kind unter einer Glasglocke illustrierten, fühlte ich mich in meinem Gefühl voll bestätigt. Voller Wiedererkennungswert. Ja, das Modell zeigt einen Aspekt dessen auf, was Autismus ausmacht. Ein Merkmal von Autismus ist ja, dass er wie das trennende Glas als unsichtbar gilt. Die Unsichtbarkeit besteht in der Undeutbarkeit von Auffälligkeiten und Abweichungen.
Und bei genauerem, reflektierendem Denken wurde mir auch klar, warum das Glas ein sogar noch weitreichenderes Modell für Autismus ist: Man kann alles da draußen durch das Glas von innen heraus sehen, aber von außen nach innen ist es schon schwieriger zu erkennen, was hinter der Glasscheibe ist. Man bleibt im Innen für die Außenstehenden so gut verborgen wie Menschen hinter einer Fensterscheibe, die im Winter das warme Drinnen vom kalten Draußen trennt.
Und noch etwas illustriert dieses Modell: Ich bleibe im Innen für die im Draußen erst recht gefühlsmäßig unverstanden. Im Innen kann ich nicht das Wetter da draußen spüren. Nicht die Hitze oder Kälte, nicht die Nässe oder Trockenheit, nicht den Wind oder den Duft der Blumen und Blüten. Ich lebe sozusagen abgeschottet vom Außen im eigenen Raumklima. Und das hat bizarre Konsequenzen für Sozialverhalten und Kommunikation.
Denn die Menschen da draußen geben mir beständig Tipps, wie ich mich anziehen soll, damit ich in der Kälte überleben kann. Ich brauche innen aber keine Winterjacke. Und erst recht keinen juckenden und kratzenden Schal oder gar einen halswürgenden Wollkragenpullover. Stattdessen empfehle ich denen da draußen, endlich in T-Shirt und Shorts rumzulaufen. Das ist doch viel angenehmer! Und die da draußen meinen, ich spinne ja wohl!
Das Modell veranschaulicht ein grundlegendes autistisches Problem: Jeder kennt die Gefühlswelt, hier dargestellt durch die Umgebungsbedingungen, des anderen nicht. Weil sie durch eine mysteriöse, unsichtbare, undeutbare Mauer getrennt sind und dadurch andere Dinge fühlen. Genau deshalb passt das Glasmauermodell so gut zum Autismusthema. Es zeigt auf, welcher Verlust an Informationen vorliegt und was das für Konsequenzen hat. Für beide Seiten. Dass man sich nur rational, aber nicht intuitiv ineinander hineinversetzen kann. Und weil die da draußen in der Mehrheit sind, heißt es, Autisten hätten keine Empathie. Was in Bezug auf die da draußen stimmt. Aber umgekehrt gilt dies auch! Was schnell übersehen wird! Die da draußen haben allesamt auch keine Empathie für die im Innen, die Autisten. Jedenfalls nicht intuitiv. So hält sich übrigens das weit verbreitete Vorurteil, dass Autisten überhaupt keine Gefühle hätten. Was falsch ist. Autisten haben alle Gefühle, die es gibt!
Inseln und Kontinente – ein Autismus-Modell
Autisten sind wie Inseln, wenn Gesellschaften die zusammenhängenden Kontinente darstellen. Ihre einzige Gemeinsamkeit ist ihre Eigenschaft als Insel. Dieses Modell dient dem Zweck, die grundsätzliche Problematik autistischer Menschen im gesellschaftlichen Kontext zu beschreiben. Auf zusammenhängenden Landmassen, Kontinenten und Inseln herrscht gegenseitige Empathie. Dabei verstehen einander auf der Beziehungsebene alle Menschen, die auf derselben Landmasse leben, also deren Wohnorte auf dem Landweg verbunden sind. Und das völlig unabhängig von der gelebten Kultur und der gesprochenen Sprache. Zwischen Menschen ist in diesem Modell wechselseitige Empathie möglich. Dabei leben die meisten Menschen auf den kontinentalen Landmassen. Diese bestimmen mit ihrer Mehrheit die weltweit gültigen gesellschaftlichen Regeln. Es gibt eine wechselseitige Empathie zwischen zwei Orten in ganz Afreurasien, jener Landmasse, die aus Afrika, Europa und Asien besteht. Man kann von Berlin nach Shanghai über Land fahren, jedoch nicht nach Mallorca.
Eine wechselseitige Empathie ist jedoch nicht mehr möglich, sobald sich Wasser zwischen zwei Orten befindet! Das eine Insel vom Kontinent trennende Wasser unterbricht in diesem Modell die intuitive Kommunikation auf der Beziehungsebene. Um die nonverbale Kommunikation von einer Insel zum Festland oder einer anderen Insel zu ermöglichen, muss das Wasser überbrückt werden. Das geht zum Beispiel mit einem Schiff oder einem Flugzeug. Auf jeden Fall ist damit erheblicher Aufwand notwendig, um die Verbindung herzustellen.
Für festlandsnahe Inseln geht es vielleicht sogar noch sportlich schwimmend oder es reicht eine lange Brücke. Diese Hilfen entsprechen in diesem Modell dann dem Training oder einer Therapie, wenn es darum geht, Autisten Teil der globalen Gesellschaft sein zu lassen. Die Verbindung ist von