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Die Heilige Hippie-Familie: Arztgeschichten und andere aus Amerika
Die Heilige Hippie-Familie: Arztgeschichten und andere aus Amerika
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eBook160 Seiten2 Stunden

Die Heilige Hippie-Familie: Arztgeschichten und andere aus Amerika

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Über dieses E-Book

„Die Heilige Hippie-Familie“ – das sind zwölf kurzweilige Geschichten über Selbstzweifel, Vorurteile und Selbstaufgabe, über Liebe, Tod und Einsamkeit. Doch es sind keine traurigen Geschichten, im Gegenteil. Sie enden alle mit einem hoffnungsvollen Ausblick auf die Zukunft und dem Mut, etwas im Leben zu verändern, um Glück zu ernten. Denn nicht alles, was uns als richtig und gut erscheint, muss tatsächlich so sein. Christine Guigui öffnet mit ihrem Werk Augen und Herz des Lesers. „Die Heilige Hippie-Familie“ ist ein tiefgründiges Werk. Es regt zum Nachdenken an und sollte in keinem Regal fehlen.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum30. Aug. 2013
ISBN9783837251302
Die Heilige Hippie-Familie: Arztgeschichten und andere aus Amerika

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    Buchvorschau

    Die Heilige Hippie-Familie - Christine Guigui

    dafür!

    Wie dem auch sei

    Der Hippokratische Eid lässt nichts darüber verlauten, wie ein Arzt sich gesellschaftlich zu verhalten hat, ob er mit seinen Patienten überhaupt privat verkehren soll oder nicht.

    Als ich jünger und sehr beschäftigt war, bedurfte das Thema keiner Klärung. Doch wenn ich trotzdem gelegentlich an einer Hochzeits- oder Geburtstagsfeier teilnahm, ärgerte ich mich jedes Mal über den Notanruf, der ohne Fehl und stets genau dann eintraf, wenn wir gerade die Suppe löffelten oder der Gastgeber sich mit seinem Glas zum Trinkspruch erhoben hatte. Damals gab es noch keine Mobiltelefone. Jeder Arzt hatte einen Anrufbeantwortungsdienst, bei dem er hinterließ, wo er sich für eine bestimmte Zeit aufhalten würde. Das bedeutete, dass der Gastgeber und meistens auch die Gäste von dem Notruf gestört wurden.

    Als ich älter wurde und meine Praxis verkleinerte, besonders nach dem Tod meiner Frau, fühlte ich mich abends oft einsam und hätte eine Einladung hie und da willkommen geheißen. Deshalb freute ich mich, als Simone und Bill ein Haus in meiner Straße kauften und sich als gastfreundlich erwiesen. Ich sagte nie Nein, wenn sie mich einluden. Sie waren ein Paar wie kein zweites in unserer Nachbarschaft, worauf ich noch zurückkommen werde. Trotzdem möchte ich kurz erklären, warum ich gewisse Hemmungen hatte, wenn ich mich zu ihnen aufmachte. Es hatte mit ihrem Haus zu tun. Es unterschied sich in keiner Weise von den anderen, es war weiß und mit Holzschindeln verkleidet. Es hatte zwei Stockwerke und ein Dachgeschoss sowie Fensterläden, meistens grün oder schwarz lackiert; ihre waren dunkelgrün. Aber es saß auf einer Anhöhe mit einer halbkreisförmigen Zufahrt vor dem Haupteingang, die im Winter gefährlich vereist sein konnte. Außerdem war die erste Treppenstufe abenteuerlich hoch, sodass ich fast einen Stock benötigte, um mich hinaufzuschwingen.

    Simone und Bill war Letzteres wahrscheinlich nie aufgefallen, weil sie selbst diese Treppe nie benutzten. Sie fuhren in ihrem Auto direkt in die Garage, die an der Giebelseite unter dem Haus lag. Sie stiegen dort ein und aus und gelangten über eine kurze Stiege in ihr Wohnzimmer. Die Gäste beschwerten sich nie; sie waren alle jünger als ich.

    Ich weiß gar nicht, warum ich diese steile Treppe erwähne, hat sie doch nichts mit der Geschichte zu tun, die ich erzählen will. Aber komischerweise erscheint sie immer sofort vor meinem geistigen Auge, wenn ich an Simones und Bills Schicksal denke.

    Simone war die kinderlose Witwe eines reichen Geschäftsmannes und Bill ein armer Schlucker. Er war Maler, der sein letztes Gemälde verwirklicht hatte, als er Simones Faktotum wurde: Gesellschafter, Koch, Hausdiener und Chauffeur in einer Person. Er war zwanzig Jahre jünger als sie und gay, wie man seine sexuelle Orientierung in Amerika bezeichnet, was übrigens niemanden in der Nachbarschaft störte. Bill war ein netter Mensch, plauderte gern, wenn er die Post aus dem Briefkasten am Straßenrand holte und Nachbarn zufällig vorbeigingen. Er kleidete sich in Jeans und T-Shirt wie jedermann und behandelte Simone, wie es kein leiblicher Sohn hätte fürsorglicher tun können. Das rechneten ihm die Nachbarn hoch an.

    In ihren jungen Jahren war Simone Chanson-Sängerin gewesen, die mit ihrem Mann auf der renommierten oberen Ostseite Manhattans wohnte. Nach seinem Tod begann sie, Künstler zu unterstützen, half ihnen, ihre Ausstellungen zu finanzieren, gab ihnen Unterkunft in ihrer großen Wohnung, wenn nötig, und ging mit ihnen auf Reisen. Bill ließ einmal etwas wehmütig durchblicken, dass er damals nicht ihr Favorit gewesen sei, dass Simone die virilen Männer bevorzugte, solange sie sich noch ihrer femininen Reize sicher war. Aber als sie auf die sechzig zuging, konzentrierte sie sich auf Bill. Sie gab ihre Wohnung in Manhattan auf und zog mit ihm aufs Land. Erst erprobten sie andere Gemeinden in unserer Gegend und ließen sich dann dauerhaft in unserem Ort nieder. Es gefiel ihnen, dass General Lafayette während der Amerikanischen Revolution in einem Gasthaus, das noch gut erhalten und der Stolz der Gemeinde war, übernachtet hatte, und sie liebten die riesigen Tulpenbäume, die ihr Haus umgaben.

    Was ihre Ärzte betraf, so wusste ich, dass sie noch lange ihren in New York City treu blieben, vor allem Simone, denn Bill erwähnte oft, dass er wirklich keine benötige. „Ich stamme von einem zähen Menschenschlag aus dem Mittelwesten ab, pflegte er zu sagen. „Es gibt nur eine Ausnahme, mein Onkel Jim. Der starb an einem Herzinfarkt, als er kaum vierzig war. Tatsächlich sah Bill kerngesund aus mit seinen stets roten Wangen und funkelnden braunen Augen, ohne Anflug von Bauch und ohne ein graues Haar in seiner dunklen Mähne. Er war mittelgroß und bewegte sich mit einer leicht weiblichen Grazie, hinter der man einen Tänzer hätte vermuten können.

    An Simones 85. Geburtstag gab er eine große Party, zu der er alle Nachbarn einlud. Obwohl sie schon seit Jahren schwerhörig war und wegen ihrer Körperfülle, die sich ungünstig auf ihre Kniegelenke ausgewirkt hatte, an einem Stock ging, war sie im Großen und Ganzen gesundheitlich noch auf der Höhe. Vor allem war sie noch geistig rege, obwohl ihre Taubheit jeden Gedankenaustausch mit Gästen erschwerte. „Bill, Bill, rief sie ihn oft zu Hilfe, wenn die Unterhaltung mit einem Gast in einer Sackgasse endete. Dann stellte er sich neben sie, schraubte am Hörgerät herum und verkündete humorvoll: „Testing! Testing!, was allen ein Schmunzeln entlockte.

    Wir waren für 20 Uhr zum Dinner eingeladen, aber obwohl wir es nicht miteinander verabredet hatten, trafen wir alle eine halbe Stunde später ein. Wir wussten, dass das Essen auch dann noch lange nicht fertig sein würde. Als wir dicht gedrängt vor der Tür standen und klingelten, rief Bill irgendwo aus dem tiefsten Innern des Hauses: „Kommt einfach rein und entspannt euch. Wir fanden ihn in der Küche, damit beschäftigt, eine Lammkeule mit Knoblauch zu spicken und in den Backofen zu schieben. Es war ein Spätseptemberabend. Noch nicht für die Party angekleidet, wurstelte er in seinen Gartenklamotten herum, die aus zerrissenen Khaki-Shorts und einem alten verwaschenen rosa Ausgehhemd bestanden, Letzteres war bis zum Nabel offen. „Geht ins Wohnzimmer, sagte er munter, „und nehmt euch was zu trinken. Ich werde mich sofort zu euch gesellen … Oh, und vergiss Simone nicht", wandte er sich an Jack Slade, der sowohl ihr Freund als auch ihr Anwalt war. „Wie gewöhnlich einen doppelten Scotch on the rocks für sie", fügte er mit einem spitzbübischen Grinsen hinzu.

    „Sicher?", fragte Jack.

    Bill antwortete mit einem gackernden Lachen. „Ja, heute Abend ist es okay. Ich hab sie auf die Couch platziert, von der sie nicht weichen und Dummheiten machen kann."

    Der Scherz bezog sich auf eine Episode im Sommer, als Simone während einer nachbarlichen Gartenparty zwei oder mehrere Whiskeys zu viel getrunken hatte und plötzlich umgekippt und auf dem Rasen gelandet war, wo Bill sie nicht einmal mithilfe mehrerer junger Männer wieder auf die Beine stellen konnte. Simone hatte die körperlichen Proportionen früherer Operndivas, Walküren. Jemand riet, die Feuerwehr zu rufen, die bald mit einigen Boxertypen eintraf und Simone nach Hause beförderte.

    Als Bill sich in einem beigen Rollkragenpullover und farblich passender Gabardinehose zu uns gesellte, saßen oder standen wir um Simone geschart, die in der Mitte der mit braunem Plüsch bezogenen Couch im Wohnzimmer wie die Königin von Saba thronte. Über ihr an der Wand hing eines von Bills letzten großen Gemälden: Phönix aus der Asche steigend. Der Phönix bestand aus einem Wirbel feuerroter Farben, die mit einem Spritzer Blau gemischt waren. Wenn Bill uns nicht gesagt hätte, dass es sich um einen Vogel handele, noch dazu den mythischen, wären wir von selbst nie darauf gekommen.

    Simone wirkte immer noch schön in ihrem weinroten Samtgewand mit einem breiten schwarzen Cashmere-Schal um die Schultern. Ihre noch schlanken Füße steckten in schwarzen, mit Bergkristallen gezierten Satinpumps, deren Absätze spitz und hoch waren. An ihrem rechten Arm prangte ein breites, solides Goldarmband, an mehreren Fingern Gold- und Platinringe mit Diamanten und Rubinen und an der rechten Schulter eine filigrane Goldbrosche, in deren Mitte ein fast taubeneigroßer Smaragd funkelte. Bill hatte ihr ovales Gesicht dezent geschminkt, nur an den Augen hatte er übertrieben. Er hatte ihr lange, künstliche Wimpern angeklebt. „Ich wollte ihre großen blauen Augen hervorheben", verriet er. Mit ihrer Frisur übertraf er sich selbst. Ihr noch üppiges Haar, für das er sie am Vortag zum Friseur gebracht und goldbraun hatte tönen lassen, war für den heutigen Anlass nach oben gekämmt und mit kostbaren Kämmen am Scheitel festgehalten. Sie erinnerte an die Cancan-Tänzerinnen in Toulouse Lautrecs berühmtem Gemälde.

    „Mensch, Bill, staunten die Nachbarinnen, „Simones tolle Aufmachung hat dich bestimmt drei Stunden Arbeit gekostet!

    „Ha, drei?, antwortete er. „Fünf käme der Wahrheit näher.

    „Bill, wo bleiben die Hors d‘oeuvres?", rief Simone vorwurfsvoll. Sie schüttelte den Kopf. Ihrer Meinung nach nahm Bill seine Gastgeberpflichten nicht wirklich ernst. Wir waren daran gewöhnt, dass sie oft nörgelte. Sie hatte uns einmal erzählt, dass sie als junges Mädchen mehrere Jahre in einem französischen Internat in der Schweiz verbracht hatte, wo man ihr alles beigebracht hatte, was einen feinen Haushalt ausmacht. Dort hatte sie auch fließend Französisch gelernt.

    Während der Mahlzeit verlangte sie, dass Bill die Teller zwischen den einzelnen Gängen wechselte, tadelte ihn, wenn ein Gericht mehr Salz oder Gewürze benötigte, zu kurz oder zu lange auf dem Feuer gestanden hatte oder zu spät auf den Tisch kam. Sie hatte schon lange aufgehört, selbst zu kochen, aber sie dirigierte Bill in der Küche durch die offenen Türen vom Wohnzimmer aus. Natürlich war Bill aufgebracht, wenn er sich stundenlang abgerackert hatte und sie dann meckerte. Einmal sagte er mitten beim Essen barsch zu ihr: „Wenn dir mein Essen nicht schmeckt, dann koch doch selber."

    Wir senkten alle verlegen die Augen, aber Simone lachte laut auf und zwinkerte uns zu, als ob sie sagen wollte: „Jetzt hab ich aber gekriegt, was ich verdiene, nicht wahr?" Man hätte meinen können, sie wäre stolz darauf, dass er sich behauptet hatte.

    „Die Hors d‘oeuvres kommen sofort", rief Bill, ohne sein Versprechen in die Tat umzusetzen. Er schwärmte gerade vom Kronleuchter im Esszimmer und bat die Gäste, ihm dorthin zu folgen. Manche taten es, andere, hauptsächlich Frauen, blieben lieber bei Simone. Sie setzten sich auf den hell getönten chinesischen Seidenteppich am Boden um sie herum. Simone umfasste mit beiden Händen den Ebenholzgriff ihres Stockes und versuchte, sich kerzengerade aufrecht zu halten.

    Ich ging mit Bill ins Esszimmer. Dieser Kronleuchter war sein großer Stolz. Er war mittelgroß mit vier Armen aus Nussbaumholz, das aber gar nicht zu sehen war, weil Bill die Arme beladen hatte: mit Gold, Silber, Glas, Perlen, interessant geformten Gürtelschnallen, bunten Knöpfen, Fingerringen, Splitter feinsten Porzellans oder mit bemalten dünnen Korkscheiben. Bills Fantasie fehlte es an nichts. Und er erzählte die Geschichte des Kronleuchters, die wir alle längst kannten, von Neuem: Dass Simone ihn in einem Antiquitätenladen in Paris aufgestöbert und gekauft hatte. Dass er ihn hässlich fand und voller Wut nach Hause geschleppt hatte. Wie er dann in allen möglichen Läden nach Elementen gesucht hatte, um die dunklen Holzarme zu verbergen und zu verschönern.

    „Oh, wie ich geschuftet, wie ich gearbeitet habe, aber wie dem auch sei, voilà! Ist der Leuchter nicht faszinierend schön?

    Ist er nicht wun-der-voll?"

    Uns allen schien der Kronleuchter nur schrecklich überladen wie auch das ganze Haus. Im Wohnzimmer gab es keine zehn Zentimeter freien Raum mehr an den Wänden. Überall Bilder, Skulpturen, Wandleuchter, feine alte Holschnitzereien, kleine weiße Gipsfiguren von Engeln und Göttinnen, ja, sogar Stücke kostbaren, leuchtenden Brokats, um Glanzpunkte zu setzen. Trotzdem, überladen oder nicht, mit Simones guten alten englischen Anrichten und Schränken, ihren reich und komfortabel gepolsterten Sesseln, ihrem Kristall, ihrem Tafelsilber, dem Steinway-Flügel war das Haus anziehend, und man fühlte sich wohl darin.

    Die Hors d‘oeuvres wurden beiläufig serviert, ohne dass Bill auch nur die geringste Eile gezeigt hätte. Auf einem großen Tablett präsentierte er Delikatessen von den renommiertesten Feinkostläden im Ort und der Umgebung, deren Namen er nie vergaß zu deklamieren; er war ein Snob in dieser Beziehung. Auf feinen weißen chinesischen Porzellantellerchen bot er farcierte Oliven,

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