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... und am Ende wird alles gut
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eBook351 Seiten4 Stunden

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Über dieses E-Book

Simon Winkel hat sein Leben satt. Gezeichnet von Krankheiten und Einsamkeit beschließt er, seinem tristen Dasein ein Ende zu setzen.
Doch vorher will er noch einmal die Stätte seiner Kindheit sehen. Den Ort, an dem er zum letzten Mal wirklich glücklich war. Er kündigt seine Wohnung und macht sich auf den Weg an die Ostsee.
Eine Reise ohne Wiederkehr, ein Ziel, an dem er alles hinter sich lassen will.
Denn eins ist sicher:
Am Ende wird alles gut ...
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum21. Juli 2021
ISBN9783753197005
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    Buchvorschau

    ... und am Ende wird alles gut - Martin Dolfen Thomas Strehl

    … und am Ende wird alles gut

    Es gibt Lebensgeschichten voller Sonne und Glück und andere voller Regen und Tränen. Wie die meine.

    Doch das war nicht immer so. Eigentlich hatte doch alles so gut begonnen …

    Was hatten wir für eine wunderschöne Kindheit und Jugend. Wir besaßen kein Internet, kein Handy, nicht einmal Farbfernsehen. Wir redeten, spielten, kämpften, durften wild sein und toben. Wir konnten uns nach Herzenslust kaputtlachen, ohne dass jemand dachte, wir wären nicht richtig im Kopf. Das alles galt damals als völlig normal.

    Wir waren Krieger, manchmal Feinde und manchmal Verbündete. Die Waffen unserer Banden bestanden aus Worten und Fäusten, statt Messern und Schusswaffen. Lag jemand auf dem Boden, war der Kampf beendet. Danach tranken wir gemeinsam auf das Leben. Respekt war kein Fremdwort, sondern unsere alltägliche Umgangsform, unser Passus, der ungeschrieben in unseren Köpfen verankert war. Und wenn wir uns verliebt hatten, stammelten wir mit hochrotem Kopf sinnlose Worte und fielen abends beschämt und verwirrt in einen traumreichen Schlaf. Denn unsere Gedanken konnte uns niemand stehlen. Ja, tatsächlich. Es gab sie noch. Geheimnisse! Echte Hüter unserer eigenen Vorstellung. Die Wächter, die vor unserer Stirn patrouillierten und nichts und niemanden durchdringen ließen, es sei denn wir öffneten die Tore.

    Seinerzeit hätte ich niemals gedacht, dass es so kommen würde wie es gekommen ist. Und auch wenn sich allgemein alles verändert hat, so ist es doch meine ureigene Geschichte, die mich in Scham und hoffnungsloser Zukunft zurücklässt. Dieser Blick zurück und das Wissen, dass sich die Zeit nicht mehr zurückdrehen lässt, haben mich in eine Umlaufbahn aus Melancholie und Depressionen katapultiert. Was immer ich da umkreise, es gibt keinen Ausweg mehr. Konstanter Orbit, um eine leblose Hülle.

    Dieser ganze Mist begann mit zwei Liebeleien.

    Unsterblich hatte ich mich in eine Studentin verliebt. Ich, der Klempner und die unbeschreiblich hübsche Jurastudentin. Irgendwas stimmte in der Gleichung nicht und meine Minderwertigkeitskomplexe schossen wie Fontänen in meine Synapsen. Nach Wochen der Unentschlossenheit sprach ich sie an. Marlene. Witzigerweise hatte ich mir in den letzten Tagen der Vorbereitung noch ein paar Kilo heruntergehungert, damit ich nicht ganz so moppelig daherkam. Es kam, wie es kommen musste. Das Gespräch wurde zu einem Desaster. Sie gab mir unmissverständlich zu verstehen, dass sie nichts von mir wollte. Dies leider gespielt nett, was die Angelegenheit noch schlimmer machte.

    Dann gab es da noch eine Sache in meiner frühen Jugend. Ute, meine Ostseeliebe. Auch dort war ich verknallt bis über beide Ohren, aber meine eigene Dummheit und der fehlende Mut etwas zu riskieren, spielten mir einen Streich.

    Danach plätscherte mein Leben irgendwie ohne Höhen und Tiefen dahin. Meinen Frust über meinen ungeliebten Job und meine Schüchternheit fraß ich in mich hinein. Dies führte zu Übergewicht und einer Diabeteserkrankung. Also spritzte ich täglich Insulin. Dazu kam lebensbedrohlicher Bluthochdruck. Also nahm ich Tabletten dagegen. Dies verkraftete meine Leber scheinbar nicht. Also rannte ich mit einer sogenannten Fettleber herum. Egal! Genug Freunde hatte ich schließlich, die mir Halt gaben. Magier, Zwerge, Elfen und Hexer, die ich in der allumfassenden Welt des Spieleuniversums für mich entdeckt hatte. Ich war öfter krank, als dass ich zur Arbeit ging. Folglich blieb genug Zeit, um mich meinem Hobby zu widmen. Ich spielte Tage und Nächte durch, vergaß die Zeit und auch die wenigen Freunde, die mir in der wahren Welt geblieben waren, bis ich schließlich vom Stuhl kippte und für mehrere Stunden auf dem kalten Laminat liegenblieb. Der Anruf meines Arbeitgebers holte mich an jenem Morgen ins Leben zurück. Wie sich herausstellen sollte, hatte ich einen Herzinfarkt, mit gerade einmal achtunddreißig Jahren.

    Es wurde alles versucht, um mich wieder in ein normales Leben zurückzuholen, und ich bin weiß Gott dankbar für die versuchte und wahrscheinlich bestmögliche Unterstützung. Aber manchmal schreibt das Schicksal halt seine eigene Geschichte - ohne Happy End. Keine Standing Ovations, kein Applaus!

    Nach zehn Jahren erfolgloser Therapie, den ständigen Auf- und Abs, hervorgerufen durch hunderte verschiedener Antidepressiva, bin ich an einem Punkt angelangt, an dem alles für mich keinen Sinn mehr ergibt. Ich schaffe es nicht mehr aus diesem Strudel aus Vergangenheitssehnsucht, Selbstmitleid und Selbsthass auszubrechen.

    Ich bedanke mich bei allen, die an mich geglaubt haben. Die in mir ein Talent sahen und in mir einen Funken entfachen wollten, der nach ihrer Ansicht einen Großbrand zur Folge haben sollte.

    Bitte verzeiht mir, dass ich mit dem Löschzug über eure Bemühungen gefahren bin.

    Ich werde an den Ort zurückkehren, der mir in meiner Kindheit alles an Freude gegeben hat. Nun darf er mir alles nehmen.

    Danke für Alles…

    Simon

    Kapitel 1

    Ich erwachte am anderen Morgen. Mit dem Kopf auf meinen Zeilen. Ich hatte den Brief im Wohnzimmer am PC geschrieben, ihn dann ausgedruckt und mit in die Küche genommen. Dort hatte ich ihn immer und immer wieder gelesen. Warum schrieb ich etwas über meine Liebschaften oder meine Jugend? Gehörte so etwas in einen Abschiedsbrief? Egal. Es war mein Abschied. Nach der x-ten Flasche Bier war ich darüber eingeschlafen.

    Ich rieb mir den schmerzenden Nacken. Eines der wenigen Körperteile, das mir noch nie Schwierigkeiten bereitet hatte. Jetzt meldete es sich eindrucksvoll zu Wort. Öfter mal was Neues.

    Ich blinzelte und blickte aus dem Fenster. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel und lachte mich aus. Der strahlend blaue Himmel schien das Tiefschwarz in mir zu verhöhnen.

    Mein Blick fiel noch einmal auf die Worte. Ich las sie erneut und nickte mir zu. So schlecht war er nicht, befand ich. Ich hatte nicht viele Talente, aber Abschiedsbriefe schreiben konnte ich. Vielleicht gab es Verwendung dafür. So eine Art Industrie und ich konnte mich damit selbstständig machen. Ich schreibe Ihre letzten Worte, Sie brauchen sich dann nur noch umzubringen. Früher hätte ich wahrscheinlich bei solchen Gedanken gelächelt, aber die letzten Jahre hatten selbst meinen schwarzen Humor immer mehr verdrängt.

    Nur der Anfangssatz: und am Ende wird alles gut, gefiel mir nicht mehr.

    Dem Typen, der dieses Ding zum ersten Mal rausgehauen hatte, würde ich gerne mal die Meinung sagen.

    Ich war am Ende und irgendwie war gar nichts gut.

    Stöhnend erhob ich mich und sah auf die Küchenuhr. Es war bereits Viertel nach neun und ich musste mich sputen, wenn ich noch alles erledigen wollte, was ich mir für den letzten Tag auf Erden vorgenommen hatte.

    Ich schlurfte ins Badezimmer, machte mich ein wenig frisch, dann nahm ich die Kuverts vom PC-Tisch, die dort schon auf mich warteten.

    Es waren im Großen und Ganzen Kündigungen. Ich war ein ordentlicher Mensch und wollte geregelt aus dem Leben scheiden.

    Meine Versicherungen wussten wahrscheinlich gar nicht, dass es mich gab, also verloren sie einen guten Kunden. Mein Chef, der mich in den letzten drei Jahren vielleicht einen Monat lang gesehen hatte, würde drei Kreuzzeichen machen, dass er mich endlich von der Backe hatte. Und mein Vermieter würde eine Flasche Sekt köpfen, denn irgendwie hatte er sein Geld in letzter Zeit auch sehr unregelmäßig bekommen. Da war bei mir so ein bisschen der Schlendrian eingekehrt.

    Egal. Ich griff nach meiner Jacke, ließ sie dann aber doch am Haken. Wir hatten Mai und wenn der Tag mit dem gestrigen mithalten konnte, dann hatten wir jetzt bestimmt schon über zwanzig Grad.

    Also nur Schuhe, Schlüssel in die Tasche, Portemonnaie und ab dafür.

    Ich hatte die Haustüre noch in der Hand, als eine Person in meinem Rücken auftauchte.

    Es war Sascha, der Sohn meines Vermieters und er zog gerade sein sündhaft teures E-Bike aus der Garage. Inklusive Minihänger.

    Ich wusste, was er vorhatte, schließlich kannten wir uns lange genug. Und ich wusste auch, dass er sich ärgern würde, wenn ich ihn darauf ansprach.

    Also musste ich es tun.

    »Na, bringt uns der Postbote die neusten Blättchen und Angebotsflyer vorbei«, sagte ich und putzte ihm damit kurzfristig das überhebliche Grinsen aus dem Gesicht.

    Eigentlich war es Blödsinn, was ich hier machte, schließlich war ich ein Erwachsener, der mitten daneben stand und der Typ vor mir nur ein siebzehnjähriges Pubertier.

    »Mein Alter will eben, dass ich ein wenig mein Taschengeld aufbessere«, sagte er, ein wenig zerknirscht.

    Weil es die halbe Wahrheit war. Sein Taschengeld war mehr als üppig und hätte für wesentlich mehr als einen Monat gereicht. Er musste nichts dazuverdienen. Aber sein alter Herr bestand darauf. »Arbeit hat noch niemandem geschadet«, war seine Devise und deshalb musste sich sein armer, reicher Sohn jetzt mit Zeitung austragen, den Tag versauen.

    »Mach dir keine Sorgen«, sagte mein jugendlicher Freund. »Ich bin in spätestens einer Viertelstunde wieder da.«

    Leider wusste ich, dass auch dies stimmte. Der Vogel holte die Zeitungen an der Sammelstelle ab, dann fuhr er, ohne sich die Mühe zu machen auch nur eine auszuliefern, zu einem Altpapiercontainer und warf die gesammelten Werke hinein.

    Eine Beschwerde würde nicht kommen, denn sowohl der Auftraggeber als auch alle Empfänger des kostenlosen Blättchens wussten, wer die Zeitungen nicht lieferte. Sie kannten den nachtragenden Vater des Filius und wollten alle ihre Wohnungen behalten. Denn Herrn Baumeister, Saschas Vater, gehörte die komplette Siedlung.

    Mich konnte das nicht mehr belasten und ich wollte schon eine weitere bissige Bemerkung loswerden, doch der Jugendliche kam mir zuvor.

    Auch sein überhebliches Grinsen war wieder da und spätestens das hätte mich warnen sollen.

    »Ach übrigens«, sagte Baumeister Junior. »Schön, dass wir beiden mal so nett plaudern.« Das Grinsen wurde breiter. »Hat mein Alter eigentlich schon mit dir gesprochen?«

    Ich wusste nicht, worauf er hinauswollte und zuckte nur blöd die Achseln.

    »Ich werde ja bald achtzehn, weißt du«, fuhr er fort, als wäre sein Geburtstag ein gesetzlicher Feiertag und bei jedem fest im Kalender verankert. »Und da brauche ich ja ne eigene Bude. Leider ist bei uns gerade nichts frei und da dachte mein Lieblingsdad, dass ich deine haben könnte. Schließlich zahlst du die Miete nicht pünktlich und dann gibt es ja noch Eigenbedarf und so.« Wenn er keine Ohren hätte, dann hätte er jetzt im Kreis gegrinst.

    Ich hatte die Kündigung für die Bude im Umschlag in meiner Hand, trotzdem begann ich mich kurzfristig zu ärgern. Sollte ich meine Pläne ändern und mich in meinen bisherigen vier Wänden umbringen? Alles so richtig schön versauen und meinen Abschiedsbrief noch einmal ändern? Mit dem Passus: Ihr wolltet mir meine Heimat wegnehmen, meine Wohnung, meinen Anker und Lebensmittelpunkt.

    Ich blickte in das Gesicht vor mir und wusste, dass es diesen Typen keine schlaflose Minute gekostet hätte.

    Es war schwer, meine Wut niederzuringen. Weil ich ihn in diesem Moment hasste. Vielleicht für sein Glück aus reichem Haus zu kommen, von Beruf Sohn sozusagen. Oder für seine Jugend, seine Gesundheit. Oder einfach für sein gutes Aussehen und dafür, dass er jedes Wochenende mit einem anderen Mädel im Arm erschien. Wahrscheinlich war es, wie es Dieter Bohlen ausdrücken würde, das Gesamtpaket.

    »Hat es dir die Stimme verschlagen«, hetzte der Junge vor mir und plötzlich war ich wieder die Ruhe selbst.

    Ich hatte alles geregelt und einen unumstößlichen Plan, den ich sicherlich nicht für diesen Idioten ändern würde.

    Ich sah in den Packen Briefumschläge, reichte ihm den mit der Kündigung und jetzt war ich es, der lächelte.

    »Weißt du was?«, fragte ich ihn. »Wie wäre es, wenn du schon morgen einziehst?«

    Und damit ging ich und ließ ihn verwirrt zurück.

    Meine Schritte führten mich auf alt bekannte Pfade. Der kleine Schlenker zum Briefkasten war neu, aber die restliche Wegstrecke kannte ich genau. Jede Bürgersteigplatte, jede Bodenunebenheit, denn diese Straße hatte ich tausendmal beschritten. Ich endete vor einem großen, weißen Klinkerbau mit dem nicht zu übersehenden Messingschild.

    »Dr. med. Markus Winzen« war darauf zu lesen. Mein Hausarzt, mein Vertrauter und fast so etwas wie ein Freund. Jedenfalls sah ich ihn öfter, als jeden anderen meiner Bekannten.

    Ich öffnete die Tür, ging den Hausflur entlang und schnurstracks auf den Eingang der Praxis zu.

    Am Empfang saß Melanie, sie konnte mich nicht leiden, wahrscheinlich hielt sie mich für einen Simulanten. Und seitdem sie mich irgendwie herablassend behandelte, beruhte die Abneigung auf Gegenseitigkeit.

    »Ach, der Herr Winkel beehrt uns mal wieder«, empfing sie mich süffisant. »Wo drückt denn diesmal der Schuh?«

    »Das würde ich doch lieber mit einem Doktor besprechen«, meinte ich nur.

    Das Wartezimmer war tatsächlich leer. Ich hatte einen guten Zeitpunkt erwischt. Als wüsste das Schicksal, dass ich es heute eilig hatte.

    »Dann setzen Sie sich doch erst einmal ins Warte ...«

    Ich ließ sie nicht aussprechen. »Machen Sie sich mal keine Umstände. Ich gehe direkt durch.«

    Ich pokerte hoch. Es hätte auch noch ein Patient im Behandlungsraum sein können, doch ich riss einfach die Tür auf und trat ein.

    Markus Winzen saß auf seinem Ledersessel, die Füße auf dem Schreibtisch und schlürfte geräuschvoll Kaffee. Als er die Türe hörte, drehte sich sein Kopf schnell in meine Richtung und beinahe wäre ihm die Tasse aus der Hand gefallen.

    »Simon«, begrüßte er mich. »Haben wir heute einen Termin?« Sein Blick fiel auf den Computermonitor. »Ich dachte eigentlich, ich hätte jetzt eine halbe Stunde Pause.«

    Ich wartete nicht darauf, dass er mich dazu aufforderte, sondern setzte mich auf den Stuhl, auf der anderen Seite des Schreibtisches. Mein Arzt nahm die Füße vom Tisch, stellte die Tasse weg und sah mich mit sorgenvoller Miene an.

    »Was ist los?«, fragte er dann nur.

    »Nichts«, sagte ich und versuchte ein unbekümmertes Gesicht zu machen. »Ich wollte nur noch einmal vorbeikommen.«

    Falsche Wortwahl. Die Sorgenfalten beim Doc wurden tiefer.

    »Noch einmal vorbeikommen?«, wiederholte er misstrauisch. »Bevor...«

    War ich so leicht zu durchschauen?

    »Bevor ich in Urlaub fahre«, entgegnete ich.

    »Urlaub?«

    Wie gesagt, wir kannten uns lange, waren ungefähr im gleichen Alter und ich hatte ihm, zusätzlich zu meinen Krankheiten, oft mein Herz ausgeschüttet. Er war mein Arzt und Psychiater in einem. Oder sogar ein Freund.

    Er hatte mir oft zu Urlauben geraten, aber ich hatte immer abgeblockt, weil ich mich körperlich nicht in der Lage fühlte. Natürlich wurde er jetzt stutzig. Und mein nächster Satz, der wahre Grund, warum ich eigentlich gekommen war, machte die Lage nicht besser.

    »Hör mal«, sagte ich vorsichtig. »Ich würde gerne einen Organspenderausweis bekommen. Krieg ich den bei dir?«

    Er sagte Sekunden lang nichts, beobachtete mich nur und ich fühlte mich immer unwohler. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, hierher zu kommen.

    »Den kann man sich sogar im Internet runterladen«, meinte er dann nur.

    »Mein Drucker ist kaputt«, schaltete ich wirklich schnell.

    Der Doc öffnete eine Schublade und schob mir ein buntes Kärtchen über den Tisch. Ich wollte danach greifen, doch er zog es wieder weg.

    »Sollte ich irgendetwas wissen?«, fragte er nur.

    Ich schüttelte den Kopf. »Alles gut«, sagte ich. »Ich habe schon lange darüber nachgedacht und jetzt war ich einfach zufällig in der Gegend.«

    Er schob die Karte weiter und ich nahm sie an mich. Nicht ohne tatsächlich ein schlechtes Gewissen zu bekommen.

    »Ich danke dir«, meinte ich und erhob mich. »Wir sehen uns dann in zwei Wochen, wenn ich neue Rezepte brauche.« Die Lüge kam mir nicht leicht über die Lippen.

    Er stand auf und reichte mir die Hand.

    »Wo soll es denn hingehen?«, fragte er.

    »An die Ostsee«, meinte ich. »Alte Erinnerungen aufleben lassen.«

    »Dann wünsche ich dir viel Spaß.«

    Sein Händedruck war ein bisschen zu lang, sein Blick zu besorgt.

    »Mach keinen Unsinn, Simon«, sagte er leise und ich schüttelte schnell den Kopf. »Ich doch nicht«, doch ich fürchtete, dass mich mein falsches Lächeln verriet. Also verließ ich fluchtartig die Praxis.

    Draußen atmete ich tief durch. Das war schwerer gewesen, als gedacht. Es schien tatsächlich Menschen zu geben, denen ich etwas bedeutete.

    Oder er wollte einfach als Arzt keinen Patienten verlieren. Machte sich schlecht in der Statistik.

    Noch ein tiefer Atemzug, dann hatte ich mich soweit gefangen, dass ich meine Mission wieder aufnehmen konnte. Die nächsten Etappen würden einfacher werden.

    Drei Straßenecken weiter hatte ich die Sparkasse erreicht. Ich ging ins Foyer und holte meine Karte aus der Brieftasche. Kontostand abfragen, Geld abheben, dann zum Bahnhof und eine Fahrkarte kaufen. Ab nach Hause, eine kleine Tasche packen und meine letzte Reise konnte beginnen.

    Ich tippte den Code in den Kasten und mein Guthaben leuchte mir in großen Zahlen entgegen.

    Dann wurde mir schwindelig.

    Die Zahlen verschwommen vor meinen Augen und ich registrierte erst nicht, dass Tränen daran schuld waren.

    Ich blinzelte sie weg, doch die Zahl änderte sich nicht.

    54 Euro war alles, was mir an Geld noch zur Verfügung stand.

    Und die Fahrkarte allein kostete fünfundneunzig Euro.

    Mein gut durchdachter Plan geriet zum ersten Mal ins Wanken.

    Gut, ich könnte meinen Dispo belasten, aber dann würde ich mit Schulden aus dem Leben scheiden und das kam mir seltsamerweise nicht richtig vor.

    Ich war wie vor den Kopf geschlagen, doch weil sich hinter mir schon eine Schlange bildete, blieb keine Zeit für längeres Nachdenken. Ich hob nicht alles ab, sondern nur fünfzig Euro, weil es immer gut war, etwas Reserve auf der hohen Kante zu haben, dann verließ ich das Gebäude und setzte mich wieder dem Sonnenschein aus.

    Inzwischen war es richtig heiß, vielleicht kletterte das Thermometer wieder über dreißig Grad. An der Klimaerwärmung schien doch etwas dran zu sein, doch das sollte bald nicht mehr mein Problem sein.

    Ich bemerkte, dass ich immer noch den Fünfziger in der Hand hielt und ich verspürte eine gewisse Fassungslosigkeit. Natürlich war ich nicht der große Sparfuchs und es war bereits Ende des Monats. Aber dass ich so blank war, damit hatte ich nicht gerechnet.

    Ich ging ein paar Schritte und setzte mich erstmal auf eine Bank.

    Mein toller Plan rann mir durch die Finger. Frustriert schloss ich die Augen.

    Ich wollte doch heute noch losfahren. Ein Auto hatte ich nicht, auf Grund meiner Krankheiten wollte ich nicht mehr fahren und meine finanzielle Situation tat ihr Übriges dazu. Das Krankengeld reichte gerade für die Miete, einen vollen Kühlschrank und den Luxus einer schnellen Internetverbindung nebst Sky, Netflix und den anderen üblichen Verdächtigen.

    Mit dem Zug wollte ich mein Ziel erreichen und nun das.

    Dabei hatte ich gestern, als ich den Brief schrieb, förmlich das Meer gerochen. Das Haus meiner Großeltern gesehen, in dem ich meine unbeschwerte Kindheit verbracht hatte.

    Dann sind meine Eltern, wegen eines Jobangebotes, nach Mönchengladbach gezogen und ich wurde, ob ich wollte oder nicht, mit verschleppt.

    Einige Sommerferien verblieben mir noch, bis Opa und Oma verstarben, seitdem hatte ich die Insel gemieden. Fast dreißig Jahre war ich nicht mehr dort gewesen. Nun gab es auch meine Eltern nicht mehr, ihr Tod hatte zu meiner Abwärtsspirale nicht unwesentlich beigetragen.

    Hier hielt mich nichts mehr. Ich konnte mein Leben gar nicht wegwerfen, weil ich schon lange keins mehr hatte.

    Aber das Bedürfnis noch einmal das Fleckchen Erde zu sehen, auf dem ich, wie es mir schien, zum letzten Mal so richtig glücklich gewesen bin, wurde riesengroß.

    Noch ein letztes Mal das Meer sehen und riechen und dann eins mit ihm werden.

    Ich öffnete die Augen. Gestern klang die Idee so einfach. Heute Abend hätte schon alles vorbei sein können und jetzt scheiterte ich am schnöden Mammon. Ich hätte kotzen können.

    Langsam erhob ich mich und schlurfte niedergeschlagen nach Hause.

    Musste der Plan halt noch ein paar Tage warten, bis neues Geld auf dem Konto war.

    Aber ich wollte nicht warten, konnte es nicht. Ich musste aufbrechen, etwas tun. Weitere Stunden allein in meiner Bude würde ich nicht aushalten.

    Zum Glück war niemand auf der Straße, als ich meine Wohnung erreichte. Von Sascha war nichts zu sehen, nur sein Fahrrad stand vor der Tür. Er hatte seine Runde, die eigentlich keine war, schon beendet.

    Ich schloss auf, ging in die Küche, öffnete den Kühlschrank und entnahm ihm eine letzte Flasche Bier.

    Langsam sah ich mich um. Würde ich mich in ein paar Tagen noch einmal aufraffen können?

    Seltsamerweise hatte ich mich, nachdem ich meinen Entschluss gefasst hatte, so gut gefühlt, wie lange nicht mehr. Jetzt verflog die Euphorie mit jeder Minute und depressive Gedanken übernahmen die Vorherrschaft.

    Also doch die Badewanne statt der Ostsee?

    Nein, ein letztes Mal wollte ich etwas richtig machen. Und mein Vorhaben erschien mir richtig. Plötzlich wusste ich wie.

    Ich holte eine Tasche aus meinem Schlafzimmerschrank, warf Ersatzklamotten hinein, ein paar Kekse, Deo und zwei Flaschen Wasser. Mein Blick fiel auf meine Medikamente. Sollte ich sie mitnehmen, damit ich mich gesund und munter umbringen konnte?

    Ich schaffte es tatsächlich zu lächeln, als ich die Pillen in die Tasche warf. Dann ging ich wieder hinaus, schloss ein letztes Mal die Türe ab und warf den Schlüssel in den Briefkasten.

    Ich hatte vorhin, als hätte ich da schon gewusst was ich vorhatte, registriert, dass Saschas E-Bike nicht abgeschlossen war.

    Jetzt schaute ich mich nur kurz um, warf meine Tasche in den kleinen Anhänger, den Gedanken an Diebstahl über Bord und schwang mich in den Sattel.

    Ein letzter Blick zurück, ein Tritt in die Pedale und meine letzte Reise begann...

    Kapitel 2

    Knapp sechshundert Kilometer mit dem E-Bike zurückzulegen war eine ziemlich verrückte Idee. Aber allein, um Sohnemann eins auszuwischen und bis zum nächsten Bahnhof zu fahren, war es allemal den Spaß wert.

    Vorher hatte ich in meinem ganzen Leben noch nie etwas geklaut. Nicht einmal als Kind. Und dies, obwohl meine Freunde aus Kindertagen bergeweise Wassereis hatten mitgehen lassen.

    Ich befürchtete immer drakonische Strafen meiner Eltern. Dabei waren sie nie streng gewesen. Aber dieses Gefasel (Du sollst ein guter anständiger Junge werden) hatte sich in meinem Kopf festgesetzt. So blieb ich brav, anständig und unglücklich.

    Der altbekannte Weg Richtung Stadt flog an mir vorbei. Entlang des vermüllten Feldwegs donnerten Gedanken meines vergangenen Lebens wild hin und her und ließen mich die Fahrt vergessen. Ich dachte an meine Kindheit, Jugend und die Zeit danach.

    Alles begann doch so wunderbar. Wie konnte sich alles dermaßen geändert haben? Warum bestimmte das Schicksal über Wege, Planungen und Ereignisse? Der Hilferuf der Schwachen war stets nur ein Flüstern. Ein leiser Hauch, der das Mitleid derer hervorrief, die stark und vor allen Dingen gesund waren. Natürlich ist jeder seines Glückes Schmied, aber nur, solange das Feuer in der Esse brennt. Wenn die Glut nur noch ein Häufchen Asche war, war es das mit dem Glück.

    Was für ein blöder Spruch, dachte ich und fuhr schnurstracks über eine rote Ampel. Ein silberner Toyota kam mit quietschenden Reifen kurz vor meinem geklauten E-Bike zum Stehen.

    »Haben Sie noch alle Latten am Zaun?« Ein kräftiger Mann mit buntem T-Shirt und Bermuda-Jeans fiel förmlich aus der Tür und brüllte mir die Worte mit hochrotem Kopf entgegen.

    »Sorry, nicht gesehen,« stammelte ich und versuchte mich vom Schreck zu erholen.

    »Nicht gesehen, dass die Ampel rot ist?«, fragte der Mann und schoss direkt hinterher: »Sie können froh sein, dass ich noch rechtzeitig bremsen konnte.«

    Wäre auch nicht schlimm gewesen, hätte ich beinahe gesagt, schluckte die Bemerkung allerdings herunter. »Alles gut. Tut mir leid. Das haben Sie ganz toll gemacht,« sagte ich und überschüttete den Kerl, der mir gerade das Leben gerettet hatte, mit einer gehörigen Portion Zynismus.

    »Wollen Sie mich etwa verarschen?« Der Mann kam näher. Er war mindestens einen Kopf größer als ich, hatte eine Glatze und wirkte, trotz des bekloppten bunten Hemdes, recht durchtrainiert. Dass sich hinter seinem Wagen eine Schlange bildete und die ersten Ungeduldigen hupten und weiterfahren wollten, schien ihn nicht wirklich zu stören.

    Ich weiß nicht was mich geritten hatte, doch mit einem Mal wurde ich ungewohnt selbstsicher. Mit dem Gefühl, dass mir eigentlich alles völlig egal sein konnte, antwortete ich ihm: »Und jetzt? Wollen Sie mir eine reinhauen?«

    »Was? Hör mal, du wabbeliger Fettsack. Ich habe es eilig. Normal hau ich dich so um, dass es für dich kein Morgen mehr gibt.«

    Welch eine Ironie. Ich lächelte und die Glatze wurde langsam unsicher.

    »Sag mal, bist du besoffen?«

    Ich antwortete ihm nicht, lächelte nur und fuhr weiter. Möglich, dass er heute noch da steht. Es war doch alles so belanglos. Was sollte schon passieren?

    In der Nachbetrachtung wäre ich bei meinem Glück, an jedem anderen Tag wahrscheinlich im Krankenhaus gelandet. Querschnittsgelähmt, unfähig mich umzubringen. Der Worst Case. Das wäre typisch gewesen. Herrgott, es gab wirklich Leute, denen es noch dreckiger ging. Wahrscheinlich aber waren diese Leute nicht so depressiv. Wie sonst hätte man mit so einem Schicksalsschlag umgehen können? Und da waren sie wieder, die Starken und die Schwachen. Leider gehörte ich zur letzteren Kategorie.

    Die Sonne brannte vom Himmel. Ein Vormittag im Mai

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