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Schattenspiel: Roman
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eBook291 Seiten4 Stunden

Schattenspiel: Roman

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Über dieses E-Book

Ein Streifzug durch die Ewige Stadt und ein Spaziergang durch Europas vielfältige Geschichte.

In "Schattenspiel" ist Rom einerseits mythischer Sehnsuchtsort, anderseits eine lebendige, von liebenswerten und skurrilen Gestalten bevölkerte Stadt. Die Erzählerin trifft auf Pastoren und Bettlerinnen, auf geliebte Hühner und gerissene Taschendiebe.
Mit viel Humor schildert sie das Leben an der Seite eines estnischen Diplomaten, und blickt dabei zurück auf ihre Zeit in Berlin und die Kindheit im stalinistischen Estland.
Viivi Luik lässt ihre Protagonistin in einer Welt lange nach Fall des Eisernen Vorhangs unterwegs sein. Zwar sind die Erinnerungen an frühe Erfahrungen, in denen Rom nur ein unerreichbarer Traum war, noch ganz plastisch. Doch stets gab die Ewige Stadt einen Maßstab ab, eine Richtung vor.
Als der Traum endlich Wirklichkeit wird, ist die Erzählerin eine "gestandene" Frau, die schon in anderen Ländern Europas gelebt hat, nicht nur besuchsweise, sondern beruflich und über Jahre. Sie kennt sich aus, aber hier, am verzauberten Ort, trifft Traum auf raue Wirklichkeit, etwa wenn bei Wohnungsbesichtigungen römisches Temperament und nordisches Gemüt aufeinanderprallen. Das ist so abenteuerlich wie hochkomisch. Überhaupt scheint die Nord-Süd-Trennung durch die Alpen viel einschneidender (und plausibler) als ein abstrakter Ost-West-Gegensatz.
Viivi Luik hat mit leichter Hand einen europäischen Roman geschrieben, der durch einen fremden Blick auf das Vertraute besticht.
SpracheDeutsch
HerausgeberWallstein Verlag
Erscheinungsdatum30. Juli 2018
ISBN9783835342927
Schattenspiel: Roman

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    Buchvorschau

    Schattenspiel - Viivi Luik

    Gedanken.

    Zuhause

    Im Jahre 1949, als Carl Gustav Jung in die Ewige Stadt reisen wollte, beim Kauf der Fahrkarte ohnmächtig wurde und die Reisepläne ein für alle Mal begrub, begann eine andere Romreise.

    Es geschah im Zusammenhang mit den Märzdeportationen, dass ich zum ersten Mal ein Bild von Rom, vom Kolosseum, sah. Andernfalls gäbe es keinerlei Grund, noch einmal diese alte, abgenutzte, zerkratzte und knisternde Deportationsplatte aufzulegen, wenn nicht genau dies der Beginn meines Weges nach Rom wäre.

    Es war ein wertvolles und dickes Buch, das da auf dem Dielenboden eines estnischen Bauernhauses lag, aufgeschlagen bei einer Abbildung des Kolosseums in Rom. Die Bewohner waren gerade abgeholt worden, während die Söhne barfuß durch den Schneeregen in den Wald gerannt waren. Die hatten sie noch nicht erwischt. Die schmutzigen Stiefelspuren der Soldaten waren auf den sauberen Dielen noch gut zu sehen. Wie Striemen einer Peitsche. Sie fraßen sich für immer in die estnischen Fußböden ein. Im Fichtenwäldchen hinter dem Feld hatten Schnee und Regen das Blut eines Roten, der die Kugel bekommen hatte, noch nicht weggespült. Es soll gar nicht leicht gewesen sein, den Leichnam zu bestatten, der Boden sei tief gefroren gewesen und vereist.

    Mich ging das nichts an. Das war nicht meine Sache. Ich war ein Kind und spielte mit den Sternen des Himmels. Mich interessierte das Bild in dem Buch mehr als Verwünschungen und Tränen. Vor dem Tod oder Sibirien hatte ich keine Angst.

    In diesem Moment war für mich nur das Bild des Kolosseums wichtig. Ich wusste nicht, was das war, was für ein Bild das war. Aber das Bild verzauberte mich, ich konnte mich nicht von ihm losreißen. Der Herrgott auf seinem Thron mag gleichzeitig das ehemalige Kind und jene Person sehen, die hier sitzt und gerade eine Bilanz ihres Lebens zieht.

    Dieser Dreijährigen lief die Nase, sie tropfte direkt ins Buch. Sie schämte sich und deckte den Fleck mit ihrer Hand ab, als wollte sie ihn vor unsichtbaren Zeugen verbergen. Dabei bestand keinerlei Grund, sich zu schämen. Außer dem Herrgott gab es dort keine weiteren Zeugen. Von ihm aber ist bekannt, dass Spucke und Schleim, Rotz und Tränen sein täglicher Anblick sind. Denn an den Herrgott wenden sich die Menschen wie an einen Arzt meist nur in ihrem größten Elend, wenn sie bitterlich weinen, heulen und triefen.

    Großmutter beachtete mich nicht, sie schaute weder zu mir noch auf das dicke Buch, sie betete in der Grabeskälte des von Unglück erfüllten Zimmers ein Vaterunser für die Deportierten und verfluchte die Deporteure.

    Zur gleichen Zeit schien in Rom die Sonne ins Kolosseum. Dessen Mauern waren an Gebete und Verwünschungen gewöhnt, sie waren von ihnen durchtränkt, und auch Großmutters Verfluchungen konnten sie nicht ins Wanken bringen.

    Die alte heisere Stimme meiner Großmutter drang durch das Bild vom Kolosseum zu mir, sie erreichte mich eigentlich erst durch dieses Bild hindurch wie die Stimme der Weltgeschichte selbst.

    Niemals mehr werde ich diese einsame alte Stimme hören. Sie ist vom Erdball verschwunden. Wer konnte ahnen, dass die Zeit so schnell verfliegen würde! Niemand glaubt das, niemals. Aber siehe da, draußen weht derselbe ewige Wind, der die Menschen wie trockene Blätter vor sich her treibt. Auch damals sang der Wind wie jetzt: »Lebwohl, mein Schatz. Der große Abgang steht bevor …«, aber wer hört das schon und schert sich darum, bevor die Reihe an einem selbst ist.

    Diese barbarischen, schmutzigen Stiefelabdrücke und die Blutlache im Fichtenwäldchen schienen aus dem Kolosseumbild herausgesprungen zu sein, wenngleich die Bildtafel in diesem dicken Buch mit seinem gelblichen Papier von einem Vorhang aus Seidenpapier beschützt wurde.

    Lesen konnte ich noch nicht. Im Nachhinein kann man davon ausgehen, dass es ein italienisches Buch war, denn als ich Jahre später die Wörter »mezzo« und »palazzo« sah, erkannte ich sie sofort wieder. Ich hatte sie schon einmal gesehen.

    Das zweite Mal, und dann schon nicht mehr auf einem Bild, sondern in Wirklichkeit, sah ich das Kolosseum im Oktober 1998, im Licht eines Blitzes. In einem rötlich drohenden Feuerschein. In einem Wolkenbruch. Tatsächlich war das Erste, was ich in Rom sah, ein Blitz. Möglicherweise hat jeder insgeheim seine eigene Vorstellung von Rom; ich habe mir die Ewige Stadt ein Leben lang in einem düsteren rötlichen Feuerschein vorgestellt, und nun ergab es sich so, dass ich sie genau in diesem Zustand zum ersten Mal erblickte.

    Als ich an jenem dunklen Oktoberabend endlich in Rom eintraf, waren seit meinem ersten Blick auf das Kolosseum neunundvierzig Jahre vergangen. Was immer ich diese neunundvierzig Jahre getan habe, ich war unterwegs nach Rom.

    Auch an jenem öden Novemberabend Ende der fünfziger Jahre war ich auf dem Weg nach Rom, als sich die Dämmerung wie graue Asche auf die leeren Felder, die verwilderten Äcker und die leer stehenden Bauernhöfe senkte, als der kalte gelbe Streifen des Sonnenuntergangs hinter den kahlen Bäumen traurig und einsam flackerte wie die Erinnerung eines Flüchtlings an seine verlorene Heimat, in die er niemals zurückkehren wird, weil, wie Karl Ristikivi es in einem Gedicht ausdrückte, »Wasser davor ist, Wasser und schaurige Felsen«.

    Auch in der Traurigkeit dieser verlorenen und fernen Abendstunde war ich auf dem Weg nach Rom. Warum sonst nahm ich mir ein kariertes Heft und meinen Schulfüllfederhalter aus der Schublade und fing an, Jahreszahlen in das Heft zu schreiben?

    Ich schrieb lange an ihnen, denn es waren viele. Ich wollte bis zum Jahr 2000 kommen, das zu jenem Zeitpunkt noch in unvorstellbarer und unermesslicher Ferne lag, gleichsam wie in einem anderen Sonnensystem. Man konnte nicht ins Jahr 2000 gelangen, ohne vorher die Jahreszahl 1998 geschrieben zu haben, das Jahr, in dem ich in Rom ankam … Diese Jahreszahl sagte mir nicht mehr als alle anderen in dieser Reihe.

    Ich dachte in jener öden Dämmerstunde zum ersten Mal in meinem Leben an die Menschen, die den Gang meines Lebens bestimmten, und an die Orte, an denen mein Herz aus Liebe und Schmerz einmal verstummen würde. Einige der Menschen lebten bereits, andere waren noch nicht geboren.

    Ich war auf geheimnisvolle Art und Weise durch mein Fleisch und Blut mit anderen Menschen in der weiten Welt verbunden. Mir schoss plötzlich durch den Kopf, dass irgendwo, bloß wusste ich nicht, wo, Häuser stehen mussten, in denen mein Leben und mein Schicksal sich erfüllen würden. Vielleicht sogar Häuser, die noch gar nicht entworfen waren, weil ihre Architekten und Erbauer möglicherweise noch gar nicht geboren waren. An ihrer Stelle war nur Leere.

    Irgendwo dort hinter den Jahren befand sich auch meine Todesstunde, wie ein Bahnhof, ein dunkles Gebäude im Sternenlicht. Die Stunde, die jeder bei seiner Geburt mitbekommt. Und schon leuchteten über dem kahlen Wald die ersten Sterne auf.

    Ich drückte meinen Brustkorb an die Tischkante. Mein Herz schlug, und es stand nicht in meiner Macht, es zu stoppen, bevor es nicht von selbst aufhörte. Draußen raschelte und rauschte es, ein Windstoß rührte an den schwarzen vertrockneten Blumenstängeln, die noch vor kurzem als hoch aufgeschossene Sommerblumen prunkten. Wenn man es nicht gewusst hätte, hätte man kaum glauben mögen, dass diese erbärmlichen Stängel vor zwei Monaten noch lebten und blühten und diesen Sommer mit allen anderen vergangenen und zukünftigen Sommern verbinden würden.

    Schon wurde es dunkel im Zimmer, aber am Fenster konnte man die schwarz schimmernden Jahreszahlen noch sehen. Diese verhexten Jahreszahlen sahen untereinander geschrieben wie eine leichte Rechenaufgabe aus. Ich wusste nicht, wie man sie lösen konnte, aber die Lösung musste mich in die weite Welt führen. Das war mein brennender Wunsch dort in dem armseligen Zimmer, in dem es so rasch dunkel wurde, dass nicht einmal das Papier mehr schimmerte.

    In diesem Moment waren diese Jahre genau so weit entfernt wie die Sterne, die mittlerweile am Himmel erschienen waren. Und gleichzeitig waren es ganz banale Zahlen, die mit blauer Tinte auf kariertem Papier in zwei krummen Spalten untereinander geschrieben waren. Ein Stück grobes, gelbliches Papier und ein bisschen billige Volksschultinte, weiter nichts.

    Es war eine Welt aus einer Petroleumlampe, Erde und Holz, in der ich diese Ziffern, diese Jahreszahlen schrieb. Von dort musste man irgendwie, durch irgendeine Rechenoperation, vor den Computer hier gelangen. Aber noch niemand wusste, was ein Computer war. Dieser Gegenstand, dieses Phänomen und das Netz existierten noch nicht auf der Welt.

    Diese erbärmlichen, mit Kinderhand geschriebenen Jahreszahlen waren mein einziger Anhaltspunkt auf der Erde, mein primitives Gerät für den Flug zwischen den Planeten.

    In Rom auf der Lungotevere, am Tiberufer, raschelten hinter dem Samtvorhang des Abends sicherlich schon die trockenen bronzefarbenen Platanenblätter. Im Tiber spiegelten sich der Himmel und das Sternbild vom Ende der fünfziger Jahre. Und ich war noch nicht einmal in Tallinn gewesen!

    Und doch wartete in Tallinn der August 1991 auf mich, um den man bei diesem langen Weg nach Rom nicht herumkommt. Über diesen August des Jahres einundneunzig ist in Estland viel gesprochen und geschrieben worden. Darüber gibt es so viele Gedanken und Meinungen, wie es Menschen gibt, die damals in Estland wohnten. Die Meinungen und Gedanken decken sich jedoch nicht. Manche merkten gar nicht, dass etwas passierte. Andere waren verzweifelt. Das ist deren Angelegenheit. Ich spreche davon, was ich durchmachte.

    Ich war an diesen beiden Augusttagen alleine zu Hause. Zwei lange, zähe, gespenstische Tage in jener Zweizimmerwohnung eines Plattenbaus mit seinem schmutzigen und vollgepinkelten Fahrstuhl, in der ich glücklich gewesen war. Ich wusste damals nicht, dass das Leben immer ein Drahtseilakt war, ein Gang auf des Messers Schneide, und dass morgen schon vorbei sein konnte, was heute noch galt. Ich wusste noch nicht, dass die kleinen Alltäglichkeiten des Lebens, die man für so lästig hält und die man mit anderen teilt, dass gerade sie das Glück waren. Wäsche zusammenfalten, Brot und Kartoffeln nach Hause tragen, Tee kochen, Hemden und Taschentücher bügeln, das konnte das Glück sein. Ich verachtete diese Alltäglichkeiten noch aus tiefster Seele. Ich war damals noch nicht im Sommerhäuschen von Kaarina und Jaakko Kaurinkoski in den westfinnischen Schären gewesen und hatte noch nicht gehört, wie sie bei der Abreise der Gäste andächtig ein estnisches Lied anstimmten: »Unser Leben auf der Welt hier, auf der Welt hier, ist wie das des Vogels auf dem Zweig, das des Vogels auf dem Zweig …«

    An jenen beiden Augustmorgen im Jahre einundneunzig verabschiedeten wir uns voneinander, ohne zu wissen, ob wir uns jemals im Leben wiedersehen würden. JJ ging auf den Domberg, um seine Pflicht zu erfüllen, denn er war Abgeordneter in eben jenem letzten Obersten Sowjet, der die Unabhängigkeit ausrief. Die Pflicht, die er zu erfüllen hatte, bestand an jenen beiden Tagen darin, kühlen Kopf zu bewahren und sich nicht vom Scheppern der Panzerketten und Handschellen beirren zu lassen. Darin, einen Staat und seine Selbstständigkeit zu bekommen, jene feste Burg, von der jahrzehntelang nur im Flüsterton gesprochen worden war, für die man in Bunkern und Schützengräben gestorben war, in Lagern und Gefängnissen oder wo immer man die Kugel eben gerade bekam, an der Wand des Schulhauses, im Salon, auf dem Kartoffelacker. Auf dem estnischen Roggenfeld öffnete sich plötzlich ein Abgrund, in den man hineinstürzte. Wer konnte all die Abstürzenden auffangen!

    Die damaligen Lieder der Soldaten und Waldbrüder sind nicht nur ein Zeitvertreib für lange Autofahrten, sondern die Stimme von Niedergeschlagenheit, Hoffnung und Verzweiflung selbst.

    Jeder weiß das, und die Mehrheit hat es vergessen.

    Wenn die Geschichte, wie manche glauben, spiralförmig verläuft, dann standen wir im August 1991 wieder Auge in Auge mit dem Beginn der vierziger Jahre.

    In eben diesem Sommer 1991 hörte ich mit eigenen Ohren, wie eine Verkäuferin einer anderen beichtete: »Ich konnte heute Nacht überhaupt nicht schlafen. Draußen dröhnte irgendeine Maschine, und wir horchten die ganze Zeit, ob die Panzer nicht kämen.« Woraufhin die andere antwortete: »Ja, wir haben nachts auch Angst. Bei jedem Donnern wacht man auf und denkt, jetzt sind die Panzer da.« Wenn diese Verkäuferinnen noch leben, werden sie sich noch an jene Nächte erinnern?

    Auch ich hob nachts den Kopf vom Kissen und lauschte, ob die Panzer nicht kämen. Im Allgemeinen wurde darüber nicht gesprochen, man schämte sich, es sich einzugestehen oder anderen gegenüber zu zeigen, es war eine heimliche Angst, die man ständig überwinden musste. Diese Bereitschaft zu allem verband die Verkäuferin mit der Schriftstellerin und den Arzt mit dem Klempner wie ein Blutkreislauf, sie einte die Menschen vielleicht mehr zu einem Volk als alle vaterländischen Reden zusammen.

    Die Tage im August 1991 waren milde und fühlten sich auf der Haut an wie Samtvorhänge. Was die Vorhänge verbargen, wusste man nicht. Es gab Bewegung hinter ihnen, aber die konnte man nicht sehen. Große weiße Sommerwolken zogen am Himmel vorüber, als würden auf der Welt Politik, Wirtschaft, Staatsbelange, Nachrichtendienste und geheime Rundschreiben nicht existieren.

    Sogar die ungestümen, eiskalten Gewässer rund um Suomenlinna waren zahm und weich geworden und liebkosten die Schwimmer. Weder früher noch später bin ich jemals wieder von den Felsen von Suomenlinna ins tiefe, dunkle Wasser gesprungen. Aber im August 1991 badete ich dort, und dieses eine Mal reicht für ein ganzes Leben.

    Am Nordostzipfel der Ostsee glich dieser Sommer des Jahres 1991 einem Wundverband, der von dunkler Angst, unvergossenem Blut und quälender Erwartung durchtränkt war. Als die Panzer endlich eintrafen, nahte gemeinsam mit ihrem unheilvollen Donnern auch die Lösung. In diesen beiden Umsturztagen teilte der estnische Rundfunk Verhaltensmaßregeln an das Volk aus, was zu tun sei, wenn der Oberste Sowjet und die Regierung ausgeschaltet und die notwendigen Personen liquidiert worden wären und im Radio der Feind das Wort führen würde.

    Ich habe all diese Empfehlungen und Leitfäden mit eigenen Ohren im Radio gehört. Später wollte sich niemand mehr daran erinnern! Der Rundfunk empfahl die Verwendung von Codes und Decknamen in Telefongesprächen. Nicht empfohlen war, zu Hause zu übernachten. Es wurde aufgerufen zu zivilem Ungehorsam.

    Im Fernsehen sah ich, wie am helllichten Tag eine Panzerkolonne durch Tallinn rollte. Solche Bilder hatte ich schon zur Genüge gesehen! Das waren Tallinn 1940 und Prag 1968.

    Die Sonne strahlte grell, und ihr Licht schien grau, als würde sie ins Todesschattental scheinen. Das Leben war so schnell vorbei, so viel war unerledigt, so viel unausgesprochen geblieben, so viel Liebe war nicht gezeigt worden, und jetzt konnte es zu spät sein.

    Das Telefon funktionierte. Sogar ein Anruf aus Schweden kam durch! Wir scherzten miteinander. Der Anrufer war Peeter, Peeter Puide, und er empfahl als eleganten Kontrast massenweise Taschentücher mit Monogrammen nach Sibirien mitzunehmen.

    Am Abend dieses 20. August fand auf dem Freiheitsplatz (der damals Siegesplatz hieß) eine Versammlung statt, von der es hieß, dass die Gegner sie untersagt hätten. Man wusste nicht, ob während der Versammlung die Panzer aufkreuzen würden oder nicht. Ob sie die Menschen überrollen würden oder nicht. Wer zu der Versammlung ging, konnte nicht sicher sein, wieder nach Hause zurückzukehren. Tausende gingen hin. So viele, dass die Leute nicht auf den Freiheitsplatz passten, sondern auch auf den Hügeln um den Platz herum standen.

    Das Tallinn, das ich an jenem Nachmittag sah, habe ich nie wieder gesehen. Auf den Straßen war plötzlich wie aus dem Nichts oder aus einer Totengruft eine neue Art Hausherr aufgetaucht. Sie trugen tatsächlich Schaftstiefel und hatten tatsächlich einen schwankenden Gang. Sie hatten tatsächlich rote Bänder an der Brust und tatsächlich Schirmmützen auf dem Kopf und eine Zigarette im Mundwinkel. Alle Beschreibungen vom Umsturz 1940 entsprachen tatsächlich der Wahrheit. Jetzt konnte man das mit eigenen Augen sehen. Das Volk sah an diesen aus dem Nichts oder der Totengruft aufgetauchten Männern vorbei. Vielleicht erinnert sich deswegen niemand mehr an ihr plötzliches Erscheinen.

    In meiner Tasche hatte ich eine Waffe, ein Schweizer Taschenmesser, das unser Freund Heinz Stalder zum Zeichen der Freundschaft JJ vermacht hatte. In seinen Rand war mit großen, schiefen Buchstaben der Name »Heinz« eingeritzt, da es sich ursprünglich um Heinz’ Lieblingsmesser gehandelt hatte. So manche Holzpfeife hatte er damit geschnitzt, Schiffchen und Windharfen aus Kiefernrinde. Mit dem Messer hatte er Kerben in finnische Birkenrinde und in Schweizer Buchenholz geschnitzt. Dies Messer machte mir Mut, ich hielt es fest wie eine menschliche Hand.

    Nun im Nachhinein ist bekannt, was geschah. Jetzt würde einem keiner mehr abnehmen, dass man in einer solchen Verfassung dorthin ging. Aber damals hatte das Leben eine seltsame Wendung genommen und sich in einen Traum verwandelt. Und im Traum ist bekanntlich alles möglich.

    Den ganzen Weg von der Haltestelle beim Estonia-Theater bis zum Freiheitsplatz hielt ich dieses Messer fest wie eine menschliche Hand. Wir gingen Hand in Hand. Es waren übrigens auch andere zu sehen, die ihre Hand auf gleiche Weise kindlich und verzweifelt in die Tasche gesteckt hatten. Vielleicht ist es wahr, dass man Imperien niemals umstürzt, wenn man ihnen und ihren Armeen nicht mit dem Taschenmesser in der Hand entgegengeht.

    Immer wenn ich die abgedroschenen Zeilen aus einem Soldatenlied höre, in denen es heißt »Ich reiche dir meine bewaffnete Hand«, ist es meine eigene Hand.

    Ich war wirklich bereit, einem lebendigen Menschen, einem sowjetischen Soldaten, mein Messer ins Auge zu stechen, wenn es nötig sein sollte. Ich weiß, was für ein Gefühl das ist. Mein Fleisch, meine Knochen und Adern werden sich bis in ihre Todesstunde an diesen Entschluss erinnern.

    Bekannte fielen einander auf der Straße um den Hals, ihre Augen füllten sich mit Tränen, und ihr Mund verzog sich. Ich sagte nichts, und niemand sprach mich an. Wir schauten einander nur an. Überall herrschte Grabesstille.

    In dieser Grabesstille versammelte sich das Volk. Alle schauten einander an, als wäre es das letzte Mal. Als man anfing, »Unabhängigkeit für Estland!« zu skandieren, erhob sich ein scharfer Wind, und die alten Linden um die Johanniskirche herum rauschten dumpf.

    Ich war auf dem Weg nach Rom, und das war kein Scherz.

    Ich war auf dem Weg nach Rom auch an jenem Winterabend 1963, als ich sechzehnjährig und ohne Geld in einem dünnen Mantel, gegen den Wind und gegen den Abend, zum Bus und meinem Schicksal entgegen ging.

    Wohin zieh’n wir nachts von hinnen,

    in die Nacht und in das Wasser,

    in die schwarzen Finsternisse,

    in die glänzend’ Abendröte,

    hin zum goldnen Mondenscheine?

    Ob wir in den Graben sinken,

    ob am Ufer wir verschwinden;

    wer wird uns im Graben suchen,

    oder an den Ufern schauen?

    Gott wird uns im Graben suchen,

    Maarja an den Ufern schauen.

    (Estnische Volksdichtung)

    Es war noch gar nicht so spät, aber es dämmerte schon und wurde immer dunkler. Die Wälder stöhnten, der Schnee stob, ich musste mich beeilen, denn Straßen und Wege gingen rasch in ihm unter. Bald reichte mir der Schnee bis zum Knie. Hinter den Wäldern und dem Dickicht lag die Stadt, Tallinn, wohl klein, grau und arm, aber doch brannten dort Lampen, und ein traurig-gelblicher Schein schimmerte in den Himmel, als hätten Wandersleute ein Lagerfeuer entfacht. Ich wusste nicht, dass die Stadt so klein war, und dass der Feuerschein dort nur ein Schatten und Bild von anderen, helleren Feuern war. An dem blassen Lagerfeuer wartete niemand auf mich, und doch war genau da mein Platz. Das hatte ich mir in den Kopf gesetzt, und dorthin eilte ich. Ich musste nur rechtzeitig den Sechs-Uhr-Bus erreichen.

    Mutter rannte durch Schnee und Wind hinter mir her. Sie griff mich am Mantelärmel, ihr Mund bewegte sich, aber sie sagte nichts, schaute mich nur an. Dieser eine Blick machte sie im Handumdrehen zur Mutter aller, die fortgehen. Ihre Gestalt hebt sich noch heute schwarz vom winterlichen Dämmerlicht ab, ihre Gestalt kommt mir so klein und so allein vor, dass sie bis zum Ende der Welt sichtbar ist. Ich ging weiter, nach Rom, ich glaubte an Wunder und Sterne, und verschwand im Schneegestöber, als hätte es mich dort nie gegeben.

    Diesen Blick meiner Mutter sah ich am 20. August 1991 in den Augen von wildfremden Menschen, als wir in Totenstille einander anblickten.

    Manchmal gab die Ewige Stadt in jenen Jahren doch ein Lebenszeichen von sich. Hin und wieder drang ein weißes Schiff durch den Eisernen Vorhang, mit dem Pirkko aus Helsinki eintraf, und sie erzählte jedes Mal aufs Neue von ihrem Rombesuch. Ihr waren dort Dinge widerfahren, die unbegreiflich und so verworren waren, als wären sie vor vielen hundert Jahren geschehen. In Rom hatte Pirkko einen versteinerten Fußabdruck von Jesus gesehen und in der Nähe davon ein Huhn, das hoch auf einen Baum geflogen war und dort wie ein Adler sitzen blieb. Woher das Huhn kam, war nicht ganz klar. Ferner gab es in Rom Lerchen, die lauthals gesungen haben, so dass man sofort verstand, dass sie dort schon immer so gesungen haben, selbst als die Legionen noch marschierten.

    Auch hatte Pirkko in Rom kein Dach über dem Kopf bekommen. Offenbar waren Jesus’ Fußabdruck und dieses adlerartige Huhn schuld daran, denn die sah sie weit draußen vor der Stadt, auf der Via Appia Antica. Als sie dann abends wieder im dunklen Rom eintraf, irrte sie lange umher, bis sie auf dem Palatin ankam, wo sie keine Menschenseele mehr antraf, die sie nach dem Weg hätte fragen können. So warf sie sich auf den von der Sonne erwärmten Boden und schlief sofort ein wie in Mutters Schoß.

    Roms Katzen waren in der Nacht über sie hinweg gelaufen. Große schwere Katzen waren es.

    Jedes Mal, wenn Pirkko bei ihrer Rom-Odyssee bei der Stelle mit den Katzen ankam, senkte sie

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