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Stromausfall: Erzählungen
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eBook215 Seiten3 Stunden

Stromausfall: Erzählungen

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Über dieses E-Book

STROMAUSFALL
Vier Erzählungen

"Ich nenne sie nicht Marga; nur wenn Ich böse auf sie bin, sage Ich: Das hättest du wissen müssen, Marga, oder: Marga, was bist du heute dumm. Sonst sage Ich ›ich‹ zu Marga."

Ein 16jähriges Mädchen wird kritisch von seinem Über-Ich beobachtet, der Kinderwunsch eines Paares nimmt eine groteske Wende, ein alter Mann hat den Weltuntergang überlebt, Schlaflosigkeit und Gerüchte quälen eine fiebernde Stadt.

Die vier in diesem Auswahlband versammelten Erzählungen von Nikolaus Klammer sind provokant und literarisch anspruchsvoll. Sie laden zum Nachdenken und Innehalten ein und sind für jeden, der sich auf sie einlässt, eine Bereicherung.


Über den Autor

Nikolaus Klammer erblickte am 10. Februar 1963 das Licht dieser besten aller Welten. Er übt den Beruf des Geschichtenerzählers aus, seit er sprechen kann - also schon eine lange, lange Zeit. Er lebt und schreibt im verträumten Diedorf bei Augsburg und ist seit über dreißig Jahren glücklich verheiratet. Sein bisher veröffentlichtes und umfangreiches Werk umfasst Romane, Erzählungen und zwei Bände mit Essays und Glossen.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum4. März 2021
ISBN9783753170671
Stromausfall: Erzählungen
Autor

Nikolaus Klammer

Nikolaus Klammer erblickte am 10. Februar 1963 das Licht dieser besten aller Welten. Er übt den Beruf des Geschichtenerzählers aus, seit er sprechen kann - also schon eine lange, lange Zeit. Er lebt und schreibt im verträumten Diedorf bei Augsburg, ist seit über dreißig Jahren glücklich verheiratet und hat zwei inzwischen erwachsene Söhne, die längst auf eigenen Füßen stehen.

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    Buchvorschau

    Stromausfall - Nikolaus Klammer

    Stromausfall

    Eine andere Art der Liebe

    Stromausfall

    Tradition

    Vorwurf

    Stirb und werde

    Crisis

    Nachbemerkung

    Nikolaus Klammer

    Stromausfall

    Erzählungen

    Texte und Bilder:

    © Copyright by Nikolaus Klammer

    Umschlag:

    © Copyright by Bernhard Wurzer

    »Gewitterstimmung«

    Öl auf Leinwand (Ausschnitt)

    klammer@email.de

    Druck:

    epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

    INHALT

    Eine andere Art der Liebe

    Eine Erzählung

    7

    Stromausfall

    Eine Erzählung aus der Heimat

    81

    Tradition

    Vorwurf

    167

    Stirb und Werde

    192

    Crisis

    Eine Erzählung

    239

    Nachbemerkung

    295

    Eine andere Art der Liebe

    Eine Erzählung aus dem

    ›Jahrmarkt in der Stadt‹-Zyklus

    Norbert Szczesny klopft seinen Oberkörper ab. Er senkt die Arme und schüttelt den Kopf. Seltsam, ich hätte wetten können … Er stößt sich von der Wand ab, an der er lehnt und tritt zu seinem Mantel. Er hat ihn vorhin an einen aufdringlichen Kleiderhaken neben der Eingangstür gehängt, der wie ein aufgerichteter Phallus geformt war. Szczesny findet in der Innentasche die Zigaretten und das Feuerzeug. Ich darf nicht rauchen. Das ist der Grund für die schlecht durchbluteten Beine. Das hat der Arzt gesagt. Und ich weiß es eigentlich auch ohne ihn. Die Raucherei wird mich noch einmal umbringen. Szczesny ist neununddreißig. Mit vierzig ist Schluss mit dem Rauchen, hat er sich vorgenommen. Also darf ich noch ein ganzes Jahr lang so viel paffen, wie ich will. Und wenn sich Clara auf den Kopf stellt; versprochen ist versprochen! Vierzig ist die Hälfte des Lebens, heißt es. Das wäre zu verrückt. Jetzt kann er keinen Krebs mehr gebrauchen, nachdem er die Stelle von Kerner hat und endlich gutes Geld verdient. Clara muss nicht mehr den Halbtagsjob in der Boutique machen. Sie kann zu Hause bleiben. Ihre Bücher schreiben. Szczesny hat gesund zu sein. Das ist er Clara und dem Büro schuldig. Er raucht nur noch in Ausnahmesituationen. Der Gedanke ist ein gutes Alibi: Nur noch in Ausnahmesituationen rauchen. Auf jeden Fall weniger rauchen. Zwei Schachteln am Tag waren einfach zu viel. Das ist mir schon klar. Das erzählt mir schließlich Schwager Henry bei jedem Treffen. Der isst nur noch vegetarische Vollkost und macht Jogging. Gut, das ist nicht schlimm. Jeder hat das Recht, den Tag auf seine Weise kaputtzumachen. Was Norbert stört, ist das vollkommen von sich selbst überzeugte Sendungsbewusstsein, das Henry an den Tag legt. So penetrant! Er käme mit seinem Schwager gut aus, wenn diese Unart nicht wäre. Ihm gefällt Henrys Lächeln. Szczesny sieht dann Clara. Wie sie früher war, bevor sie ihren ersten Roman veröffentlicht hatte.

    Jetzt ist eine Ausnahmesituation. Wenn das keine ist! Szczesny bringt sein Anzünde-Ritual ruhig hinter sich. Niemand hier im Wartezimmer braucht zu bemerken, wie nötig er seine Nikotinration gerade hat. Das geht nur ihn und seine Beine etwas an. Er wird beobachtet. Das spürt er, ohne aufzusehen. Dafür hat er einen Sinn entwickelt. In dem Großraumbüro, in dem er bisher arbeitete, wurde er immer beobachtet und kontrolliert. Szczesny spürt ein Ziehen über der Nasenwurzel, genau in der Mitte der Stirn. An der Stelle, die seine als Schutz vor der Flamme des Feuerzeugs hochgezogenen Augenbrauen erreichen. Es ist ein kaltes Zielen eines Blicks, das er tief im Schädel spürt. Es kitzelt ihn. Aber noch sieht er nicht auf. Das wäre eine Blöße. Szczesny überlegt, ob ihn eine der Frauen im Wartezimmer betrachtet. Der Gedanke gefällt ihm. Obwohl er meist treu ist, mag er kurze, erwartungslose Flirts. Er versucht, sein Feuerzeug mit einer lässigen Handbewegung zu schließen. Mein Name ist Bond. Dabei bemerkt er Unruhe. Sein Körper zittert. Der Unterleib ist kalt. Szczesny nimmt einen tiefen Zug. Da ist ein beifälliges Nicken in seiner Lunge, als könne sie nur mit diesem Rauch richtig atmen.

    Szczesny sieht auf und seiner Beobachterin in die Augen. Er hat recht mit seiner Vermutung. Es ist eine Frau, die ihn anstarrt. Leider nicht die, auf die er gehofft hat. Die kümmert sich nicht um ihn. Ist in ein Modeheft vertieft. Die andere, die Fette, ist es. Sie sieht allerdings sofort weg, runter auf ihre Oberschenkel. Jetzt ist Szczesny am Zug. Er kneift die Augen ein wenig zusammen und beobachtet. Er ist der Meinung, dass er das gut kann, das Beobachten. In der Stasi hätten sie solche wie mich mit Handkuss aufgenommen. Die Fette ist in seinem Alter, vielleicht ein wenig jünger. Trotzdem sieht sie verbraucht aus, aufgedunsen, speckig. Das lockige, blonde Haar ist unvorteilhaft, verlogen. Wahrscheinlich gefärbt. Ihre Bluse spannt über der beachtlichen und sehr tief auf dem Bauch aufliegenden Brust. Sie trägt eine Jersey-Leggings in schreienden Farben. Soll wohl das Fett verbergen. Aber Szczesny glaubt eher, es ist die einzige Sorte Hose, die dehnbar genug ist, um ihr ein bequemes Sitzen zu ermöglichen. Er mag keine Leggings. Er verbindet mit ihnen penetranten Schweißgeruch. Szczesny ekelt sich. Der schlechte Geschmack auf der Zunge kann aber auch von der Zigarette kommen. Es ist die Erste an diesem Montag. Aber noch sieht er nicht weg. Etwas fehlt ihm. Szczesny nimmt noch einen Zug und wartet. Diese Zigarette schmeckt überhaupt nicht. Der erste Zug war wunderbar gewesen, aber jetzt schmeckt der Rauch abgestanden, ranzig. Da ist ein widerlicher Belag auf der Zunge. Endlich blickt die Fette auf. Das musste kommen, darauf hat Szczesny gewartet. Sie muss kontrollieren, ob er sie noch beobachtet. Nun ist sie ertappt. Er hat sie erwischt. Ein kurzer Augenaufschlag, ein schnelles Wenden des Kopfes, Hilfesuchen im Raum. Alle sind mit sich und den Zeitschriften beschäftigt. Das war doch ein gelungener Abschluss! So muss das sein. Szczesny lächelt.

    Sie ist rot geworden, bildet er sich ein. Sie schämt sich. Er tritt nahe an die Frau heran, drückt seine halb gerauchte Zigarette in einem Aschenbecher auf dem niedrigen Tisch vor ihr aus. Sie reagiert nicht, starrt auf ihre fetten Oberschenkel, die von der Leggings zusammengequetscht sind. Ruhig lehnt sich Szczesny wieder an die Wand. Er schließt die Lider nur halb. Seine Unruhe hat ihn nicht verlassen. Sie ist nicht einmal kleiner geworden. Aber jetzt tritt die Langeweile zu ihr. Beide gemeinsam erzeugen eine zerfahrene Leere in seinen Gedanken. Szczesny ist nun Körper und spürt. Der schwache Harndrang und das flaue Krampfen des Magens treten wie Musiker, die eine Bühne betreten, nach vorn und beginnen ein Duett. Er lehnt, hört zu und bildet sich ein, unmittelbarer Zeuge des Entstehens seines ersten Magengeschwürs zu sein. Szczesny hat genau den Punkt, in dem sich die sanfte Übelkeit fast zum Schmerz verdichtet. Er erinnert sich flüchtig an ein Molièrestück, das er mit Clara kürzlich in der ›Komödie‹ im Gignoux-Haus gesehen hat. Das ist eine heruntergekommene Spielstätte des Augsburger Stadttheaters in der Altstadt. Er hat den Titel vergessen.

    Er kehrt zurück von seinem Ausflug in den eigenen Körper und entscheidet sich, zornig zu werden. Der Warteraum ist voll, abgefüllt wie der Vorortzug, der an jeder Milchkanne hält und mit dem er morgens gegen sechs Uhr von Gessertshausen in die City zur Arbeit fährt. Szczesny ist nicht der Einzige, der steht. Auch die anderen Wartenden werden langsam unruhig. Szczesny kontrolliert mit einem schnellen, ungeduldigen Blick seine Uhr. Drei, vier Leute im Raum ahmen sofort diese Geste nach. Er wartet jetzt beinahe eine Stunde. Wieder zählt er die Personen, die vor im da waren, es sind noch immer drei Leute. Ich hätte zu Hause frühstücken können. Ich nehme mir einen Tag frei und stehe mir im Wartezimmer die Beine in den Bauch. Dabei muss ich noch wegen der Lohnsteuerkarte meiner Frau ins Einwohnermeldeamt. Die schließen mittags. Ich will doch nur einen Befund abholen, den kann mir auch die Kleine am Empfang geben! Hier entsteht ihm ein Gedanke, wird beherrschend. Deutlich löst er sich aus dem wirren Knoten der anderen. Diesen Gedanken verdrängt er schnell. Von ihm will er nichts wissen.

    Und wenn sie etwas Ernsthaftes gefunden haben? Das ist der Gedanke, den er nicht brauchen kann. Die Tür neben ihm öffnet sich ein wenig. Die Arzthelferin streckt schüchtern ihren Kopf durch den entstandenen Spalt, muss den Namen wiederholen, bis Szczesny bemerkt, dass er gemeint ist. Er hebt er sich von der Wand, sieht kurz und entschuldigend in die Runde. Szczesny geht hinter dem Mädchen her. Sie sieht gut aus. Dieser Arzt wählt seine Sprechstundenhilfen nicht unbedingt nach sachlichen Gesichtspunkten aus. Das ist ihm sympathisch, erinnert ihn an seine eigene Sekretärinnen-Auswahl im Büro. Das Mädchen öffnet eine Tür, verzieht den Mund zu einer eingeübten, freundlichen Maske.

    »Nehmen Sie doch bitte schon einmal Platz«, sagt sie, »der Herr Doktor kommt sofort.« Szczesny murmelt ein paar Worte, genießt den schwungvollen Abgang, verfolgt die Bewegungen ihres Gesäßes. Sie zeichnen sich deutlich auf dem knielangen, weißen Rock ab. Wäre nicht schlecht, die Kleine. Wenn ich nur Zeit hätte … und natürlich eine andere Umgebung. Seine Hose ist ihm jetzt im Schritt zu eng. Er sucht sich eilig einen Stuhl, lenkt sich ab. Er interessiert sich für den Raum, in dem er nun sitzt. Hier sieht es ihm nicht nach einem medizinischen Untersuchungsraum, sondern eher nach dem Empfangszimmer eines Rechtsanwalts aus. Hübsch nach Farben sortierte Fachbücher beherrschen die Regale ab der linken Wand. Ein impressionistischer Druck hängt hinter dem Schreibtisch und zeigt Mohnblumen in einer Sommerwiese. Der Tisch ist aus schwerem Holz, die Arbeitsplatte zumindest aus einem Marmorimitat. Geöffnete Aktenordner und kleine, gelbe Notizblätter liegen in kunstvoller Unordnung auf ihr. Der Chefsessel dahinter hat einen dunkelbraunen, brüchigen Lederbezug. In der Ecke steht ein summender PC, dessen Bildschirmschoner Werbung für ein Kopfschmerzmittel macht. Der Stuhl, auf dem Szczesny Platz genommen hat, wirkt schon weit weniger ehrfurchtgebietend. Und er ist niedrig, unbequem und quietscht, wenn er sich bewegt. Szczesny fühlt sich wie ein Schüler, der wegen eines dummen Streiches auf den Direktor warten muss. Seine Erektion fällt so schnell in sich zusammen, wie sie kam.

    Hier drin ist Rauchen sicherlich verboten. Erstaunlich genug, dass man im Wartezimmer … Wo gibts das heute noch? Die Nichtraucher sind dabei, ihren Feldzug zu gewinnen. Zwei, drei Jahre noch, dann wird es unter Strafe stehen, sich in der Öffentlichkeit eine Kippe anzuzünden. Durch eine unscheinbare, durch ein medizinisches Plakat verdecken Seitentür, die Szczesny bisher nicht bemerkt hat, kommt der Arzt herein. Er trägt ebenfalls die freundliche, aufgeschlossene Maske, die in dieser Praxis wohl morgens an alle verteilt wird. In den Augen hat er diesen »Ich-glaube-an-das-Gute-im-Menschen«-Blick, der Ärzte und Pfaffen so vertrauenerweckend und seriös wirken lässt. Und Psychologen. Die üben das vor dem Spiegel, glaube ich. Szczesny steht unsicher auf. Der Händedruck seines Gegenübers ist selbstverständlich fest und trocken. Der Arzt weiß den komplizierten Namen seines Patienten und spricht ihn fehlerfrei aus, ohne auf den schmalen Aktenordner in seiner linken Hand zu sehen.

    »Nehmen Sie doch bitte wieder Platz, Herr Szczesny. Wie geht es Ihnen heute?« Er geht um den Tisch herum und setzt sich energisch in seinen Sessel, der unter seinem Gewicht einmal ächzt. Tatkraft, denkt Szczesny, lebensbejahend, an den Fortschritt und das Gute im Menschen glaubend. Widerlich. Er nickt nur. Er weiß: Der Arzt bereitet mit dieser Frage etwas vor.

    »Ist denn Ihre Frau heute nicht mitgekommen?« Der Doktor lehnt sich nach vorn, über die Marmorplatte, die sie trennt. Das war zu erwarten; er verschränkt auch seine Arme nicht. Er ist offen, ist für seinen Patienten da. Er spricht ein akzentuiertes, gedehntes Hochdeutsch. So würde Szczesny nur mit Kindern oder Ausländern reden.

    »Nein«, antwortet er, lehnt sich zurück. Am Liebsten hätte er seinen Stuhl, dessen Rückenlehne dabei quietscht, weiter zurückgeschoben. Er nennt keinen Grund, weshalb er allein gekommen ist. Ich verschränke meine Arme, ich halte Abstand. Der Gedanke ist wiedergekehrt. Szczesny erwartet schlimme Nachrichten.

    »Ja, Herr Szczesny, die Probe ist ausgewertet. Ich habe das Ergebnis hier«, sagt der Arzt zögernd und macht eine Kunstpause. »Ja«, wiederholt er, als ihm Szczesny nicht antwortet und nur die Stirn runzelt und auf den Boden starrt, »es ist, wie wir erwartet haben: Ihre Frau, das wissen wir ja von den Untersuchungen, ist organisch völlig gesund: Sie ist in der Lage, ein Kind zu empfangen und auszutragen. Auch psychische Ursachen sind ja doch, so weit abzusehen, auszuschalten.«

    Szczesny wartet ab. Nichts Neues bisher, aber jetzt lässt der Arzt die Katze aus dem Sack. »Ich habe Ihre Probe ins Labor geschickt. Das Ergebnis des Spermiogramms ist jetzt definitiv. Es tut mir aufrichtig leid, Ihnen das sagen zu müssen, aber Sie sind im Augenblick nicht zeugungsfähig …« Jetzt sieht Szczesny auf. »Ja, sehen Sie, Herr … ahm, Szczesny, es ist doch so: Einfach ausgedrückt ist Ihr Sperma verändert, es ist nicht dazu in der Lage, sich zum Ei in der Gebärmutter vorwärts zu bewegen. Im Normalfall sind etwa zwanzig Prozent der Spermien eines Ejakulates unbeweglich oder unreif. Bei Ihnen sind es nahezu alle. Das heißt, Ihre Spermiogenese funktioniert nicht, wie sie sollte. Warum das so ist, lässt sich noch nicht sagen, dazu müssen wir eingehende Untersuchungen machen. Es gibt wahrscheinlich nicht nur eine Ursache, sondern mehrere. Umweltgifte, ja, Allergien spielen da eine Rolle, Spätfolgen von Erkrankungen, auch Hitze, wie in der Sauna zum Beispiel …, äh, in Amerika leidet laut neusten Untersuchungen bereits jeder achte Mann zeitweise an diesem Phänomen. Hier …«

    Der Arzt beginnt nun näher zu erklären. Er nimmt sich Zeit und seine psychologische Aufgabe, die die Diagnose mit sich bringt, ernst. Er zeigt Mikroskopaufnahmen von Szczesnys und von gesundem Sperma, hat Statistiken bei der Hand. Szczesny sitzt wie betäubt. Er hört kaum, versteht wenig und nickt unaufhörlich. Sein Magen schmerzt wieder. Er ist übersäuert. Sodbrennen steigt die Speiseröhre aufwärts. Szczesny erkennt: Er ist schockiert. Nicken, ja, das kann er. Aber sonst? Was ist eigentlich so schlimm an dieser Eröffnung, die er halb erwartet hat? Was ändert sich? Gut, kein Kind dann eben, zumindest nicht jetzt. Das ist doch nicht so schlimm. Also liegt es an mir. Clara hat die erniedrigenden Untersuchungen ganz umsonst gemacht. Hätte ich mich nur früher überreden lassen, zuerst meine Samen untersuchen zu lassen. Warum ist er dann so entsetzt? Was schockiert ihn an den Aufnahmen seiner Spermien mit ihren abgeknickten, verdoppelten Schwänzen und ihren deformierten Köpfen? Sie sehen lächerlich hilflos und schwach aus. Sie sind verkrüppelt. Und sie kommen aus Szczesny, aus seinem Selbst. Etwas versinkt, ein Selbstwertgefühl, eine Entscheidungskraft. Der Arzt redet. Sein Thema sind nun wieder die Ursachen, die er im Augenblick nur mutmaßen könne, da Szczesny organisch gesund sei. Umweltverschmutzung, Hypothyreose, Gifte in den Lebensmitteln, Alkohol, allergische Reaktionen, ungesunde Lebensweise …

    »Sie rauchen, nicht wahr? Aber daran kann es eigentlich nicht liegen.« Atempause, dann jovial: »Das kann jedem passieren. Damit ist Ihr Wunsch nach einem Kind aber nicht unerfüllbar. Es ist sehr wahrscheinlich, dass diese Veränderung an Ihren Spermien eine Vorübergehende ist und wir das in den Griff bekommen. Das könnte allerdings einige Zeit in Anspruch nehmen. Ich empfehle Ihnen dringend weitere Untersuchungen und Testauswertungen. Sie wissen, es gäbe da beispielsweise noch die Möglichkeit eine Samenspende oder ein Kind zu adoptieren, Sie sollten sich das gemeinsam mit Ihrer Frau ernsthaft überlegen …«

    Der Arzt redet weiter, immer weiter. Er öffnet und schließt seinen Mund, stößt Laute aus, die Szczesny nicht versteht. Er nickt weiter. Ich muss wie ein Vollidiot aussehen, denkt er. Aber ich muss das erfassen. Was bedeutet das? Wie geht es weiter mit uns. Mir ist schwindlig, auch mein Atem geht schneller. Der Arzt müsste das doch bemerken. Ich glaube, ich gehe gleich nach Hause. Die dumme Lohnsteuerkarte muss eben warten. Ich werde mich ein wenig hinlegen. Ich muss jetzt nachdenken. Der Arzt steht auf. Was sagt er? Hat er genug von mir?

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