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Nutzlose Menschen - Teil 1: Roman
Nutzlose Menschen - Teil 1: Roman
Nutzlose Menschen - Teil 1: Roman
eBook232 Seiten3 Stunden

Nutzlose Menschen - Teil 1: Roman

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Über dieses E-Book

Jahrmarkt in der Stadt
Band 3

Nutzlose Menschen
Ein Roman von Nikolaus Klammer

"Sie tun nichts, was wert ist, getan zu werden,
und sagen nichts, was wert ist, gesagt zu werden,
aber sie tun und sagen es immer und immer
wieder ..."


Nutzlose Menschen

Eine Stadt Mitte der 90er Jahre in der bayerischen Provinz. Es ist ein heißer Sommer:. Der gescheiterte Schriftsteller Nikolaus Klammer, der sich in seinem Brotberuf als Beamter langweilt, beginnt mit den Menschen in seinem Umfeld wie mit Schachfiguren zu spielen. Ohne deren Wissen stellt er zu seinem Zeitvertreib mit ihnen Szenen aus der "Comédie humaine" von Honoré de Balzac nach.

Sein auserwähltes Opfer in dieser Nacht ist Benjamin Sapher, der sich hilflos in dem Spinnennetz seines Vorgesetzten verfängt. Als seine Frau Gitta ahnt, was Klammer mit ihrem Mann vorhat, ist es beinahe schon zu spät, um eine Katastrophe zu verhindern. Aber ist das alles wirklich nur ein makaberes Spiel oder hat Klammer noch einen anderen Plan?
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum9. Sept. 2019
ISBN9783750201903
Nutzlose Menschen - Teil 1: Roman
Autor

Nikolaus Klammer

Nikolaus Klammer erblickte am 10. Februar 1963 das Licht dieser besten aller Welten. Er übt den Beruf des Geschichtenerzählers aus, seit er sprechen kann - also schon eine lange, lange Zeit. Er lebt und schreibt im verträumten Diedorf bei Augsburg, ist seit über dreißig Jahren glücklich verheiratet und hat zwei inzwischen erwachsene Söhne, die längst auf eigenen Füßen stehen.

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    Buchvorschau

    Nutzlose Menschen - Teil 1 - Nikolaus Klammer

    cover.jpg

    NIKOLAUS KLAMMER

    NUTZLOSE

    MENSCHEN

    Ein Künstlerroman

    Teil Eins

    img1.jpg

    JAHRMARKT IN DER STADT

    BAND 3

    E-Book-Ausgabe

    Texte und Bilder:

    © Copyright by Nikolaus Klammer

    Umschlaggestaltung:

    © Copyright by Nikolaus Klammer

    klammer@email.de

    Druck:

    epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

    "Sie tun nichts, was wert ist, getan zu werden,

    und sagen nichts, was wert ist, gesagt zu werden,

    aber sie tun und sagen es immer und immer wieder ..."

    Saki

    INHALT

    1. KAPITEL

    DIE BEAMTEN

    2. KAPITEL

    EVASTÖCHTER

    3. KAPITEL

    EIN FÜRST DER BOHÊME

    4. KAPITEL

    KOMÖDIANTEN WIDER IHR WISSEN

    5. KAPITEL

    DAS UNGEKANNTE MEISTERWERK

    img1.jpg

    ERSTES KAPITEL

    Die Beamten

    »Ironie ist teuer. Sie kann sich nur erlauben, wer sie sich wirklich leisten kann«, erwiderte Klammer lächelnd. Er wischte mit einer strengen, konzentrierten Bewegung einen hellen Fussel vom Revers seines lindgrünen Jacketts. »Das ist, auf einen allzu kurzen und auch durchaus euphemistischen Nenner gebracht, die Essenz der Philosophie des Hippias und etwas, das der nüchterne Platon dem Sophisten endothym nicht verzeihen konnte. Auch dem Chaos kann sich im Übrigen nur der lustvoll hingeben, der es versteht, eine gewisse Ordnung zu genießen.«

    Sapher zuckte hilflos mit den Schultern.

    »Entschuldigen Sie bitte, Herr Dr. Aber wie so oft verstehe ich Sie nicht.« Er drehte mit einer unbewussten Geste der Kapitulation seine Handflächen nach oben und seufzte. »Wenn ich ehrlich bin, dann muss ich jetzt zugeben: Ich verstehe Ihre Plaudereien eigentlich nie. Sie sind doch jetzt seit zwei Jahren mein Vorgesetzter an der Behörde und fast an jedem Arbeitstag reden wir miteinander, nicht wahr? Und trotzdem habe ich immer den Eindruck, Sie reden nicht mit mir, sondern an mir vorbei, mit ... ich weiß nicht, mit jemandem an einem anderen Tisch oder mit der Nachwelt. Ist das Ihre Absicht? Was sind denn das für Gedankengänge, die Sie immer wieder vor mir ausbreiten? Wen sollen sie beeindrucken? Mich verwirren Sie nur ...«, sagte Sapher unsicher. Nikolaus Klammer erweckte bei ihm nicht den Eindruck, als habe er ihm zugehört. Sein Vorgesetzter sah mit seinem eingefrorenen Lächeln zum Fenster hinaus, als er antwortete:

    »Es gibt nichts Erstaunlicheres als mich selbst«, zitierte er zum wiederholten Male seinen Lieblingsschriftsteller, »Sie und ich sind wie die zwei im Altersverhältnis zueinander umgekehrten Beamten Poiret und Bixiou. Verzeihen Sie mir. Ich will Sie nicht verletzen, aber Sie sind ein eingeschränkter und - im positiven Wortsinn -, ein einfacher Bürger. Nehmen Sie es als Auszeichnung, wenn ich das nun sage, als eines der seltenen lobenden Worte aus meinem verbitterten Mund. Denn Ihre Rasse und Ihresgleichen, die doch den Staat erhalten, sind im Aussterben begriffen. Der Bourgeois stirbt in unserem bourgeoisen Land am Ennui und niemand verfasst seinen Nekrolog. Sie jedoch sind einer der letzten und das zeichnet Sie aus. Deshalb rede ich mit Ihnen auch nicht über Fußball, Autos oder Computer – von Dingen übrigens, von denen ich eh nichts verstehe.« Klammer wandte seinen Blick erst jetzt wieder zu Sapher, der ihm nun zwar aufmerksam, aber nicht minder fassungslos zuhörte.  »Der letzte Mohikaner, der letzte Kaiser, der letzte Zivilist - der letzte Bürger! Ich denke, ich werde Ihnen zu Ehren einen Roman mit diesem Titel schreiben, ein homerisches Epos über die Suche nach einem Mann ohne Eigenschaften in einer verlorenen Zeit. Wissen Sie, Sapher, es ist ebenso leicht, sich ein Buch auszudenken, wie es schwer ist, eines zu schreiben. Ich denke schon eine ganze Weile darüber nach - und jetzt weiß ich auch endlich den ersten Satz des Werks, er ist mir gerade eingefallen.« Klammer setzte sich gerade und begann ausgelassen und von der eigenen Eloquenz begeistert zu deklamieren:

    »Hören Sie: „Aus dem bewegungslosen, amorphen Grau des heraufdämmernden, jungfräulichen Morgens, der in dieser schmutzigen, erbarmungslosen Verhöhnung all der Gründe, aus denen Menschen Städte bauten, so schnell alterte und zahnlos wurde, vorverdaut von der sodomitischen Enge in den dampfigen Verkehrsmitteln, in einen Mantel stinkender Abgase gehüllt, schälte sich täppisch die gebeugte Silhouette des letzten Beamten ..."«

    »Ich weiß nie, wann Sie sich über mich lustig machen. Wer ist dieser Bixiou, von dem Sie eben sprachen?«

    »So unterbrechen Sie mich doch bitte nicht, denn solch ein Augenblick der Inspiration kommt unter Umständen nie wieder! Wenn ein kraftvoller Gedanke auf seinen traumhaften Schwingen einen Dichter entführt und ihn von den Umständen, die ihn hier einschließen, entfernt, indem er ihn durch die grenzenlosesten Regionen schleudert, wo die ungeheuersten Ansammlungen von Tatsachen zu Abstraktionen werden, wo die größten Werke der Natur nur Bilder scheinen -, wehe ihm, wenn irgendein Lärm an seine Sinne schlägt und die schweifende Seele in das Gefängnis von Fleisch und Bein zurückruft!«, ereiferte sich Klammer theatralisch. Wahrscheinlich zitierte er wieder einmal einen Autor des 1. Jahrhunderts, in dem er sich besonders wohl fühlte. Sein Gedächtnis war wirklich sensationell, denn alles, was er irgendwann gelesen oder aufgeschnappt hatte, konnte er lückenlos und fehlerfrei wiedergeben. Er wirkte jedoch für einen Moment tatsächlich verärgert.

    »Sehen Sie, wenn der erste Satz stimmt, ist der Roman schon fast geschrieben, alles Weitere sind Fleiß und Zeit. Das sind zwei Dinge, die ich im Übrigen nicht besitze, denn Faulheit und Bewegungslosigkeit sind der normale Zustand aller Künstler.« Er legte die Hände vor seinem Mund wie zu einem Gebet zusammen. »Der erste Satz muss eine Mausefalle sein, er muss den Leser fassen und darf ihn für zweihundert atemlose Seiten nicht mehr von sich lassen. Was habe ich gesagt? Aus dem bewegungslosen, amorphen Grau eines beginnenden Morgens, der in unserer dreckigen Stadt so …, na, so schnell altert ... und ... und ... vorverdaut wird?« Klammer runzelte die Stirn und machte dann eine wegwerfende Handbewegung. »Egal, es ist weg, eine weitere Perle verschwendet. Wir haben den Augenblick verloren. Nun wird Ihr Epos immer unvollendet bleiben. Es ist Bruchwerk, niedergeschrieben auf einem von der Zeit zerfressenen Pergamentfetzen. Es ist ein Fragment, das aus dem Fragment des ersten Satzes besteht. Das ist nicht viel, aber dieses Fragment, das doch Großes hoffen lässt, schenke ich Ihnen. Dieses bewegungslose, amorphe Grau, ich eigne es Ihnen zu. Es ist ein Satz für Sapher.« Atempause. »Dabei fällt mir ein: Ihr Name, mein lieber Sapher, mein lieber Benjamin Sapher, das wollte ich Sie schon immer fragen, welcher willkürlichen und humorvollen Gottheit verdanken Sie ihn? Er ist herrlich, ein Füllhorn des Wohlklangs, wie die Sonatine von Ravel. Entschuldigen Sie bitte die schlechte Alliteration, Herr Sapher, aber eine Metapher der Sappho kann nicht besser klingen: „... geschüttelt hat Eros mich wie der Sturm, der vom Berge her sich wild auf die Eichen stürzt." Wissen Sie übrigens, dass es nur ganz wenige Poeten gibt, deren Name allein schon ein wohlklingendes Gedicht ist? Ernst Jandl, Detlev von Liliencron, Durs Grünbein. Schrecklich, nicht wahr? Man will kein Gedicht von Menschen lesen, die so heißen. Aber hören Sie dagegen: Hölderlin, Novalis, Walt Whitman, Sappho, Ovid und Erich Fried. Genießen Sie die Euphonie, das Versmaß, das Distichon. Benjamin Sapher, man muss Ihren Namen laut und mit französischer Akzentuierung aussprechen, um ihn völlig genießen zu können«, begeisterte sich der Dr., der mit jedem Atemzug, den er machte, auf ein neues Thema zu stoßen schien.

    »Meine Familie kommt von Großvaters Seite aus dem Elsass«, warf Sapher geschmeichelt ein.

    »Vous appelez un chat un chat! Ihr Name ist strahlende Poesie, aber für ein bürgerliches Trauerspiel wie das unsere ist er leider denkbar ungeeignet. Bei Schiller würden Sie eher von Kalb oder Wurm heißen - oder wie wäre es mit Schwerdgeburth? Das ist ein beredter, ein wunderbarer Name, nicht wahr? So hieß, wenn ich mich recht entsinne, im vorigen Jahrhundert ein Freund von Johann Gottfried Seume, ein Maler ... Haben Sie den „Spaziergang nach Syracus" gelesen?«

    »Wie würde denn Klammer klingen?«, fragte Sapher leichthin und lächelte selbstsicher. In diesem Augenblick glaubte er, er könne seinem Vorgesetzten zum ersten Mal in diesem Gespräch Paroli bieten. Dessen Stimme wurde jedoch im Folgenden einen Hauch schärfer und kälter. Es war nur ein ephemerer Strich auf der Maßeinheit seiner Modulationsmöglichkeiten, doch als er fortfuhr, genügte jener Hauch, Saphers Selbstzufriedenheit über seine Schlagfertigkeit wie einen Krümel hinwegzuwischen und ihr Vorgesetzten-Untergebenen-Verhältnis wieder herzustellen:

    »Sieh an, Sie zeigen Witz! Ihr Umgang mit mir erbringt erste Früchte. Also erscheint er doch nicht umsonst. Nun ja, vielleicht Klammer, warum auch nicht? Aber es lässt sich viel dagegen sagen. Der Name ist zu bedeutungsschwanger, mit Inhalt und Symbolik überfrachtet. Nikolaus Klammer, das klingt wie Willi Loman, Wilhelm Meister, Peter Kien, Stiller, Herr Keuner oder Darth Vader; da schwingt viel zu viel mit. Man darf einen Leser niemals für dumm halten, ihn nie unterschätzen. Deuten Sie nur an, wenn überhaupt. Sie dürfen mit dem Namen Ihrer Hauptfigur nicht gleich den ganzen Roman verraten. Nehmen Sie etwas opakeres, verschlüsselteres. Oder - noch besser -, Sie schlagen ein Telefonbuch auf, dort finden Sie so viele Namen und Geschichten ...«

    Sapher, der das merkwürdige Gespräch gerne beenden wollte, sah kurz auf seine Uhr. »Ich unterbreche Sie nur ungern, Herr Dr., aber die Arbeit ruft.«

    »Es ist schon zehn?«, fragte Klammer, der nie eine Uhr trug.

    »Bereits ein paar Minuten danach.«

    Klammer schüttelte den Kopf: »Meine liebe Sappho, Sie werden mir unpünktlich. Aber bleiben Sie doch, heute ist Freitag und ich gebe Ihnen Dispens! Nein, wirklich. Kreative Menschen wie wir brauchen die Muße, ihre Gedanken zu entwickeln. Die Freiheit der Fantasie hat Marasmus zur Folge. Außerdem ist es hier unter dem Ventilator angenehm kühl. Ist es paradox, wenn es mich bei dem Gedanken an unsere überhitzten Zimmerfluchten fröstelt?« Klammer lachte, nahm Sapher an der Schulter und drückte ihn zurück in den Stuhl, aus dem er sich, über den Tisch gebeugt, bereits halb erhoben hatte. Ergeben gehorchte er dem sanften Druck seines Vorgesetzten. »Ihr Publikumsverkehr muss eben einen Moment warten. Viele werden es jetzt in der Urlaubszeit und bei diesem Wetter eh nicht sein. Ich will Ihnen etwas verraten. Es ist ein offenes Geheimnis und mich wundert, dass Sie es noch nicht kennen: Die Leute, mit denen wir es hier im Amt zu tun haben und die sich jeden Tag in unseren Gängen drängen, die wollen warten. Die kommen nur deswegen hierher. Helfen können wir ihnen nicht, das wissen wir beide nur zu gut. Die Leute ahnen das ebenfalls. Aber indem wir sie warten lassen, schenken wir ihnen eine kurze Hoffnung, einen versteckten Zugang zu Pandoras Büchse. Die halbe Stunde, vielleicht sogar Stunde, die sie ungeduldig vor unseren Türen verharren müssen, in stummer Eifersucht in die Gesichter derer starrend, die näher bei der Tür sitzen oder einen Zettel mit einer niedrigeren Nummer in den Fingern haben, diese Stunde ist weit wichtiger als das kurze, ergebnislose Gespräch mit uns, unser resignierendes Kopfschütteln, unsere Vertröstungen, Formulare und neuen Termine, sogar unser Geld. Warum haben diese Leute so selten etwas zum Lesen dabei oder sonst eine Beschäftigung? Warum stricken sie nicht einen Pullover? Haben Sie sich das schon einmal gefragt? Die Antwort ist: Weil sie sich das Warten nicht durch einen Zeitvertreib verkürzen wollen. Denn in jenen endlosen Momenten des Geduldens hegen sie die geheime, ihnen selbst nicht ganz bewusste Hoffnung, es würde diesmal anders werden.  Heute, bilden sie sich ein, sind sie nicht schon wieder umsonst gekommen, sondern sie werden vielleicht wirklich etwas erreichen können. Das ist wie beim Lotto spielen. Solange die Ziehung der Zahlen noch nicht war, bin ich Millionär. Und gleichzeitig spüren die Leute: Es gibt noch etwas anderes, als wie Estragon  auf den Fluren von Behörden vergeblich auf das Erscheinen von Godot zu harren. Es wird ein Gefühl geweckt, eine Begierde nach der Familie und nach Betätigung. Wir schenken den Menschen etwas Nachdenken, ein Stück Leben, das sie in der modernen Welt verloren haben. Vielleicht ist das unsere eigentliche Aufgabe als Beamte.«

    »Sie sind wieder zynisch, Herr Dr.«

    Klammer kniff wie verärgert die Augen zusammen und überraschte Sapher mit einem plötzlich ernsten, abschätzenden Blick. Dann lächelte er und sein Gegenüber folgte seinem Beispiel unsicher. »Ich sagte schon, man muss sich Ironie leisten können. Ich hätte auch sagen können, dass ich bei meinem mickrigen Gehalt niemals ironisch, zynisch oder gar sarkastisch bin. Im Ernst, lassen Sie deshalb die Leute ruhigen Gewissens warten, wir unterhalten uns heute so gut.«

    Sie unterhalten sich heute so gut, Herr Dr. Klammer, dachte Sapher. Zum ersten Mal während seines Gesprächs mit seinem Vorgesetzten sprach er einen Gedanken nicht aus. »Wer ist Bixiou?«, fragte er stattdessen erneut, ohne eine Antwort zu erwarten. Er bekam sie auch nicht. Klammer stand auf.

    »Ich hole uns noch einen Kaffee. Eine kleine Viertelstunde haben wir sicherlich noch Zeit«, sagte er dabei. Sapher sah nachdenklich hinter ihm her. Nikolaus Klammer, Dr. der Jurisprudenz und ein verdienter Beamter im höheren nichttechnischen Dienst, der in einem schwer abschätzbaren Alter zwischen fünfundvierzig und fünfundfünfzig stand, hatte eine mittelgroße, unauffällige und schlanke Gestalt. Er kleidete sich aber modisch und teuer, fiel daher überall auf und erregte wegen seiner Eleganz allgemein Bewunderung. In seinen etwas spärlich gewordenen, sorgfältig frisierten und dunklen Haaren zeigte sich keine einzige graue Strähne. Sapher hatte schon Vermutungen darüber angestellt, ob Klammer sie wohl färbte.  Obgleich er Saphers direkter Vorgesetzter war und sich oft mit ihm unterhielt, war es Sapher während der Zeit, die sie nun in der gleichen Abteilung Tür an Tür saßen, nicht gelungen, einen Einblick in Klammers Charakter, der etwas von der überraschenden Wechselhaftigkeit des Aprilwetters hatte, zu werfen. Nie konnte sich Sapher sicher sein, ob Klammer im Ernst mit ihm sprach, oder sich insgeheim über ihn lustig machte. Obwohl er selbst alles andere als ungebildet war, verstand er viele von dessen intellektuellen, oft hermetischen Spitzen nicht, deren Bedeutung er manchmal am Abend in einem Lexikon nachschlug. Dabei hob sich, von ihm selbst kaum bemerkt, sein Gemeinwissen. Er hatte bei seinen Nachforschungen überrascht festgestellt, dass der belesene Klammer über ein exaktes, geradezu photographisches Gedächtnis verfügte, das ihn in die Lage versetzte, lange Buchpassagen, Gedichte, aber auch Gesetzestexte auswendig und fehlerfrei aufzusagen. Sapher hatte, bevor er dem Dr. begegnete, weder geglaubt, dass es Menschen geben könnte, die zu solchen Erinnerungsleistungen fähig waren, noch hatte er jemanden außer Klammer kennengelernt, der auf eine so seltsame, flatterhafte und leichtfertige, dabei durchaus anziehende Weise über nahezu jedes Thema zu räsonieren verstand. Sapher nahm an, der unverheiratete Dr. hatte Erfolg bei Frauen. Das war allerdings nur eine seiner Vermutungen, da er praktisch nichts über das Privatleben Klammers wusste; er konnte ebenso gut auch wie ein Mönch leben oder schwul sein. Was den ungewöhnlichen Beamten umgekehrt gerade an Sapher interessierte, blieb diesem ein unlösbares Rätsel. Zwar ahnte er, dass Klammer irgendetwas mit seiner Person verband oder gar plante, doch er hatte nicht die geringste Ahnung, worauf sein Vorgesetzter mit diesen häufigen Diskussionen knapp über Saphers intellektuellem Horizont abzielte.

    Anderen Beamten gegenüber zeigte sich Klammer zwar freundlich, aber reserviert. In seinen Gesprächen mit ihnen ging er nur selten über die Belange der Behörde hinaus. In den alltäglichen Geschäften des Amtes war der Dr. ein mustergültiger, erfahrener und fleißiger Beamter, der seinen Posten als Oberamtsrat vorzüglich ausfüllte und dessen Wissen der Vorschriften und Rechtsbestimmungen sprichwörtlich war. Von Sapher abgesehen hielt er genau jenen Abstand zu seinen direkten Untergeordneten, der den nötigen Respekt vor der Person und der Fachautorität des Vorgesetzten erweckt. Dennoch war er im Amt eine halb mythologische Gestalt und stand in dem geflüsterten Ruch der Verschrobenheit. In seiner Vergangenheit musste es auch einmal einen Eklat gegeben haben, über den hinter vorgehaltener Hand ungenaue, aber phantastische Mutmaßungen die Runde machten. Der tatsächliche Vorfall, falls es denn je einen gegeben hatte, war ein gut gehütetes Geheimnis, das, so eines der Hauptgerüchte, der Grund war, aus dem Klammer trotz seines Alters und seinen Fähigkeiten nicht befördert wurde und zum Direktor aufstieg.

     »Du arbeitest beim Klammer?«, hieß es häufig und Sapher wurde mit einer bedeutsamen, dabei mitleidigen Miene bedacht. »Oje!«

    In diesem mitfühlenden Laut schwang meist neben der Erheiterung eine Prise Schadenfreude mit. Wäre Klammer nicht sein direkter Vorgesetzter gewesen, hätte Sapher ihn sicherlich gemieden. Seit geraumer Zeit versuchte er auch, sich hinter Klammers Rücken innerhalb der Behörde zu verändern. Das würde ihm jedoch kaum vor der nächsten Regelbeförderung gelingen und die stand erst in zwei Jahren ins Haus. Sapher selbst war zweiunddreißig Jahre alt, etwas untersetzt, unscheinbar und hell-, fast rotblond. Da er saloppe Alltagsbekleidung bevorzugte, hatte er Mühe, sich der strengen Kleiderordnung des Amtes, die Anzugjacke und Krawatte vorschrieb, unterzuordnen. Seine Frau Gitta kannte er seit seiner Schulzeit und er hatte sie gleich nach seiner Vereidigung geheiratet. Die Ehe war kinderlos. Wenn er gezwungen war, seinen Lebenslauf zu schreiben, wurde der nie länger als eine halbe DIN-A4-Seite: Er hatte ihn auch geradlinig aus dem Gymnasium über die gehobene Laufbahn zu diesem Posten geführt, wo er sich nun täglich mit diesem seltsamen Vorgesetzten und dessen unergründlichen Launen auseinandersetzen musste. Es war ungerecht, wie Klammer dem fleißigen Sapher seinen von Unbilden oder emotionalen Stürmen freien Lebensweg

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