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Mein Herz hört deine Worte
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eBook452 Seiten5 Stunden

Mein Herz hört deine Worte

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Über dieses E-Book

Eine Liebes-Geschichte mit einem Hauch Spannung – der neue historische Liebes-Roman der preisgekrönten Autorin Joanne Bischof. So bezaubernd und unkonventionell wie schon lange kein Buch mehr.
Als Ava im Sommer 1890 die Apfelplantage der Familie Norgaard in Virginia erreicht, ist sie geschockt: Die drei "Jungen", um die sie sich kümmern soll, sind bereits ausgewachsene Männer. Völlig mittellos sieht Ava nun einer ungewissen Zukunft entgegen. Jorgan, Haakon und Thor nehmen sie zwar herzlich auf, aber gerade der gehörlose Thor, der so laut und ungestüm wirkt, schüchtert Ava anfangs sehr ein. Auch scheint er gegen seine ganz eigenen Schatten anzukämpfen. Doch dann ist die Zukunft der Apfelplantage in Gefahr, und während sie sich Seite an Seite für deren Erhalt einsetzen, entsteht in Avas Herzen Zuneigung für den besonderen jungen Mann. Und sie entdeckt, dass man für die Sprache der Liebe keine hörbaren Worte braucht …
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum1. Aug. 2019
ISBN9783765575440
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    Buchvorschau

    Mein Herz hört deine Worte - Joanne Bischof

    Eins

    BLACKBIRD MOUNTAIN, VIRGINIA

    27. AUGUST 1890

    Ava sah auf den Brief in ihrer Hand hinab. Zum wiederholten Mal las sie die in der Handschrift ihrer Tante Dorothee verfasste Adresse. Dann fiel ihr Blick auf das Holzschild, das vor ihr im Boden steckte. Der Ort stimmte überein, trotzdem hatte Ava plötzlich Schwierigkeiten, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Heiß brannte die Sonne auf sie herab und von den Küsten Norwegens war ihr nur noch die Erinnerung geblieben.

    Der einfache Weg, der sich vor Ava erstreckte, unterschied sich kaum von der Straße, auf der sie hergekommen war. Allerdings würde sie die endlosen Waldgebiete hinter sich lassen, die sie den Vormittag über durchquert hatte, und in den Schatten unzähliger Bäume einer Plantage treten können. Den Früchten nach zu urteilen, die von den knorrigen Ästen hingen, musste es sich um eine Apfelfarm handeln. Ein süßer Duft hing in der stickigen Hitze. Ava holte tief Luft, beugte sich näher zu dem Schild und fuhr mit ihrem Finger die grob geschnitzten Buchstaben nach.

    Norgaard.

    Also dann. Das musste es sein. Das Land, in dem Tante Dorothees Neffen ihr Unwesen trieben. Frei und wild waren die Jungs, zumindest den Geschichten nach. Ava machte das nichts aus. Als sie im Armenhaus gelebt hatte, hatte sie immer wieder zusehen müssen, wie die Waisenkinder dort verwahrlosten. Nachdem sich ihre Umstände so drastisch geändert hatten, war sie nun – in Freiheit – umso begieriger darauf, dieses Haus zu finden. Und ihre dort lebende Familie.

    Vor allem aber war sie gespannt auf die Kinder. Ein gleichmäßiges Trommeln auf dem Weg riss Ava aus ihren Gedanken und sie schaute auf. Ein Hund kam auf sie zugerannt. Schwanzwedelnd schnüffelte er an Avas Schuhen und schlug Ava mit seiner Rute gegen das Bein. Lächelnd beugte sie sich hinab und tätschelte den braunen Kopf, den ihr der Hund zur Begrüßung entgegenreckte. „Hallo, du", sagte sie.

    Nachdem das Tier Avas Hand ein paarmal abgeleckt hatte, machte es kehrt und trottete weiter den Weg entlang. Es schien, als wolle der Hund ihr den Weg weisen. Da er sich mit Sicherheit besser in dieser hügeligen Landschaft auskannte als sie, griff Ava rasch nach ihrer abgenutzten Reisetasche.

    Während sie weiterlief, klopfte sie sich den Staub von ihrem schwarzen Trauerkleid. Ein Kleid, das sie von nun an nicht mehr brauchen würde. Die zwei Trauerjahre hatten bereits geendet, bevor sie auch nur einen Fuß in diese Gegend namens Blackbird Mountain gesetzt hatte.

    Plötzlich knackte ein Ast auf dem Weg vor ihr und Ava schirmte ihre Augen ab. Immer länger wurden jetzt die Schatten in dem Hain, während es allmählich Abend wurde. Die tief stehende Sonne blendete. Ein weiterer Ast brach und ein Mann trat auf den Weg, nicht einmal ein halbes Dutzend Baumreihen von Ava entfernt. Weder konnte sie sein Alter einschätzen, noch konnte sie erkennen, was der Mann dort tat. Er kniete mit dem Rücken zu ihr und schien Äpfel in große Metalleimer zu sammeln. Der Hund umrundete ihn vergnügt. Ava fühlte sich beinahe wie ein Eindringling. Vorsichtig ging sie ein paar Schritte näher heran, um ein Hallo rufen zu können. Doch der Mann reagierte nicht. Erst als Avas Schatten neben ihn fiel, wandte er sich ihr zu. Langsam richtete er sich auf und fuhr sich mit seiner großen, kräftigen Hand durch das ungekämmte Haar. Es war so dunkel wie die Erde unter seinen Stiefeln und hing wirr bis über die Schultern hinab.

    Der Fremde öffnete leicht seinen Mund. Im Ausdruck seiner Augen lag eine beunruhigende Mischung aus Schmerz und Überraschung. Der Blick, mit dem er Ava bedachte, war so tiefgründig, dass er sogar von den gleichmäßigen Gesichtszügen des Mannes ablenkte. Er sagte kein Wort, bot Ava nur eine Art stumme, entwaffnende Verbundenheit an, als sei diese Welt für sie beide ein ungerechter Ort.

    Ava hatte Mühe, ihre Stimme wiederzufinden. „Guten Tag, Sir. Könnten Sie … Könnten Sie mir bitte sagen, wo ich Dorothee Norgaard finde?", fragte sie. Obwohl Ava vier Jahre lang eine Norgaard gewesen war, klang der norwegische Name mit ihrem irischen Akzent immer noch nicht richtig. Der Mann schielte auf die Reisetasche in Avas Händen, die sie fest umklammert hielt, und fuhr dann mit seinem Blick von ihren staubigen Schuhen bis hinauf zu ihrem Gesicht.

    Auch wenn sich Ava nun noch mulmiger fühlte als zuvor, lockerte sie ihren Griff um den Lederriemen ihrer Tasche und erinnerte sich daran, dass sie das Schild korrekt gelesen hatte. Die Norgaard-Farm. Hier musste sie sein. Ava war einfach zu weit und zu lange gereist, um nicht am richtigen Ort zu sein.

    Missmutig schob sich der Mann die Ärmel seines Karohemdes über die Ellbogen und deutete dann mit seinem Daumen über die Schulter. Offensichtlich war der Bursche kein großer Redner. Warum Ava ihn als Bursche bezeichnete, wusste sie nicht. Immerhin wirkte der Fremde deutlich erwachsener als sie mit ihren einundzwanzig Jahren. Stark und robust stand er vor ihr, ähnlich den Bäumen, die das Land säumten. Auch er schien einige Lasten auf seinen breiten Schultern tragen zu müssen.

    Endlich gab sein Blick den ihren frei und der Mann wandte sich um und deutete erneut auf den vor Ava liegenden Weg. Also gut. Das bedeutete wohl, dass sie in diese Richtung weiterlaufen sollte. Sie schenkte ihm ein leises Dankeschön, was der Mann mit einem Nicken beantwortete. Als Ava an ihm vorbeiging, spürte sie den Blick seiner braunen Augen auf ihr ruhen.

    Nach nur wenigen Schritten hielt Ava inne. Dieser Mann hatte die gleiche Stirn wie ihr Benn. Auch sie zeigte die stolzen Züge nordischer Herkunft. Obwohl sich die Haare des Fremden von Benns hellen Locken unterschieden wie der Tag von der Nacht, entdeckte sie etwas Bekanntes an seinem Auftreten. Dieselbe stramme Haltung und derselbe ernste Blick. „Könnte es sein, dass Sie einer von den Norgaards sind?", fragte Ava in der Hoffnung, dass ihr irischer Akzent nicht zu unverständlich war. Offensichtlich hatten die meisten Amerikaner ein Problem mit ihrer Aussprache.

    Zwei Eimer entfernt von den anderen kniete der Mann wieder auf dem Boden und sammelte Äpfel. In seinem Blick lag diesmal Bedenken. Er hatte etwas Wildes an sich, das – gepaart mit seiner Stille – Avas Unbehagen noch verstärkte. Doch dann nickte er. Ava lächelte ein wenig. Dieser Mann war kein Fremder, sondern gehörte zur Familie. „Ich bin Ava. Benns Witwe", stellte sie sich vor. Wieder nickte der Mann, als hätte er das bereits geahnt. Vielleicht war er ein Onkel der Kinder. Wieso hatte Dorothee ihn dann nie erwähnt?

    „Also, begann Ava und deutete auf den Weg vor sich. Als ihr eine Strähne ihres rostroten Haares ins Gesicht fiel, wischte sie sie rasch fort. „Ich soll hier entlanggehen?, fragte sie und wieder nickte der Mann, was Ava erneut ein Lächeln entlockte. „Ich danke Ihnen, Mr Norgaard." Sie umfasste den Griff ihrer Reisetasche wieder ein wenig fester und machte sich auf den Weg. Immer noch konnte sie den Blick des Mannes auf sich spüren. Komischer Vogel.

    Kurze Zeit später erblickte Ava vor sich ein großes rotes Haus. Ausgeblichen und verwittert wie es war, erinnerte es mehr an eine Scheune als an ein Wohnhaus. Doch mit dem Schaukelstuhl auf der Veranda und der aufgespannten Wäscheleine handelte es sich offensichtlich um Letzteres. Nach einem Blick über ihre Schulter bemerkte Ava, dass der Mann ihr folgte. Immerhin in einigem Abstand, so viel musste sie ihm lassen.

    Trotzdem blickte sich Ava im Weitergehen alle paar Baumreihen um, bis die Plantage schließlich endete und sich ein riesiger Hof vor ihr eröffnete. Die dicken, verzweigten Äste gaben den Blick auf verschiedene Schuppen und Nebengebäude frei. Zwei der Gebäude waren massiv, weiter hinten entdeckte sie einen fast vollständig verkohlten Schuppen. Um die meisten Gebäude herum stapelten sich haufenweise Holzkisten und mehr Metalleimer, als sie jemals auf einer Farm zu Gesicht bekommen hatte.

    Jetzt hielt Avas stummer Begleiter an und verschränkte die Arme vor der Brust. Zögerlich machte Ava genau in dem Moment einen weiteren Schritt auf das Haus zu, als ein zweiter Mann aus diesem heraustrat. Obwohl er genauso groß war wie der erste, war dieser Mann eher drahtig gebaut. Seine Haare waren zwar etwas heller, aber genauso lang – zumindest dem ersten Anschein nach, da dieser Mann das Haar zurückgebunden hatte.

    Schwere Stiefel traten die Stufen hinunter. Noch ein Norgaard? Avas Blick huschte umher und suchte nach einem Hinweis auf die Kinder. Doch es war weder auch nur ein Spielzeug zu entdecken, noch hatte eines der Kleidungsstücke an der Wäscheleine annähernd Kindergröße.

    Ava betrachtete den Fremden auf der Veranda und widerstand dem Verlangen, den kleinen Anhänger von ihrer Mutter an der Kette um ihren Hals zu berühren. Dies tat sie oft, wenn sie nervös war. „Hallo, Sir, sagte Ava, trat näher und streckte dem Mann ihre Hand entgegen. Als er sie ergriff, wirkte Avas Hand plötzlich ganz winzig in seiner. „Mein Name ist Ava. Ich war mit Benn verheiratet, stellte sie sich zum zweiten Mal vor. Obwohl es ihr komisch vorkam, so mit der Tür ins Haus zu fallen, wusste sie nicht, wie sie sich sonst vorstellen sollte. „Ah, sagte der Mann und studierte sie für einen Moment. „Es ist mir eine Freude, Sie endlich kennenzulernen, Ma’am, sagte er dann. Nachdem er sich geräuspert hatte, nannte er ihr seinen Namen. Jorgan.

    Ava kannte diesen Namen aus vielen von Tante Dorothees Briefen. Darin war Jorgan nicht mehr als ein kleiner Junge gewesen. Doch diese Beschreibung passte nicht im Geringsten zu dem Mann, der vor ihr stand. Definitiv hatte Dorothee die Söhne nicht als Männer dargestellt. Noch bevor sich Ava einen Reim darauf machen konnte, trat ein weiterer Mann aus dem Haus. Obwohl der Charme des dritten Bruders bis ins Detail beschrieben worden war, wurde das Lob seiner Großtante diesem Mann nicht gerecht, der niemand anderes als nur der sehr erwachsene Haakon sein konnte. Seine strahlend blauen Augen nahmen Ava gefangen, und obwohl er glatt rasiert war, zerschlug sein muskulöser Körper jeden Gedanken daran, dass es sich bei den Norgaard-Nachkommen um Kinder handeln könnte.

    Als Panik in Ava aufzusteigen drohte, sagte Jorgan: „Und das ist Haakon. Er ist der Jüngste. Mit einer Birne in der einen und einem Messer in der anderen Hand schnitt Haakon sich ein Stück ab und führte es auf der flachen Seite des Messers zum Mund. Sein markantes Gesicht spiegelte nichts als Unfug wider. „Wir haben uns schon gefragt, ob Sie auftauchen würden, fuhr Jorgan fort.

    Ava schluckte schwer. Wie hatte sie so falschliegen können? In Gedanken ging sie Dorothees Briefe durch. Immer wieder wurden die männlichen Nachkommen der Norgaards alles andere als Männer dargestellt. Jungen hatte Dorothee sie genannt. Sie hatte Andeutungen über die Abenteuer und den Unfug gemacht, den sie anstellten, und von ihren ungehobelten Manieren und den Bedarf nach einer festen Hand und Leitung erzählt. Selbst von Strafen hatte sie geschrieben. Vor allem, wenn es um Haakon ging. Denselben Haakon, der nun auf Ava herabgrinste und so aussah, als hätte ihm schon seit einiger Zeit keiner mehr so wirklich den Hosenboden versohlt.

    Mittlerweile zitterten Avas Hände und sie presste sie gegeneinander. Aus ihrem Versuch, mit fester Stimme zu antworten, wurde nicht mehr als ein leises Flüstern: „Es freut mich, Sie kennenzulernen, Sirs. Ich vermute, Sie sind … die Brüder? Die Söhne?"

    Wessen Söhne, daran konnte Ava sich nicht mehr erinnern. Dorothee hatte nur selten etwas von den verstorbenen Eltern berichtet. Mit einem Mal löste sich der Gedanke an drei verwahrloste Kinder in Luft auf, die Avas Unterstützung nötig gehabt hätten. Oder ihre mütterliche Fürsorge. Tante Dorothees Schilderungen waren wirklich irreführend gewesen. Avas Verlangen, endlich mit ihr sprechen und das Missverständnis aufklären zu können, wurde immer stärker.

    „Genau. Ich bin der Älteste, sagte Jorgan. „Am besten nennen Sie uns einfach beim Vornamen. Immerhin gehören Sie zur Familie und müssten ansonsten ziemlich oft Mr Norgaard sagen. Wie mir scheint, haben Sie Thor bereits getroffen. Er ist der Zweitälteste. Mit seinem Finger deutete er hinter Ava auf den dunkelhaarigen Mann, der noch immer ein paar Schritte entfernt stand. Denjenigen, der so stark aussah wie ein Ochse und den Blick noch immer nicht von Ava abgewendet hatte.

    Thorald. So war er in den Briefen genannt worden. Es hatte immer so geklungen, als nehme er einen besonderen Platz im Herzen seiner Großtante ein. Aber um nichts in der Welt hätte Ava den Namen mit diesem Mann in Verbindung gebracht. „Richtig, sagte sie. „Wir … sind uns schon begegnet.

    Jorgan lächelte schief. „Entschuldigen Sie. Thor redet nicht besonders viel."

    Das hatte Ava bereits herausgefunden.

    Jorgan schielte an ihr vorbei und ließ dann seinen Blick schweifen, als würde er nach Worten suchen. „Sind Sie vom Bahnhof hierhergelaufen?", fragte er.

    „Ja", antwortete Ava. Ihre schmerzenden Füße erinnerten sie an jede einzelne Meile von der Stadt bis hierher.

    „Entschuldigen Sie, dass wir nicht gekommen sind, um Sie abzuholen. Und mein Beileid wegen Benn."

    „Danke", erwiderte Ava leise. Sie setzte ihr Gepäck auf dem Boden ab und wusste nicht recht, was sie sagen sollte. Ihr Ehemann – der Cousin der Männer – war tot. Und Ava nun hier in Amerika.

    Wieder schnüffelte der Hund an ihren Schuhen und Haakon schnippte mit den Fingern. „Grete!" Sofort trottete der Hund, der wohl eine Hündin war, an seine Seite.

    Ava sah sich um. Nachdem sie nun die Bekanntschaft mit drei Männern gemacht hatte, war sie mehr als bereit, endlich eine Frau zu sehen. „Könnten Sie mir vielleicht sagen, wo ich Tante Dorothee finden kann?"

    Jorgan schielte zu seinen Brüdern hinüber, bevor er sich den Nacken rieb. Mit sorgenvoll zusammengezogenen Brauen wandte er sich schließlich an Ava. „Daraus schließe ich, dass Sie meinen Brief nicht erhalten haben."

    Kopfschüttelnd verneinte Ava.

    Jorgan umfasste seinen anderen Arm knapp oberhalb des Ellbogens. „Sie ist … Ich fürchte, Ihnen sagen zu müssen, dass Dorothee … gegangen ist. Vor nun zwei Monaten."

    „Wohin ist sie gegangen?", fragte Ava. Im selben Moment lief sie rot an. Plötzlich fühlte sich ihr Trauerkleid viel zu eng und zu schwer an.

    „In-In den Himmel", antwortete der älteste der Brüder.

    „Höchstwahrscheinlich", fügte Haakon hinzu und schob sich ein weiteres Birnenstück in den Mund.

    Avas Magen verkrampfte sich. Hitze stieg ihr in den Kopf und die Welt um sie herum drehte sich. „Sie ist … verstorben?", fragte sie atemlos.

    Mitfühlend senkte Jorgan seinen Kopf. „Es tut mir leid, es Ihnen auf diese Weise mitteilen zu müssen. Ich habe Ihnen sofort einen Brief geschrieben in der Hoffnung, er würde Sie noch vor Ihrer Abreise erreichen, erklärte er. Dann betrachtete er ihre vom Wind zerzausten Haare. „Wie ich sehe, war ich zu spät.

    Ava musste sich hinsetzen, aber hier gab es nichts außer dem Staub unter ihren Füßen. Ohne auf ihr Kleid oder ihre Strümpfe zu achten, ließ sie sich auf die Erde nieder. Plötzlich fühlte Ava sich schrecklich klein. Blinzelnd sah sie in den klaren blauen Himmel empor. Er erinnerte sie unverhohlen daran, wie weit entfernt sie von Norwegen war. Oder Irland. Sie war hier in Virginia. An einem Ort namens Blackbird Mountain. Und hier war keine Tante Dorothee.

    Obwohl Ava mit dieser Frau keine Blutsverwandtschaft verband und durch den Briefwechsel zwischen ihnen nicht mehr als eine einfache Freundschaft entstanden war, war Benns Großtante alles gewesen, was ihr von einer Familie geblieben war.

    „Was soll ich nur tun?", flüsterte sie zu sich selbst.

    Der älteste Bruder, Jorgan, kam an ihre Seite. Er kniete sich in den Staub und stützte sich mit seinen von der Arbeit rau gewordenen Händen auf dem Boden zwischen ihnen ab. „Miss?", fragte er.

    Zitternd sog Ava die Luft ein und sah dem Mann ins Gesicht. „Was soll ich nur tun?", frage sie erneut.

    „Sie … Sie legen einfach Ihren Arm in meinen, schlug Jorgan vor und machte Anstalten, ihr aufzuhelfen. „Kommen Sie herein. Miss Ida, unsere Haushälterin, wird Ihnen etwas zu essen geben.

    Jorgan half ihr die wenigen Stufen zur breiten Veranda hinauf und führte sie zur Haustür. Mit vor Verwirrung hochgezogenen Brauen hielt der jüngste der Brüder sie offen. Jorgan führte Ava in die Küche, zog einen Stuhl vom Tisch und half ihr, darauf Platz zu nehmen. Im selben Moment trat eine Frau aus der Speisekammer, deren Haut so dunkel wie Zimtstangen war. Mit einem freundlichen Lächeln brachte sie Ava eine Tasse Kaffee und eine Scheibe Gewürzbrot. Ava rührte weder das eine noch das andere an. Stattdessen verschränkte sie die Hände zwischen ihren Knien, um sie vom Zittern abzuhalten.

    Undeutlich hörte sie die Frau sagen: „Sie ist ziemlich blass."

    Dann Haakons Stimme: „Sie ist ja auch Irin."

    Ava rührte sich nicht.

    „Ich meine damit, dass sie sicher gleich umkippt, Haakon. Ohnmächtig wird", erklärte die Frau und legte Ava ihre kühlen Hände an die Schläfen. Beinahe hätte Ava die Augen geschlossen.

    „Sie wusste nichts von Dorothees Ableben", sagte Jorgan mit gedämpfter Stimme.

    Ein Stuhl schabte über den Boden und Jorgan setzte sich neben Ava. Die Frau reichte ihm ebenfalls eine Tasse Kaffee. Aus dem Augenwinkel sah Ava, wie Thor den Raum verließ.

    „Alles in Ordnung mit Ihnen?", fragte Jorgan sanft.

    Ava nickte, doch selbst diese kleine Bewegung fühlte sich unwirklich an. Verzweiflung machte sich in ihrer Kehle breit und brannte dort stärker, als es der Fußmarsch diesen Berg hinauf getan hatte. Sie neigte den Zinnbecher in ihrer Hand, doch beim Anblick der dampfenden Flüssigkeit zog sich ihr der Magen zusammen.

    „Sie sind trotzdem willkommen hier", sagte Jorgan und schien es ernst zu meinen.

    „Aber wir haben keinen Platz, wo wir sie unterbringen können", warf Haakon nicht gerade leise ein.

    Ava sah sich um. Die Dämmerung war hereingebrochen. „Gibt es denn … Gibt es noch mehr Familien in der Gegend?"

    „Nein, Ma’am, antwortete Haakon. Seine stechend blauen Augen verloren an Reiz, als er Ava von oben bis unten musterte. „Nur uns.

    Niemand rührte sich. Unbeweglich verharrte jeder an seinem Platz, der stickigen Luft gleich. Ava legte sich die Hand auf die Stelle an ihrer Brust, an der sie ihren pochenden Herzschlag spüren konnte. Sie atmete tief in ihre schmerzenden Lungen ein. Jetzt war nicht die richtige Zeit, um zu verzweifeln. Trotzdem wurde ihr Zittern immer schlimmer, schwoll an wie eine Flut. Die Welt verschwamm vor Avas Augen und irgendjemand sagte ein paar Worte, die sie nicht verstehen konnte.

    Die Veranda knarzte, gefolgt von schweren Schritten. Einen Moment später wurde ein Glas Wasser vor ihr abgestellt. Ava spähte hinauf und blickte in Thors Gesicht. Wasser tropfte vom Glasrand, als sei es gerade erst an einer Quelle gefüllt worden. Als Ava das Glas nicht ergriff, schob Thor es ihr entgegen und trocknete sich anschließend die Hände an der Hose.

    Ein kleiner Schluck des kühlen Wassers lief Avas Kehle hinab und sie überwand sich, ihrem Wohltäter ein Danke zuzuflüstern.

    Mit einem leichten Humpeln kam die Haushälterin näher und legte zärtlich ihre Hand auf Avas. Im sanften Blick der Frau lag Besorgnis. Dieses Feingefühl ließ Tränen in Avas Augen treten. Die Frau bat die Männer, sie für einen Moment alleine zu lassen. Nachdem sie die Küche verlassen hatten, drückte die Haushälterin Avas Hand erneut. Diese schloss ihre Augen und schickte ein Gebet in den Himmel, nein, eher eine Bitte, dass dieser Tag nur ein Traum war.

    „Nun lass nicht den Kopf hängen. Wir werden schon dafür sorgen, dass es dir wieder gut geht. Besser als gut. Ich versprech’s dir. Ich schmeiße den Haushalt hier schon seit fast dreißig Jahren. Früher haben die Jungen mich Mommy genannt, aber jetzt sagen sie nur noch Miss Ida. Ich werde gut für dich sorgen, versprach die Haushälterin. Ein paar verirrte graue Haare kräuselten sich um ihre glänzende Stirn und in ihren Augen lag so viel Freundlichkeit, dass Ava zwischen all der Unsicherheit einen kleinen Hoffnungsschimmer wahrnahm. „Du musst dich vor nichts fürchten. Die Norgaards sind alles gute Jungen. Hab sie selbst erzogen und sie sind treuere Seelen, als du dir vorstellen kannst, fuhr Ida fort.

    Ava nickte langsam.

    „Also dann", sagte die Haushälterin und bedeutete Ava, mit ihr weiter ins Hausinnere zu gehen. Ein Haus, das unter derselben Leere zu stöhnen schien, die Ava in ihrem Inneren spürte.

    Dennoch unterschied sich dieser Ort deutlich von dem Leben, das Ava bis jetzt gekannt hatte. Vielleicht würde sie hier endlich Sicherheit und Ruhe finden. Oder sogar ein Zuhause. Hatte Dorothee nicht genau davon gesprochen? Die Verse, die sie Ava zugesandt hatte, hatten schließlich dafür gesorgt, dass Ava es wagte, aus den Schatten ihrer Vergangenheit herauszutreten, hinauf auf die Gangway des Schiffes.

    Der HERR wird eine Zuflucht sein dem Unterdrückten, eine Zuflucht in Zeiten der Not. Mit einem beherzten Griff brachte Miss Ida sie beide zum Stehen. Dann hob sie Avas Reisetasche hoch, als würde das Gewicht ihrer dünnen Gestalt nichts ausmachen. „Es gibt eine Sache, die du über Haakon wissen solltest: Er weiß nicht immer, wovon er redet, sagte Ida an Ava gewandt und drückte freundlich ihren Arm. Dann winkte sie Ava hinter sich her. „Lass uns einen Platz für dich finden.

    Zwei

    Von der Veranda aus beobachtete Thor, wie Miss Ida Ava in die Stube führte. Dann trat auch er ins Haus und folgte ihnen. Gerade rechtzeitig betrat er den Großen Saal, um zu sehen, wie die Rothaarige um das ausgeblichene Sofa und den mit Büchern beladenen Beistelltisch herumging. Avas Schritt wurde langsamer, als ihr Blick auf das riesige Geweih über der Feuerstelle fiel. Ihre weit aufgerissenen Augen wanderten anschließend hinab zu dem Feuerholz, das den Kamin auf beiden Seiten flankierte.

    Fein säuberlich hatten sie die Scheite gestapelt. Allein die nicht vorhandenen Vorhänge an dem Fenster über dem Kamin störten das Bild. Im Krieg hatte man sie von den Stangen genommen und Kleidung daraus gefertigt. Avas Aufmerksamkeit richtete sich auf die Waffen, die auf einem weiteren Tisch lagen. Dann auf die Munitionsschachtel, die anscheinend erst frisch durchwühlt worden war. Daran war er schuld gewesen, musste Thor zugeben.

    Plötzlich warf Ava ihm einen Blick über ihre Schulter zu, als hätte sie die ganze Zeit schon gewusst, dass er da war. Es war der gleiche skeptische Blick, den sie ihm schon vorher zugeworfen hatte.

    Warum? Er würde sie nicht anfassen. Und beißen würde er auch nicht.

    Avas schwarzer Rock schwang wie eine Glocke von links nach rechts, als sie Miss Ida die Treppe hinauf folgte. Ihre schmale Hüfte sah aus, als könnte sie ein paar gute Mahlzeiten vertragen.

    Eigentlich hatte Thor auch hinaufgehen wollen, aber vielleicht sollte er ein wenig Abstand lassen. Seine Arbeit auf der Plantage war für heute getan. Die Eimer hatte er alle gefüllt und mit Jorgans Hilfe die diesjährigen Erntehelfer ausgesucht. Er hatte drei ausgewählt. Jugendliche Negros, die bereits im letzten Herbst gute Arbeit geleistet hatten. Bestimmt würden die Nachbarn sich wieder darüber aufregen. Was bedeutete, dass seine Brüder und er mit uneingeladenen Gästen würden rechnen müssen. Doch diesmal wäre er gewarnt.

    Mit diesen Gedanken im Hinterkopf machte sich Thor an die Arbeit und reinigte die Waffen. Er hob ein Gewehr vom Beistelltisch, lud es durch und sicherte es. Dann hob er es auf Augenhöhe, kniff ein Auge zu und visierte mit dem anderen über Kimme und Korn das Regal aus Kiefernholz am anderen Ende des Raumes an. Anschließend ließ er das Gewehr wieder sinken, blies etwas Staub vom Lauf und justierte das Korn. Zufrieden legte er es wieder ab.

    Als ob sie ein Eigenleben führen würde, griff seine Hand zu dem Einmachglas, das danebenstand. Wie immer war es halb gefüllt mit dem besten Destillat des Landes. Er hatte zwar schon so viel getrunken, dass er bis zum nächsten Morgen durchhalten konnte, aber trotzdem trank Thor jetzt ein paar großzügige Schlucke. Noch während er das Glas zur Seite stellte, wusste Thor, dass dies nicht der letzte Griff zum Schnaps für heute gewesen sein würde. Mit diesem Gast im Haus würde er sich so viel Mut wie möglich antrinken müssen.

    Das verkohlte Ende eines Streichholzes segelte an seinem Gesicht vorbei. Thor wandte sich zu seinem älteren Bruder um, der seine Aufmerksamkeit verlangte. Jorgan zog an einer frisch angezündeten Pfeife und zeigte dann mit ihr zur Treppe, die der neue Hausgast erst vor ein paar Minuten hinaufgegangen war. Schließlich machte er mit nüchternem Gesicht die Geste für schön, indem er die Fingerspitzen seiner geöffneten Hand vor seinem Kinn zusammenführte.

    Thor wandte sich ab. Daran musste er nicht erinnert werden. Er spielte mit dem Deckel seines Glases und drehte ihn auf die Öffnung.

    Jorgan stampfte auf, um erneut Thors Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Als die Holzdielen unter seinen Füßen nachgaben, warf Thor seinem Bruder einen Blick zu. Jorgan sprach Worte, die Thor zwar lesen, aber niemals würde hören können: „Du weißt, warum Dorothee sie eingeladen hat."

    Thor schloss die Munitionsschachtel, während seine Augen noch immer auf seinem Bruder ruhten, der ihm mit seinen zweiunddreißig Jahren vier Jahre voraushatte.

    „Weil du dich niemals etwas traust", sagte Jorgan. Niemals Haus verlässt, ergänzte er mit Gesten. Während er die Worte mit den Händen formte, baumelte die Pfeife zwischen seinen Lippen.

    Ich verlasse Haus, gestikulierte Thor zurück. Er hielt seinen Daumen und zwei weitere Finger in die Luft für drei. Letzten Sonntag war er in der Kirche gewesen und unter der Woche zweimal am Weiher zum Baden. Für ihn war das viel.

    Jorgan gluckste. Thor erkannte das an dem Hauch eines Grinsens und dem schnellen Heben und Senken seiner Brust.

    Als Jorgan diesmal sprach, konnte Thor ihn nicht verstehen und er deutete auf die Pfeife zwischen Jorgans Lippen. Er zog sie aus dem Mund und sprach deutlicher: „Du bleibst in der Kirche nur für dich. Dann schielte er über seine Schulter in die Richtung, aus der er ein Geräusch gehört haben musste. Jorgan sprach nicht weiter, bis Thor seine sich bewegenden Lippen sehen konnte. Diese ungeschriebene Regel befolgten alle in diesem Haus. Trotzdem konnte Thor seinen Bruder auch dann kaum verstehen, da dessen Bart dringend gestutzt werden musste: „Und am Weiher gibt es keine Frauen.

    Thor rollte mit den Augen und versuchte Ruhe auszustrahlen, während das Thema Ava ihn innerlich aufwühlte. Ida kam die Treppe herunter und nickte bestätigend zu Jorgans Kommentar über Frauen, während sie nach dem Besen griff. Frische Bettlaken hingen zusammengefaltet über ihrem Arm und sie humpelte auffälliger als sonst an diesem Abend.

    Thor stieß ein leises Seufzen aus. Da hatte wohl jemand gelauscht. Mit dem Zeigefinger zeigte Thor in Idas Richtung und weil er kein Zeichen zu diesem Wort kannte, musste er es buchstabieren: immer E-I-N-M-I-S-C-H-E-N. Verärgert bewegte er seine Hände schneller als sonst, wodurch die einzelnen Buchstabenzeichen verschwammen.

    Ida lächelte bloß. Da Thor sich der zahlenmäßigen Unterlegenheit bewusst war, griff er nach seinem Glas und stürmte in Richtung Treppe. Zwei Stufen auf einmal nehmend hechtete er nach oben. Dann schritt er den Flur entlang. Von den vier Türen passierte er zunächst die von Jorgans Zimmer. Bei der nächsten Tür hielt er den Kopf gesenkt und den Blick starr auf den Boden. Hier hatte man Ava vermutlich untergebracht.

    Zwar stand ein Bett in dem Raum, aber als er das Zimmer zuletzt betreten hatte, war es unter einem Haufen alter Felle und zwei Körben voller Einmachglasdeckel begraben gewesen. Den aufgetürmten Fellhaufen und Körben im Flur nach zu urteilen, hatte es sich Ava hier wohl gemütlich gemacht. Die nächste Tür führte in Dorothees altes Zimmer. Merkwürdig, dass Ida nicht dieses Zimmer für Ava hergerichtet hatte. Vielleicht wollte sie die Erinnerung an Dorothee noch ein wenig länger erhalten. Die letzte Tür lag am Ende einer zehnstufigen Wendeltreppe, die zum dritten Stockwerk hinaufführte. In dem ausgebauten Dachboden wohnte Thor seit jeher zusammen mit Haakon. Im Sommer war es sehr heiß hier oben, im Winter kalt. Trotzdem war es nicht so schlimm, dass die beiden nicht dankbar für diesen Ort gewesen wären. Der gesamte Raum war gesäumt mit Fenstern. Thors Lieblingsfenster zeigten westwärts hinaus auf den Abhang, auf dem seine Baldwins mit ihren tiefroten Früchten wuchsen. Die Sonne war bereits untergegangen. Allein ein sanfter, rötlicher Schimmer zog sich noch über den Horizont und spähte durch die knorrigen Äste der Apfelbäume.

    Nachdem Thor die Tür hinter sich geschlossen hatte, trat er zum Bett und setzte sich auf die Matratze. Dann griff er unter das Bett und zog eine grob gezimmerte Holzkiste hervor. Es befand sich nichts Wertvolles in dieser Kiste, nur eine Ansammlung von Krimskrams. Ein wunderbares Versteck für die eine Sache, die er dort aufbewahrte, wo sie niemandem auffallen würde.

    Thor musste nicht erst in die Kiste greifen und das eingerahmte Hochzeitsbild herausziehen, um Avas kaum nach oben gezogene Mundwinkel vor sich zu sehen. Oder zu wissen, dass die junge Braut an der Seite von Benn Norgaard auf den Monat genau siebzehn Jahre alt war. Dass sie aus ihrem Leben in einem irischen Armenhaus gerissen worden war, um einen Mann zu heiraten, den sie nicht kannte. Trotzdem griff Thor – mit Avas Bild frisch vor Augen – in die Kiste und zog das Foto zwischen zwei Büchern hervor. Beides norwegische Bücher, die ebenso zerlesen waren wie die englischen Titel, die Thors Bücherregal füllten.

    Er schaute hinab auf die Fotografie und fuhr sanft mit dem Daumen über den Rahmen. Bei dem Anblick von Avas weit geöffneten Augen und ihrem verunsicherten Blick fühlte Thor einen stechenden Schmerz. Benns stolzer Griff um ihre Hand. Das war es, was Thor an diesem Foto immer schon gestört hatte. Ein paar Monate nach der Hochzeit war es mit der Post gekommen. Das Unbehagen in Avas Blick. Wie jung und einsam und verloren sie aussah. Vielleicht konnte Thor nicht hören, aber ganz gewiss konnte er sehen. Besser als manch anderer. Und schon immer hatte er diesen Herzschmerz in ihrem Gesicht gesehen.

    Aber Ava war die Frau eines anderen und darum hatte Thor sich geschworen, die Erinnerungen an das irische Mädchen aus seinen Gedanken zu bannen. Anschließend hatte das Foto als Staubfänger an der Wand gedient – neben vielen anderen Fotografien, die dort hingen. Bis die Neuigkeiten über Benns Tod die Farm erreichten. Da hatte Thor das Bild wieder von der Wand genommen und ein weiteres Mal das Gesicht der jungen Frau studiert, die sich an seinen älteren Cousin gebunden hatte.

    Die – nun als Witwe – den Namen Norgaard trug.

    Das Bild hatte Thor sicher in seiner Kiste verstaut. Zusammen mit dem kleinen Funken Hoffnung, der sich in seinem fest verschlossenen Herz geformt hatte.

    Und nun befand sich Ava nur wenige Meter von ihm entfernt. Sie war ihm so nah, dass Thor nur den Flur hinablaufen und an die Tür klopfen musste, um in diese Augen blicken zu können. Um erneut festzustellen, dass ihre Haare tatsächlich die Farbe von Kupfer hatten und dass ihre Haut wirklich so weiß war wie auf der Schwarz-Weiß-Fotografie in seiner Hand. Er hatte sich die Farbe ihrer Haut wie Buttercreme vorgestellt und genauso seidenweich.

    Diese Frau, die erst vor ein paar Stunden in der Plantage auf ihn zugekommen war. Als Thor todmüde dort stand, nur eine Armeslänge von Ava entfernt, konnte er kaum die Fragen beantworten, die sie ihm stellte. Vom ersten Moment an hatte Thor gewusst, dass es Ava war. Sein Herz hatte so schnell in seiner Brust geschlagen, dass Thor für einen Moment lang gefürchtet hatte, es würde versagen. Selbst wenn er gewusst hätte, was er ihr hätte sagen sollen, hätte er es nie im Leben aussprechen können.

    Er spürte die Holzdielen vibrieren. Thor ließ das Bild wieder in die Kiste gleiten und schob sie außer Sicht. Gerade als er sich aufrichtete, betrat Haakon das Zimmer. Mit zusammengepressten Fingerspitzen führte Haakon seine Hand mehrmals an den Mund.

    Zeit zum Essen. Thor erhob sich. Haakon sagte etwas, aber der Satz verlor sich im Dämmerlicht. Thor hasste die Dunkelheit, weil sie seine Welt zusammenschrumpfen ließ. Mit etwas Abstand zwischen den Handflächen ließ er seine geöffneten Hände vor seiner Brust gegeneinanderkreisen, legte dann die Handflächen aneinander und bewegte sie sanft vor und zurück – Gebärdensprache bitte. Eine Freiheit, die er niemals für selbstverständlich gehalten hatte. Zumindest nicht, seit ein Lehrer ihm die Hände zusammengebunden und von ihm verlangt hatte, wie jedes andere Kind reden zu lernen.

    Haakon deutete in den Flur und buchstabierte dann A-V-A. Anschließend fuhr er mit dem Zeigefinger vom Auge runter über die Wange. Sie weinte?

    „Nicht laut, sagte Haakon und drehte die Laterne auf. „Ich habe sie gehört, als ich an ihrem Zimmer vorbeikam. Dann drehte er sich um. Für nichts in der Welt würde dieser Junge eine warme Mahlzeit verpassen. Kurz bevor er verschwand, drehte Haakon sich noch einmal um. „Warum hat Dorothee sie herkommen lassen?"

    Thor zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf. Das war die einzige Antwort, die er Haakon geben würde.

    „Scheint, als wären wir gleich alt. Habe das herausgefunden, als ich ihr verklemmtes Fenster repariert habe", ergänzte Haakon. Dabei ließ er bedeutungsschwanger seine Augenbrauen auf und ab hüpfen, als wäre das Fenster nicht das Einzige, dem er sich annehmen wollte. Noch bevor sich Thor eine Antwort ausdenken konnte, hatte Haakon sich bereits umgedreht und war die Treppe hinabgestürmt.

    Nicht wirklich hungrig griff Thor nach dem Einmachglas. Obwohl er kein Verlangen hatte, drehte er den Deckel von der Öffnung, hob das Glas an die Lippen und trank. Unerfüllte Sehnsucht hatte diese Gewohnheit mit der Zeit in ihm reifen lassen. Doch als der Branntwein ihm warm die Kehle hinablief, folgte kein tröstliches Gefühl, und der Alkohol tat nichts gegen die penetrante Erinnerung an Haakons selbstgefälliges Grinsen. Verärgert über seine eigene Schwäche drehte Thor den Deckel wieder auf die Öffnung.

    Dann erhob er sich, setzte das Glas beiseite und brachte ein weiteres Mal das Foto zum Vorschein. Steif von dem langen und harten Arbeitstag lief Thor die Treppe hinab. Der Flur lag beinahe in vollkommener Dunkelheit, allein der Schein von Avas Lampe trat unter ihrer Tür hindurch. Thor ging so vorsichtig, wie er nur konnte. Als sie noch jünger gewesen waren und regelmäßig Unfug ausgeheckt hatten, hatte Haakon ihm gezeigt, welche Bodendielen knarzten.

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