Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Erinnerungen an Breslau: 6. Teil (1941-1943)
Erinnerungen an Breslau: 6. Teil (1941-1943)
Erinnerungen an Breslau: 6. Teil (1941-1943)
eBook280 Seiten4 Stunden

Erinnerungen an Breslau: 6. Teil (1941-1943)

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Zu einer Reise in die unvergessene, schöne Stadt Breslau lädt Hans Schellbach mit seinem Buch ein. Die von deutscher Geschichte geprägte Metropole Schlesiens, deren geisteswissenschaftliche und kulturelle Bedeutung unbestritten war, erweckt er zu neuem Leben. Viele vertraute Gestalten der Romane von Hans Schellbach begegnen uns wieder. Mit Karlik Grzibowski, der von Beuthen kommend in Breslau die ersten Schritte auf der Bühne macht, erleben wir die kulturelle Szene Breslaus der Jahre 1941 bis 1943. Die bedeutendsten Aufführungen des Schauspiel- und des Opernhauses, die in der gesamten deutschen Theaterlandschaft größte Beachtung fanden, erwachen aufs neue vor unseren Augen. Den 80. Geburtstag des großen schlesischen Dichters Gerhart Hauptmann im Jahre 1942 feiern Leser und Autor in der Gerhart-Hauptmann-Woche noch einmal. Wir besuchen unvergessene Gastspiele berühmter Schauspieler wie Heinrich George, Willy Birgel, Ewald Baiser, doch wir finden uns auch wieder im einmalig schönen Konzertsaal der Universität.
Ganz Breslau ist Schauplatz der 'Erinnerungen an Breslau'. Mit Karlik sitzen wir im 'Cafe Hutmacher', im 'Vaterland' und im 'Zirkus Busch'. Er bestellt mit uns bei 'Pedro CoII' eine Schale Fruchtsalat, steht mit uns an der 'Liebichhöhe', 'schwooft' mit uns auf der Schweidnitzer Straße. Bei der Lektüre dieses Buches ist der Leser in Breslau wieder 'Zuhause'!
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum25. Apr. 2016
ISBN9783899604535
Erinnerungen an Breslau: 6. Teil (1941-1943)

Mehr von Hans Schellbach lesen

Ähnlich wie Erinnerungen an Breslau

Ähnliche E-Books

Historienromane für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Erinnerungen an Breslau

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Erinnerungen an Breslau - Hans Schellbach

    Hans Schellbach

    Erinnerungen

    an Breslau

    Laumann-Verlag

    Die Handlung ist frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen wäre rein zufällig und vom Autor nicht beabsichtigt.

    2. Auflage

    © 2016 by Laumann Druck & Verlag GmbH & Co. KG,

    48249 Dülmen

    Gesamtherstellung:

    Laumann Druck & Verlag GmbH & Co. KG,

    Postfach 1461, 48235 Dülmen

    ISBN 978-3-89960-453-5

    info@laumann-verlag.de

    www.laumann-verlag.de

    Die Heimkehr

    Der Schnellzug Berlin-Beuthen 0/S fuhr am 9. Dezember 1939, wie eh und je, durch das schlesische Land. Sechzig Hitlerjungen, die in ihre Heimat zurückkehrten, konnten das Ende der langen Bahnfahrt kaum

    erwarten. Im April desselben Jahres waren die im oberschlesischen Industrierevier, in der näheren Umgebung der Stadt Beuthen, beheimateten Jungen aus der Volksschule entlassen worden, und im gleichen Monat noch, die gerade vierzehn Jahre alt gewordenen Knaben, in das Landjahr gefahren. (Für das Landjahr wurden Kinder, die mit gutem Abschlußzeugnis aus der Volksschule ausschieden, ausgewählt. In einem Jugendlager, das von Hitler-Jugend-Führern geleitet wurde, wurden sie im Sinne der Nationalsozialistischen-Deutschen-Arbeiter-Partei erzogen.) Die Heimkehrenden hatten acht Monate im Landjahrausleselager Friedersdorf verbracht, das in der Mark Brandenburg, im Landkreis Beeskow-Storkow, seinen Standort hatte. Dort waren die »Garanten der deutschen Zukunft« – ein Ausspruch Adolf Hitlers – mit soldatischem Drill diszipliniert und im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie indoktriniert worden.

    Karlik Grzibowski dachte: »Nun sind es nur noch wenige Minuten, dann wird der Zug den Hauptbahnhof Beuthen erreicht haben … « Und die Erregung, in der er sich befand, vermochte er kaum noch zu verbergen. Mittlerweile hatte die Lokomotive die Geschwindigkeit mehr und mehr gemindert und fuhr nun in gemächlichem Tempo in den Zielbahnhof Beuthen ein. Karlik hatte sich so weit als möglich zum Fenster hinausgelehnt, um den Bahnsteig, auf dem der Schnellzug einfuhr, überblicken zu können. In der Menge der wartenden Menschen erblickte er erst seine Mutter, ein wenig später aber auch Bruno, seinen jüngsten Bruder, den die Mutter an der Hand hielt. Der Anblick der beiden rief eine zwiespältige Empfindung in ihm wach: er verspürte Freude – aber auch Furcht …

    In der Hoffnung, von der Mutter oder dem Bruder gesehen zu

    werden, winkte er ihnen zu. Als Karlik seiner Mutter gegenüberstand,

    hatte er Mühe, die Tränen, die ihm in die Augen hineinschossen, zu

    unterdrücken. Als er Gruppenführer Enster in nächster Nähe sprechen hörte, dachte er: »Was würde der von mir denken, wenn er sähe, daß ich weine …«

    Eine Ewigkeit schien vergangen zu sein, dann sagte Anna Grzibowski: »Moy Synek … « und drückte den heimgekehrten Sohn an ihre Brust. Und während sie Karlik ein um das andere Mal mit ihrer Rechten über den Kopf strich, murmelte sie in einem fort: »Moy Synek … « Auf den Befehl des Gruppenführers: »Lager Friedersdorf, in der Bahnhofshalle sammeln!« löste Karlik sich sachte aus der Umarmung seiner Mutter und sagte leise: »Wir müssen noch mal antreten, Mutti …«

    »Groß bist du geworden, mein Junge!« sprach Anna Grzibowski, und nachdem sie Karlik von Kopf bis Fuß betrachtet hatte: »Aber mager bist du, wie ein Sledz (Hering)!« Karlik waren die Tränen in den Augen der Mutter nicht verborgen geblieben, und er vermied es, ihrem Blick zu begegnen. Er dachte: »Sie soll bloß aufhören zu weinen!« und wandte sich seinem Bruder zu. Doch da er nicht wußte, was er diesem sagen sollte, sprach er, mehr aus der Verlegenheit heraus, in die ihn die Mutter mit ihrer Begrüßung gebracht hatte, als aus Überzeugung: »Groß bist du geworden, Bruno!« Doch er kam sich blöd vor, denn er hatte dieselben Worte gebraucht, die die Mutter zu ihm gesprochen hatte.

    »Wir müssen in die Bahnhofshalle, die anderen sind bestimmt schon da!« drängte Karlik. Die Mehrzahl der Personen, die sich in der Bahnhofshalle aufhielt, hatte einen Halbkreis um die angetretenen Landjahrjungen gebildet und folgte einem selten gebotenen Schauspiel mit großer Aufmerksamkeit. Gruppenführer Enster hielt seine Ansprache mit lauter Stimme. »Hitlerjungen, Landjahrjungen«, sagte er, »hier, an dieser Stelle, endet für euch ein Abschnitt eures Lebens, den ihr nicht so schnell vergessen werdet … In den vergangenen acht Monaten seid ihr wahre Hitlerjungen geworden, wie unser heißgeliebter Führer Adolf Hitler euch wünscht! Zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl und flink wie die Windhunde! – Doch darüber hinaus seid ihr zu Bannerträgern der nationalsozialistischen Idee geformt worden! … Denkt in jeder Minute, in jeder Stunde, an jedem Tag, daran: daß der einzelne nichts – das Volk aber alles ist! … und daß ihr die jüngsten Soldaten des Führers seid! … Ihr müßt mutig, stolz und jederzeit bereit sein, für Deutschland zu sterben! – Der rassereine Deutsche ist ein Herrenmensch, dem die Schwachen zu dienen haben! Nur der Starke hat ein Recht aufLeben!!«

    Mit einem dreifachen: »Sieg-Heil!« auf Adolf Hitler, den Führer und Obersten Befehlshaber, den genialen Heerführer, beendete der Gruppenführer die Ansprache. Das letzte von Enster, auf dem HauptbahnhofBeuthen, gegebene Kommando lautete: »Weggetreten!!«

    Daß die Monate April bis Dezember wie im Traum vergangen waren, daß das Landjahrausleselager Friedersdorf nur noch in seiner Erinnerung existieren würde, war Karlik nie bewußter als in den Augenblicken, da er das Bahnhofsgebäude verließ. Zum erstenmal wieder – nach langer Zeit – tat er etwas aus eigenem Impuls heraus, und ein eigenartiges Gefühl beschlich ihn, als er sich ohne die Kommandos: Im Gleichschritt – marsch! oder: Ohne Tritt – marsch! vernommen zu haben, in Bewegung setzte, die Straße überquerte …Es war gegen 17 Uhr, als Karlik in der Begleitung seiner Mutter und des Bruders die Bahnhofstraße entlangging, um die Straßenbahnhaltestelle an der Trinitatiskirche zu erreichen. Karlik hatte die Straße, die eine der beliebtesten Geschäftsstraßen der Großstadt Beuthen war, in besserer Erinnerung, als sie sich ihm an diesem späten Nachmittag im Dezember darstellte. Die Schaufenster der großen, mittelgroßen und kleinen Geschäfte, die früher im hellsten Licht erstrahlt waren, schienen nur notdürftig beleuchtet, und aus den Fenstern der Wohnungen drang kaum ein Lichtschein heraus. Als Bruno die Verwunderung seines großen Bruders bemerkte, sagte er: »Daran ist nur die Verdunklung schuld!« In rascher Gangart hatten sie die Bahnhofstraße durchschritten und befanden sich bereits auf dem Adolf-HitlerPlatz. »Im Hindenburg ist viel Betrieb … « dachte Karlik, der im Vorübergehen durch die großen Scheiben des beliebten Cafes blickte. Vor den Schaukästen des Intimen Theaters, eines Kinos, das nur wenige Meter vom Cafe entfernt gelegen war, blieb Karlik stehen, um sich die Fotos anzusehen. Doch er vermochte nur einen flüchtigen Blick auf die Bilder zu werfen, denn Bruno drängte; und die Mutter sagte: »Kommt, sonst fährt uns die Straßenbahn weg!« Erst an der Trinitatiskirche, während sie auf die Straßenbahn warteten, wurde Karlik bewußt, daß zwischen der Mutter und ihm nur die notwendigsten Worte gewechselt worden waren. Nun erst bemerkte er auch, daß die Mutter ihren besten Mantel angezogen hatte, den sie nur zu besonderen Anlässen zu tragen pflegte, und er meinte, es wäre an der Zeit ihr etwas Nettes zu sagen. »Dein Mantel ist aber schön, Mutti … « hörte er sich sprechen, und er war über die Reaktion, die seine Worte bei der Mutter auslösten, verwundert. Das schüchterne Lächeln, mit dem sie ihm für seine Worte dankte, ließ für wenige Augenblicke den Ausdruck der Strenge, der zumeist ihr Gesicht beherrschte, vergessen. »So lächelt sie selten … « dachte Karlik. Und während sein Blick unauffällig auf ihr ruhte, erinnerte er sich der Worte, die sie so oft zu ihm gesprochen hatte. »Karlik, vielleicht wirst du ein Lehrer … Sieh zu, daß sie dich im Landjahr auf die Lehrerschule schicken … « Und er dachte: »Ob sie mir die Enttäuschung, die ich ihr bereitet habe, je vergeben wird?«

    »Die Straßenbahn kommt!« rief Bruno und bereitete Karliks Überlegungen ein jähes Ende. Als die Brüder in der Straßenbahn nebeneinander standen, stieß Bruno den großen Bruder in die Seite, und als dieser sich ihm zuwandte, zeigte er auf seinen linken Arm. »Willst du ihn sehen?« fragte er, und als Karlik ihn erstaunt anblickte, erklärte er: »Das is doch der gebrochene Arm – der is nich richtig wieder zusammengewachsen …«

    »Ach so … « sagte Karlik, und seinen Gesichtsausdruck prägte die Erinnerung. Nachdem er mit einem Blick auf die anderen Fahrgäste wies, fragte er Bruno: »Ist es nicht besser, wenn ich mir den Arm gründlich zu Hause ansehe?«

    »Du hast recht, Karlik, da zeig ich dir alles ganz genau!« Die Straßenbahn war am Hallenbad vorbei und in den schattigen Stadtpark hineingefahren, wo bald die Schrotholzkirche in das Blickfeld der Fahrgäste trat. Die Elektrische schien es an diesem späten Nachmittag im Dezember besonders eilig zu haben, denn schon erblickte Karlik die Carsten-Zentrum-Grube und die riesigen Kohlehalden, die an einen schlafenden Vulkan erinnerten, wenn die Feuerschlangen sich des Nachts durch die schwarzen Berge fraßen. Die Halden der ältesten Grube in der Beuthener Mulde (auf der Carsten-Zentrum-Grube war bereits im Jahre 1870 mit dem Abteufen des ersten Schachtes begonnen worden) hatte die Straßenbahn schon hinter sich gelassen und durchfuhr nun den Viadukt, über dem die Eisenbahn nach Tarnowitz fuhr. In gemächlichem Tempo zuckelte die Trambahn nun an dem Haus des Karfer Bahnhofsvorstehers »Bulla« vorbei. »Gleich sind wir da, gleich werden wir bei Schikora & Gerdes aussteigen!« dachte Karlik, da erblickte er auch schon die kleine Fabrik, und nur wenige Sekunden später hielt die Straßenbahn. Während Karlik seiner Mutter beim Aussteigen behilflich war, zuckten in der Werkshalle bläulichrötliche Flammenzungen auf, die im Verbundglas des Dachs reflektierten. Schwaches Licht drang durch die großen Fenster der Schikora & Gerdes gegenübergelegenen Drahtseilfabrik Bode. Als Karlik, nach der langen Abwesenheit, in den Hausflur des Hauses Wilhelmstraße Nr. 10 eintrat, konnte er nicht umhin, festzustellen, daß in seinem Geburtshaus alles beim alten geblieben war. Das schummerige Licht, das sowohl den Flur als das Treppenhaus mangelhaft ausleuchtete, ließ ihn unwillkürlich an seinen Großvater, den Hausbesitzer, denken, und er murmelte: »Der Opapa spart noch immer am Licht! Bis jetzt hat er aber Glück gehabt! Daß sich bei dieser miesen Beleuchtung noch kein Mensch die Knochen gebrochen hat – ist ein Wunder!«

    »Papa, der Karlik ist wieder da!« rief Bruno, als er die Küche der Grzibowskischen Wohnung betrat. Karlik blieb an der Küchentür stehen und dachte: »Hier hat sich auch nichts verändert!« Dann nahm er mit einem umfassenden Blick den Eß- und Wohnraum der Familie auf. Der Kohleherd, auf dem, wie eh und je, gekocht wurde, verströmte eine wohltuende Wärme. Das zweiteilige Küchenbüfett, das er bereits aus seiner frühesten Kindheit kannte, stand noch immer an der gleichen Stelle, und auch das Eckbrett, wo die Arbeitskleidung des Vaters verstaut wurde, und vieles mehr, gab es noch. »Papa, der Karlik ist da!« rief Bruno zum zweitenmal und bewirkte, daß Karlik auf seinen Vater, der in der Mitte der Küche stand, zuging. Er bemerkte, daß der Vater – »Sicher zur Feier des Tages … « dachte er – ein weißes Hemd und die Sonntagshose angezogen hatte. Zwei, drei Sekunden standen der Vater und der Sohn sich gegenüber, dann sagte Paul Grzibowski: »Da bist du ja wieder, du Pieron!«

    »Ja, da bin ich … « erwiderte Karlik mit leiser Stimme. Er blickte seinem Vater in die Augen, doch dieser wich dem Blick aus und flüchtete in betonte Forschheit. »Los, setzt euch an den Tisch, ich hab alles fertig!« sagte er, ging geschäftig zum Herd und legte eine Schaufel Kohlen auf die Glut auf. Dabei bemerkte er beiläufig: »Franzek muß auch gleich kommen!« Die frischgebrühten Oppelner Würstchen, die Paul Grzibowski in einer Schüssel auf den Tisch stellte, verströmten einen appetitanregenden Geruch.

    »Eß dich mal wieder richtig satt, Karlik!« sagte die Mutter und erinnerte Karlik augenblicklich an ihre Äußerung auf dem Bahnhof: »Aber mager bist du, wie ein Sledz (Hering)!«

    Die Mahlzeit verlief ziemlich wortkarg, und als Franzek nach Hause kam, fühlte Karlik sich erleichtert. »Mensch, riecht’s hier gut, wie am Sonntag!« sagte der älteste Sohn des Ehepaares Grzibowski, als er in die Küche eintrat, schnurstracks auf Karlik zuging und ihm die Hand reichte. Er begrüßte seinen heimgekehrten Bruder mit den Worten: »Da bist du ja wieder, du Tromba (Trompete)!«

    »Na, hör mal, Franzek«, entgegnete Karlik lächelnd.

    »Ich hab einen Kohldampf wie zwei!« sagte Franzek, griff in die Schüssel hinein, nahm ein paar Würstchen heraus und legte diese auf seinen Teller. Während des Essens wurde über belanglose Dinge gesprochen. Karlik war froh, denn sein älterer Bruder verlor kein Wort über das Landjahr. Fragen wie: Warum bist du nicht auf die Napola oder auf die Lehrerbildungsanstalt gegangen? wären ihm außerordentlich unangenehm gewesen … Nachdem Franzek mit Heißhunger ein paar Würstchen verzehrt und eine Tasse Kaffee getrunken hatte, erhob er sich von seinem Platz und sagte: »So, ich geh jetzt ins Heim!« Und an Karlik stellte er die Frage: »Kommst du mit?« Franzeks Frage kam Karlik sehr gelegen. Allzugern wäre er mit dem Bruder in das HJ-Heim gegangen, auch anderswohin, um sich der unterschwellig gespannten Situation zu entziehen – doch ehe er sein Einverständnis mitzuteilen vermochte, sagte die Mutter: »Der Karlik ist doch eben erst angekommen, da braucht er doch nicht gleich ins Heim zu laufen!«

    »Mein Gott, er ist doch jetzt für immer hier!« entgegnete Franzek.

    »Und du, du läufst mir auch zuviel in das Heim! – Du bist ja kaum noch zu Hause!«

    »Und was soll ich hier? – Soll ich mich vielleicht unter deiner Schürze verstecken?!«

    »Sei nicht so frech, das rat ich dir!« wies Anna Grzibowski ihren erstgeborenen Sohn zurecht. Dann sagte sie zu ihrem Mann: »Paul, sag ihm, er soll nich so frech zu mir sein!«

    »Pieronie … « Mehr sagte Paul Grzibowski nicht, wofür er von seiner Frau getadelt wurde.

    »Pieronie ist alles, was du sagen kannst … « giftete sie ihn an.

    »Was soll ich denn sonst noch sagen … « murmelte Paul Grzibowski.

    »Na, was ist? – Kann der Karlik mitkommen oder nicht?« fragte Franzek.

    »Nein, er bleibt hier, und damit basta!« erwiderte Anna Grzibowski entschieden.

    »Dann hau ich ab!« sagte Franzek und ging zur Tür.

    »Verschwinde bloß, du Hetzer!« rief ihm die Mutter nach. Franzek, der schon mit der rechten Hand die Türklinke umfaßt hatte, drehte sich um und sagte: »Also, so einen Quatsch hab ich noch nicht gehört … da kann man doch nur lachen, Mutti!«

    »Sitz nicht da wie ein Taubstummer, Paul, stopf ihm sein freches Maul!« fuhr Anna Grzibowski ihren Mann an, und als dieser noch immer keinen Ton über die Lippen brachte, sagte sie: »So kann doch ein Kind nicht mit seiner Mutter reden!«

    »Pieronie, du sollst dein Maul endlich halten, Franzek!« brüllte Paul Grzibowski.

    »Ach, reg dich doch nicht künstlich auf, Papa!« entgegnete Franzek seinem Vater.

    »Und das läßt du dir von dem Jungen gefallen?« giftete Anna Grzibowski aufs neue.

    »Irrenhaus!« sagte Franzek, verließ die Küche und schlug die Tür hinter sich zu. Einige Sekunden lang herrschte Stille, dann sagte Anna Grzibowski: »Das ist deine Erziehung!« Der Vorwurf seiner Frau brachte Paul Grzibowski in Rage, und nun brüllte er sie an: »Wenn du für mich arbeiten gehen wirst, werde ich die Kinder erziehen – aber besser als du!« Karlik dachte: »Mein Gott, alles ist genauso wie es früher war … «

    »Was brüllst du hier wie ein Stier! – Wir sind doch nicht taub!« fuhr Anna Grzibowski ihren Mann an. Karlik bedauerte seine Rückkehr in das Elternhaus, zum erstenmal bedauerte er auch die von ihm getroffene Entscheidung – die Oppelner Würstchen lagen ihm schwer im Magen. Dannhörte er sich sprechen: »Ich denke, ich sollte jetzt zu der Omama und zum Opapa gehen … «

    »Da kannst du gleich hingehen!«

    »Dann geh ich jetzt, Mutti«, sagte er und erhob sich. Zwei, drei Augenblicke verharrte er in abwartender Unentschlossenheit, doch als die Mutter ihn keines Wortes würdigte, ging er. Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte und in dem mangelhaft erleuchteten Flur stand, murmelte er: »Die leben immer noch wie Hund und Katze zusammen … Am liebsten möchte ich sofort wieder wegfahren … Ich kann den Franzek verstehen … «

    Dann blickte er auf die Stufen, die zur Laube hinunterführten, und erinnerte sich der Stunden, die er bitterlich weinend in jenem Vorbau, der sich auf der Hofseite des Hauses befand, gesessen hatte, und wie weh der Zank der Eltern ihm getan hatte, und er sprach leise vor sich hin: »Ich bin kaum eine Stunde da … « Karlik war entschlossen, die notwendigen Besuche so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Nur wenige Schritte trennten ihn von der Wohnung der Großeltern, denen er seine Aufwartung machen wollte. Just in dem Augenblick, da er sich in Bewegung zu setzen gedachte, wurde die Tür geöffnet, und er stand seiner Tante Frieda gegenüber, die mit ihren Söhnen Ite und Buscheen, die als Früchte der Sünde das Licht der Welt erblickt hatten, bei den Großeltern lebte, da sie noch nicht verheiratet war.

    »Tante Frieda, ich … ich … bin wieder da«, sagte er, und er ärgerte sich über sich, er dachte: »Warum habe ich gestottert … und warum ist mir nichts Besseres eingefallen, als so etwas Dummes …« Die Tante schien weder überrascht noch erfreut, als sie den zweitgeborenen Sohn ihrer Schwester Anna zu Gesicht bekam. Mürrisch sagte sie: »Ich seh ja, daß du da bist!« und Karlik dachte: »Die könnte auch ein wenig freundlicher sein … schließlich war ich ja lange weg gewesen«, doch er fragte: »Sind Ite und Buscheen da?«

    »Nein, die treiben sich irgendwo herum!« erwiderte die Tante.

    »Und die Omama und der Opapa?«

    »Die sind in der Stube!«

    »Dann geh ich jetzt mal zu ihnen!«

    »Von mir aus«, sagte die Tante, und kurzangebunden forderte sie Karlik auf: »Laß mich mal vorbei, ich muß in den Keller!« Karlik trat zur Seite und dachte: »Die ist aber giftig! – Ob sie sich wieder mit der Mutter gestritten hat … ?«

    Als Karlik in die Küche eingetreten war, erblickte er die in der Wohnstube sitzenden Großeltern und vergaß über dem Bild, das sich seinen Augen bot, die Tür zu schließen. Die Situation, in der er die geliebten Menschen antraf, war ihm eine sehr vertraute, in seiner Erinnerung gespeicherte. Der Großvater saß an seinem angestammten Platz an der Stirnseite des ovalen Wohnzimmertischs und las. Karlik dachte: »Er liest bestimmt wieder in der Bibel, und immer dasselbe, das Kapitel vom verlorenen Sohn. Seitdem er zu Emil, seinem Lieblingssohn, gesagt hat: ›Du bist nicht mehr mein Sohn – ich will dich nicht mehr sehen!‹ liest er immer wieder diese Geschichte und legt die Bibel nicht mehr aus der Hand. Und das alles war passiert, weil Emil aus der Kirche ausgetreten war, weil er eine Todsünde begangen hatte, ja, aber auch deswegen, weil der Onkel SA-Mann gewesen war. Alt sieht er aus, sehr alt, und ob er überhaupt noch hören kann?« Die immer tätige Omama, die auf dem Sofa saß, erblickte Karlik zuerst. Sie nahm die Brille von der Nase und legte sie auf den Tisch, neben ein pilzförmiges Nadelkissen. Dann fragte sie: »Ist da wer?«, wartete die Antwort aber nicht ab, setzte die Brille wieder auf und wiederholte die Frage: »Ist da wer?«

    »Ja, ich bin es, Omama«, sagte Karlik und ging in die Stube hinein.

    »Jessus Maria! Jessus Maria … Karlik, moy Synek, bist du es wirklich?« fragte die alte Frau, und nachdem sie Karlik zu Gesicht bekommen hatte, rief sie: »Stephan, Stephan, der Karlik ist wieder da!!« Unwillig murmelte Stephan Micha: »Co jest … ?« und las weiter. Doch Maria Micha ließ nicht locker, lauter als vordem und auch akzentuierter wiederholte sie: »Stephan, der Karlik ist wieder da!« Nun erst schien der Schwerhörige sie verstanden zu haben. Er legte die Bibel auf den Tisch, hob den Kopf, sah seine Frau an und fragte: »Wo is der Karlik?«

    »Hier bin ich, Opapa«, antwortete der Enkel, der vor dem Tisch stand, mit lauter Stimme. Der Großvater musterte Karlik von Kopf bis Fuß und murmelte in polnischer Sprache: »On chudy jak sledz … i on Hitlerosch … (Er ist mager wie ein Hering, und er ist ein Hitlerjunge … )«

    »Der Karlik ist wieder da, und das ist die Hauptsache!« sagte Maria Micha mit Nachdruck. Danach forderte sie den Enkel auf, sich zu setzen. Als Karlik Platz genommen hatte, fragte sie: »Hast du schon was gegessen?« und als dieser bejahend genickt hatte, sagte sie: »Und nun erzähl mal, mein Synek …«

    Was nun …

    Karlik hatte sich bei den nächsten Verwandten, bei näheren und entfernteren Bekannten und bei seinen Freunden zurückgemeldet. Zwei ganze Tage hatte er darüber verloren. Leute hatte er besuchen müssen, die ihn überhaupt nichts angingen, weil die Mutter daraufbestanden hatte, aber ins HJ-Heim, wo es ihn hinzog, war er noch nicht gekommen: obwohl er sich, sofort nach der Rückkehr,

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1