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Morgengrauen
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eBook417 Seiten5 Stunden

Morgengrauen

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Über dieses E-Book

Wenn der Morgen graut, ist das im Leben der Berliner Schriftstellerin Agnes wortwörtlich zu verstehen. Nacht für Nacht kreisen ihre Gedanken um die Stationen ihres bisherigen Lebens: Kindheit, Gymnasium, Psychiatrie, Abitur, Universität. Ein abgebrochenes Studium und ein misslungener Suizidversuch schmücken dabei ihren Lebenslauf. Dann kommt das Angebot eines Verlags. Plötzlich muss Agnes eine druckreife Geschichte zu Papier bringen – und mit ihrer eigenen abschließen: Berlin diskutiert #metoo, während in der Ungleichzeitigkeit zwischen Metropole und Provinz, zwischen Gegenwart und Vergangenheit klar wird, dass die Primitivität nicht nur Prominenten vorbehalten ist …

Nach ihrem philosophischen Debüt Letzte Runde zeigt sich Stefanie Schleemilch in »Morgengrauen« teils melancholisch, teils erfrischend zynisch und vor allem kämpferisch in der Demontage des Status quo der Geschlechterrollen in der süddeutschen Provinz.
SpracheDeutsch
Herausgeberduotincta
Erscheinungsdatum17. Aug. 2019
ISBN9783946086352
Morgengrauen
Autor

Stefanie Schleemilch

Stefanie Schleemilch wurde 1986 in Tettnang am Bodensee geboren. Sie kam 2007 nach Tübingen, um Politikwissenschaft und Philosophie zu studieren und blieb der Stadt am Neckar treu – bis sie nach Berlin zog... Als Autorin widmet sie sich neben den existentiellen Themen des Daseins auch dem Ungewöhnlichen und schreibt Oden an schrottreife Autos oder Essays über Glasbruchversicherungen. Erscheinungen im Verlag duotincta: Letzte Runde (2015) und Morgengrauen (2018).

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    Buchvorschau

    Morgengrauen - Stefanie Schleemilch

    Verlag duotincta

    E-Book

    Stefanie Schleemilch

    MORGENGRAUEN

    Über die Autorin

    Stefanie Schleemilch wurde 1986 am Bodensee geboren und studierte in Tübingen Politikwissenschaft und Philosophie. 2015 wurde ihr erster Roman »Letzte Runde« im Verlag duotincta veröffentlicht. Seither folgten zahlreiche Essays und Kurzgeschichten. Seit 2017 lebt sie in Berlin und arbeitet dort als Texterin und Redakteurin.

    Nichts an dieser Geschichte ist wahr. Außer du glaubst es.

    Die reinste Form des Wahnsinns ist immer wieder das Gleiche zu tun und einen anderen Ausgang zu erwarten.

    Albert Einstein

    PROLOG

    Kotzende Mädchen küsst man nicht

    Kotzende Mädchen küsst man nicht

    Das erste Mal kam ich mit dem Nachtzug nach Berlin. Ich saß im Raucherabteil und trank ein pisswarmes, längst abgestandenes Dosenbier, aber es war das beste meines Lebens, denn ich hatte die Medikamente abgesetzt und hinter der näher kommenden Silhouette der Stadt dämmerte es schon. Ich spürte den Rausch, spürte die Müdigkeit in meinen Knochen, die Angst vor der riesigen Stadt, die mich aus der Ferne schwer beeindruckte. Fremde Menschen würden auf den Straßen sein, es würde eng werden, Körperkontakt geben, Gerüche würden meine Nase reizen, optische Eindrücke mich überfluten. Es gab viel zu befürchten, und ich spürte alles, sog es auf wie ein Schwamm, der Jahre in der Wüste verbracht hatte.

    Alle anderen waren in den Schlafwagen gegangen. Fünfundzwanzig süddeutsche Abiturienten und zwei Studienräte mittleren Alters waren am Bahnhof Meckenbeuren voller verschlafener Vorfreude eingestiegen. Meckenbeuren, dieses oberschwäbische Kaff am Bodensee, das niemand auf der Welt kennt, das auch niemand zu kennen braucht und das hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt wird.

    Die anfängliche Euphorie verflog bereits ab Höhe Würzburg. Man hörte auf, »Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin« zu skandieren. Nur ich war geblieben, um den Tag anbrechen zu sehen, denn ich konnte nicht schlafen. Das war der Nachteil daran, dass ich meine Medikamente abgesetzt hatte.

    Der Zug schien langsamer zu werden, Ansätze von Zivilisation tauchten links und rechts der Gleise auf, der Fernsehturm, der irgendwo ganz nah sein musste, wurde von der Vorstadtarchitektur verschluckt.

    Laut Plan noch eine halbe Stunde bis Mitte.

    »Agnes? Schläfst du?«

    »Nein, bin wach.«

    »Ich soll dir sagen, dass wir bald da sind.«

    Sarah sah entgegen ihrer Natur nicht gut aus. Die kurze Nacht in einem der geradezu lächerlich ungemütlichen Schlafsitze hatte sie schwer mitgenommen.

    »Komme gleich, rauche nur noch schnell fertig.«

    Auf der neuen Schule, es war das fünfte Gymnasium in Folge, waren sie alle sehr nett zu mir. Ich kam in der 12. Klasse einfach so dazu, war zwei Jahre älter als die meisten dort und auf den ersten Blick konnte man erkennen, dass etwas mit mir nicht stimmte. Sarah erklärte sich dennoch dazu bereit, auf der Studienfahrt ein Zimmer mit mir zu teilen. Das kam überraschend, aber den furchtbaren Schulsportmoment, in dem ich verzweifelt darauf hoffte, nicht wieder als Letzte übrig zu bleiben, den hatte sie mir erspart.

    Der Zug ruckelte über Weichen, warf mich etwas aus dem Gleichgewicht. Was gut war, was ich ehrlich genoss, denn seit zwei Jahren hatte mich nichts mehr aus der Bahn geworfen, nicht einmal die scheußliche Trennung im Frühjahr, noch vor dem Sommermärchen.

    »Es ist zu Ihrem Besten,« sagten die Ärzte, »in einer derartigen Situation kommt man nicht um eine medikamentöse Behandlung umhin. Wir sprechen von Jahren, verstehen Sie? Das müssen Sie verstehen, es geht um die Stabilisierung Ihrer Psyche, das geht nicht in ein paar Wochen.«

    Als sie mit mir fertig waren, war meine Emotionskurve flach wie der Norden Deutschlands; es gab weder gute Tage noch schlechte. Ich schlief wieder. Man hatte mich in den Griff bekommen.

    »Gut möglich, dass Sie für immer ein gewisses Pensum an Medikamenten benötigen. Vielleicht auch nur bedarfsweise, das wird sich noch zeigen. Und was wichtig ist, Sie sollten keinen Alkohol trinken. Alkohol und Depressionen vertragen sich leider zu gut, bedingen sich gegenseitig sozusagen. Und Sie müssen vorsichtig sein mit Ihrer Leber. Sie nehmen viele Medikamente, das kann zu ernsthaften, irreparablen Schäden führen.«

    Damit konnte man mir Angst machen. Noch heute fürchte ich nichts mehr als den körperlichen Verfall, und selbst in Zeiten der größten Todessehnsucht hätte ich mir nichts schlimmeres ausmalen können. Meinen 19. und 20. Geburtstag feierte ich mit Selters, und auf Stufenpartys kratzte ich verstohlen das Etikett vom alkoholfreien Bier. Alles im Griff, alles irgendwie tot.

    Doch in meinem Körper war etwas von mir übrig geblieben, das spürte ich deutlich, etwas, das sich sehnte und das hoffte, etwas, das mehr wollte. Und dieses Etwas hatte gegen jeden ärztlichen Rat alle Medikamente auf einmal abgesetzt, saß in einem Zwischenraum des Lebens, aschte in einen viel zu kleinen Aschenbecher für eine viel zu lange Fahrt und erwartete eine Menge von Berlin. Mehr, um genau zu sein.

    Das Bier kämpfte zwar noch mit den Resten des Serotoninwiederaufnahmehemmers in meinem Blut um die Oberhand, aber langsam glimmte der alte Zunder auf, das bisschen Leben, das noch übrig war. Und damit kehrte auch das zurück, wovor mich die Ärzte seit zwei Jahren warnten: die Gedanken.

    Was, wenn es da draußen nichts mehr gibt? Wenn das schon alles gewesen ist? Meine Lunge verkrampfte sich. Was, wenn es nie wieder so wird wie früher? Dann noch ein Krampf. Ich schloss die Augen, versuchte ruhig zu atmen, was nicht half, deshalb konzentrierte ich mich auf das blau-graue Muster der Sitze. Ich sah genau hin und zählte die Rauten, erst Blau, dann Grau, dann wieder Blau. Das half.

    Bald darauf erreichten wir unser Ziel und ich betrat zum ersten Mal Berliner Boden; ich war blau, der Himmel war grau – in den zehn darauf folgenden Jahren sollte das zu so etwas wie eine Tradition werden.

    Die Tage flogen dahin, allerfeinstes Touri-Programm vom Brandenburger Tor bis nach Sanssouci, abends gab es Alkohol und ich vergaß zu essen. Am meisten verwunderte mich die Ruhe, die Abwesenheit des Trubels, der Hektik, des Lärms. In jedem Winkel ein Schinkel, und ich verlor mich plötzlich in Häuserschluchten, statt in meinen Gedanken. Du warst weit weg und die Vergangenheit war es auch.

    Das Schöne am Leben ist doch, dass man am Morgen nie weiß, wie die Nacht enden wird. Und die letzte Nacht in Berlin hätte ich mir nicht einmal im Traum ausmalen können.

    Kotzen ist ein hässliches Wort für eine natürliche Reaktion auf Überfluss.

    Wer kotzt, der will etwas loswerden, was er nicht mehr braucht. Sei es die gerade aufgenommene Nahrung, Gewicht im Allgemeinen oder ein wie auch immer geartetes Gift. Manchmal auch nur die Würde. Aber das Erbrechen an sich ist nicht nur eine nützliche, sondern auch eine äußerst gesellige Sache. Mitgefühl führt dazu, dass wir mitkotzen, wenn einer damit anfängt. Das habe ich mal irgendwo aufgeschnappt. Die Nähe zu einem Menschen lässt uns glauben, dass wir ebenso kotzen sollten, wenn einer sich erbricht, da wir auch etwas verlieren wollen, was wir nicht mehr brauchen. Ich muss nie mitkotzen.

    Deshalb machte ich auch nicht mit, als sich Sarah in unserer letzten gemeinsamen Nacht im 19. Stock eines in die Jahre gekommenen Ostberliner Hotels die Seele aus dem Leib reiherte. Ich hielt ihre langen blonden Haare, für die einem Romantiker die passende Bezeichnung »gülden« in den Sinn gekommen wäre, und beobachtete in aller Ruhe den austretenden Mageninhalt. Vorsichtshalber, denn eine leichte Paranoia ist mir einfach eigen, suchte ich nach hell- bis rostroten Inseln zwischen den Essensresten, denn so stellte ich mir den Hinweis auf die gefährlichen Blutungen vor. Wir hatten zwar eigentlich nur Bier getrunken, aber eben auch diesen Tequila mit Kitty, der Nutte vom Straßenstrich, man kann nie wissen. Während ich noch suchte, fing Sarah unvermittelt an zu lachen. Ein wenig Halbverdautes spritzte weiträumig gegen die vom Kalk matt gewordenen Fliesen. Sie würgte und lachte, ich bekam es mit der Angst zu tun, denn so sind schon Menschen umgekommen, wenn schon nicht innerlich verblutet, so doch beim Kotzen erstickt. Ein üppiger Schwall ergoss sich in die Kloschüssel. Dem Geruch zufolge näherten wir uns bereits der Gallenflüssigkeit. Ich presste meine flache Hand auf ihre Stirn, denn der Widerstand beruhigt die meisten Menschen. Wie erwartet wurde ihre Atmung langsamer. Dann spuckte Sarah einige Male aus, rotzte hinterher, holte tief Luft und setzte zu einem Lachen an, das wohl noch drei Stockwerke tiefer, im Zimmer der Jungs, zu hören gewesen sein dürfte. In dem Zimmer, in dem sie mich eine halbe Stunde zuvor noch küssen wollte. Bis ihr schlecht wurde.

    »Siehst du das, Agnes? Siehst du das?«

    »Was genau meinst du, die Kotze im Klo oder die Kotze an der Wand?«

    »Sieh doch hin! Das Bier, es schäumt rückwärts!«

    Und dann sah ich sie auch, die feinporige Krone, die sich auf dem Magenbrei gebildet hatte.

    »Du hast recht, es schäumt tatsächlich rückwärts, was ich hier noch so alles lerne.«

    So hatten sich das unsere Begleitlehrer sicherlich nicht vorgestellt mit der Studienfahrt, aber Sarah zauberte mir in diesem Moment mit ihrer albernen Stimmung ein Lächeln aufs Gesicht. Und das war verdammt viel wert, das war schon lange nicht mehr passiert.

    Dann bemerkte ich das Malheur auf ihrem Sweatshirt. Soweit ich mich erinnere war es ein graues mit irgendeinem rosa Aufdruck, der durch ihre Spuckerei absolut unleserlich geworden war.

    »Sarah, du solltest vielleicht besser deinen Pulli ausziehen, der sieht nicht mehr so gut aus.«

    »Oh.«

    Sie kicherte wie ein kleines Kind und kämpfte sich halb aus dem linken Ärmel heraus. Ich eilte zu Hilfe, rollte das Sweatshirt behutsam von unten nach oben auf und zog es ihr über den Kopf. Ein bisschen dauerte es, bis ich bemerkte, dass Sarah absolut gar nichts darunter trug, nicht einmal ein Leibchen. So kam es, dass sie in diesem Moment, im Jahre 2006, im 19. Stock des Berliner Ostens, ihre blanken Brüste zugegebenermaßen nur halb freiwillig zur Schau stellte. Aber eben doch zur Schau stellte. Sie waren etwas kleiner als meine, etwas höher angesetzt und haptisch so weich und einladend wie auf den Gemälden barocker Großmeister. Der Anblick faszinierte mich durchaus.

    Als sie bemerkte, was ich bereits bemerkt hatte, hörte sie auf zu lachen. Sie versuchte aufzustehen, strauchelte und fiel in meine Arme. Dabei warf sie mir einen Blick zu, von dem ich noch heute glaube, dass ich ihn selbst unzähligen Männern zuwarf, bevor ich sie flach gelegt habe.

    Ich zögerte nicht und half ihr ins Bett.

    Kaum, dass sie lag, verdrehte sie ihre Augen und hauchte:

    »Küss mich doch endlich. Küss wenigstens meine Möpse.«

    Ich sah sie lange an und sagte letztlich das einzige, was mir in dieser Situation richtig erschien:

    »Kotzende Mädchen küsst man nicht.«

    Dann weinte ich mich vor Freude leise in den Schlaf.

    Was für eine Nacht, leck mich am Arsch: Ich war so gut wie wieder da.

    TEIL 1

    Sternplätze und Leerstellen

    Wenn ich die Momente des Glücks aneinanderreihen könnte, dann würde daraus eine Minute werden, vielleicht sogar mehr.

    Beharrlichkeit

    »Ich höre durch den Äther und warte gespannt darauf, wer heute Nacht noch zu mir findet. Die Karten verraten Ihnen den richtigen Weg.«

    Nach Alkohol, Psychopharmaka und einer Horde von Therapeuten habe ich ein neues Schlafmittel gefunden. Die leise Singsangstimme lullt mich mehr und mehr ein. Im Internet gibt es einen Live-Stream mit garantiert schlaffördernden Sendungen. Wahlweise mit Astrologen, Medien oder den von mir bevorzugten Kartenlegern.

    »Haben auch Sie eine Frage? Wollen Sie wissen, wie es in der Liebe weitergeht? Oder wollen Sie sich bei den Sternen vergewissern , ob Ihr Beruf der richtige ist? Wählen Sie sich jetzt ein und das Universum liefert Ihnen die Antworten, nach denen Sie suchen.«

    Ein Klingelton durchbricht die esoterische Stimmungsmusik.

    »Hallo, Guten Morgen, wer ist denn da?«

    Sie sagen immer Morgen, auch wenn es erst kurz nach Mitternacht ist.

    Und dann folgen die vielfältigsten Problembilder, die allesamt den Vorteil haben, dass sie nicht die meinigen sind. Langsam schließen sich meine Augen und während Ilse noch nicht weiß, ob sie die Beziehung mit Franz vertiefen soll oder doch mit Heinz glücklich wird, schlafe ich fast immer seligst ein.

    Doch jetzt ist es ziemlich genau 04:36 Uhr und 15 Sekunden. Mittwochnacht oder Donnerstagmorgen. Definitionssache.

    Kahle Wände grinsen mich an. Vor 287 Minuten, das entspricht 17.220 Sekunden, du siehst, ich habe genug Zeit, um unnötige Berechnungen im Kopf anzustellen, habe ich den ersten Versuch unternommen zu schlafen. Es wird mir heute Nacht nicht gelingen. Genauso wie es mir morgen Nacht nicht gelingen wird, und schon gar nicht übermorgen. Bleibt nur noch der Mittag, an dem ich hoffentlich ein paar Stunden Schlaf finden werde.

    In meinem Kopf wabern Erinnerungen auf und ab, immer wieder sprudeln einzelne Bilder aus der siedenden Gedankensuppe hervor, werden deutlich, und zerplatzen ohne greifbar zu werden wie Seifenblasen auf meinen Fingerspitzen.

    Die Studienfahrt 2006 liegt lange zurück. Sarah ist Mutter geworden, habe ich über Facebook erfahren. Du hast sie nie kennengelernt, weil du längst aus meinem Leben verschwunden warst, als es noch einmal von vorn begann. Eine verrückte Zeit war das damals, wirklich verrückt. Der Wahnsinn ist weg, die Leere bleibt. Und die Schlaflosigkeit, die mir jede Nacht so viel Zeit zum Nachdenken gibt, dass der Irrsinn irgendwann einen Weg zurück in mein Hirn finden wird. Es ist alles so weit weg, die Erinnerungen verblassen immer mehr. Nur das Schreiben kann sie wach halten. Ich schreibe die Geschichten auf, damit sie nicht in der Belanglosigkeit verschwinden, damit sie nicht von der Gegenwart überschrieben werden.

    »Wer ist mein nächster Anrufer? Trauen Sie sich, das Schicksal liegt in Ihren Händen.«

    Und selbst der mieseste Lebenslauf hält diese nächtlichen Anrufer nicht davon ab, weiter an das Glück zu glauben, an die Liebe, die auf jeden irgendwo da draußen wartet, selbst wenn bereits zwei Scheidungen hinter den Himmelsgläubigen liegen.

    Ein müdes und unsicheres »Hallo?« wird in die Leitung gehaucht, eine Begrüßungsfloskel nach der anderen geschmettert, schließlich geht das hier auf Zeit, und ums Geld, dann endlich die Frage, die ich heute Nacht schon ein Dutzend Mal gehört habe:

    »Wann finde ich die ganz große Liebe?«

    Die Karten werden gemischt, die Sterne befragt, das Glück ist nah, wir können alle aufatmen.

    Und die Glücksgläubigen fragen sich nicht einmal, was die ganz große Liebe von der großen Liebe unterschiedet, oder gar von der kleinen. Dabei ist Liebe niemals klein, nur manchmal zu kurz.

    Korinthenkacker würdest du mich jetzt nennen. Korinthenkacker mit leichtem Alkoholproblem. Und ich würde einwenden, dass ich nicht weiß, was das sein soll, ein leichtes Alkoholproblem. Wie wird so etwas definiert? »Ich habe mein Leben nicht mehr im Griff, trinke zu viel, aber von allem nur ein bisschen?«

    Kann es überhaupt leichte Probleme geben? Geht das? Ist das mit der Theorie von Raum und Zeit vereinbar?

    Spätestens jetzt hörst du nicht mehr zu. Und ich greife zur Flasche, weil niemand mehr mit mir spricht. Langsam wird es existenziell, auf mindestens zwei Ebenen. Ich schlucke den Wein, als würde die Liebe meines Lebens in meinem Mund abspritzen. Ein wenig ekelt es mich an, das saure Zeug, aber für das Glück muss man arbeiten, das fällt anscheinend nicht ohne Zutun wie reifes Obst von den Bäumen. Oder meint das Sprichwort die Blätter? Fällt das Glück nicht wie Blätter von den Bäumen? Geht es am Ende um die Jahreszeiten, die Erdrotation, den Sonnenstand und die unendliche Ausdehnung des Alls? Ich bin verwirrt. Wer hat sich diese Welt ausgedacht und wie soll ich sie verstehen?

    Ich bin ein Besserwisser, Begriffsfanatiker, ein Wortrichtigherumdreher, nicht wahr? Wenn du jetzt hier wärst, du würdest mild lächeln. Und ich wüsste wieder, was Probleme leicht macht.

    Du bist immer stur geblieben. Und habe ich nicht genau das an dir geliebt? Deine hartnäckige Unbeugsamkeit, deine Beharrlichkeit , mit der du dich einer Welt entgegengestellt hast, die dir nicht ins Konzept passte? Du hast nie Ja gesagt, wenn du Nein meintest, nie nachgegeben, weil die Mehrheit dich überstimmt hat. Vielleicht bin ich ein Korinthenkacker, du bist aber mit Sicherheit ein Sturkopf.

    Ich kann dich hören. Der Klang deiner Stimme, mal blechern, mal schrill, keine schöne Stimme, aber angenehm. Nachdem man dir die Mandeln entfernt hatte, wurde sie kopflastig, eine Stimme ohne Brustkorb, eine Stimme, die am Telefon nicht wirkt, in einer voll besetzten Kneipe aber jeden übertönt.

    Deine Stimme höre ich immer noch deutlich, aber an dein Gesicht kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich sehe deine kleine Nase dicht vor mir, deine dunklen Augen mit den dichten Wimpern, den breiten Mund, der nicht gern lächelte, aber oft lachte. Aber ich kann kein ganzes Bild daraus zusammensetzen. Wie lange ist es her, Viktoria? Wirklich schon zehn Jahre? Eine ganze Dekade ohne dich?

    Manchmal hole ich die alten Fotos aus dem Karton unter der Treppe hervor, die Fotos, die fast alle im Sommer 1999 entstanden sind. Ich sehe sie mir genau an, aber mir fehlt jede Verbindung zu dem Abglanz der Wirklichkeit.

    Wo bist du nur hin? Wo sind unsere Träume hin?

    Berlin, wir wollten nach Berlin. Und dann fiel der Mond einfach vom Himmel und zerbrach in tausend kleine Scherben.

    »Wer ist mein nächster Anrufer? Trauen Sie sich!«

    Karten werden mit Sternbildern gemischt, ergeben ein buntes Potpourri vermeintlicher Vorhersehbarkeit.

    »Es sind gerade die Schütze Aszendenten, die momentan unter Blockaden zu leiden haben, diese werden sich aber im Frühjahr wieder lösen …«

    Und ich würde das so gerne glauben, denn dass ich im Aszendenten Schütze bin, weiß ich seit etwa vier Monaten. Noch ein bis zwei Jahre Insomnia und ich habe das ganze System durchschaut. Beharrlichkeit, es braucht nur etwas mehr von deiner Beharrlichkeit.

    Reden ist Silber, Schreiben ist Gold

    Wusstest du, dass Junkies Frühaufsteher sind? Ich wusste es nicht, bis ich hierher gezogen bin. Das schwäbische Dorf erwacht langsam zum Leben. Ich bin in Tübingen, in der winzigen Universitätsstadt am Neckar. Du hättest mich sicherlich woanders vermutet.

    Warum bloß habe ich es immer noch nicht aus Süddeutschland heraus geschafft? Vermutlich wollte ich ohne dich nicht mehr gehen. Ohne dich haben meine Pläne keinen Sinn mehr gemacht, ohne dich war es zu kalt in Berlin.

    Mittlerweile lebe ich in der Südstadt, in der Nähe des Sternplatzes, auf dem sich morgens Menschen mit einer Mischung aus Methadon und Alkohol im Blut treffen; manche sind wohl auch auf Subutex. Anfangs habe ich mich gewundert. Dass hier Drogen konsumiert werden, war mir klar, aber Tübingen ist beileibe keine Stadt, die früh erwacht. Außer der Verkäuferin der Sternenbäckerei und ein paar Schülern, die sich vor dem Morgengrauen mit ihren überdimensionalen Schulranzen auf den Weg zum Bus machen, sieht man vor 9 Uhr keine Menschenseele auf dem sauberen Asphalt. Doch die Mischung aus Alkohol und Opiaten vernichtet ebenso den Schlaf, wie die sich ständig durch die Erinnerungen windenden Gedanken in meinem Kopf meinen Schlaf auffressen.

    Und so treffen wir uns heute wieder auf dem Sternplatz. Während die ersten Sonnenstrahlen durch den Horizont brechen, haben sich die einen als erste Kaufland-Kunden schon Bier besorgt und ich, vergleichsweise nüchtern, bin auf der Suche nach Kaffee. Der frühe Vogel fängt den Wurm, nicht wahr?

    Laule ist auch wieder dabei. In der kleinen Altstadtkneipe, in der ich mal für ein paar Monate ausgeholfen habe, trank er immer Kristallweizen mit Zitrone, das Standardgetränk der Eingeborenen. Und wenn sie nicht Kristallweizen trinken, dann trinken sie Hefeweizen.

    Mein letztes Weizen hatte ich am Bodensee, in den Sommerferien, bevor wir vierzehn wurden. Wir hatten eine Flasche aus dem Keller meiner Eltern gestohlen und heimlich in den Ruinen der Elektroteile GmbH getrunken. Kannst du dich noch an die Elektroteile erinnern? Nichts als ein paar übrig gebliebene Wände und Dachgerippe. Die einzige Industrieruine Südbadens, ein Schandfleck der Vergangenheit mitten im Neubaugebiet. Ich habe mit der alten Pentax meines Vaters Bilder von dir gemacht, die Bilder, die heute noch unter meiner Treppe liegen. Herrliche Bilder, deren Farben durch das hochsommerliche Südlicht intensiver waren als die Wirklichkeit selbst. Die blassgrünen Wände mit den gelben Schlieren und deine dunkelblauen Jeans, deine langen, kupferfarbenen Arme und das kurze, ausgeblichene Haar. Als ich eine Woche später die Bilder vom Entwickeln abholte, war ich überrascht, wie verdammt gut sie waren.

    Fertige Filme drehte ich immer vorsichtig mit der kleinen Kurbel zurück. Mit dem linken, dem besseren Ohr wartete ich auf das kaum wahrnehmbare Geräusch, das entsteht, wenn der Film aus der Führungsrolle gleitet. An diesem Tag habe ich es beinahe perfekt geschafft. Nur drei Zentimeter standen noch aus der Hülle heraus, maximal ein Bild ging verloren.

    »Warum spulst du den Film nicht komplett zurück, dann verlierst du gar keine Bilder mehr.«

    »Damit sie im Fotolabor die Rolle nicht aufbrechen müssen.«

    Insgeheim träumte ich von der Arbeit in diesen Laboren. Für mich war es der schönste Job der Welt, den ganzen Tag belichtete Filme in sichtbare Fotografien zu verwandeln. Du hattest andere Pläne für mich. In deinen Augen war ich zu Größerem bestimmt. Also habe ich mich nie getraut, dir von meinen Plänen zu erzählen. So wie ich mich nicht getraut habe, dir zu sagen, dass ich noch nie Bier getrunken hatte. Ich wollte solides Mittelmaß sein. Du hast eine Schreiberin in mir gesehen. Wie ein Schwamm jedes meiner Gedichte aufgesaugt, meine Geschichten verschlungen, als könnte nur ich dir eine Stimme geben.

    Dann hast du die Flasche mit einem Feuerzeug aufgemacht. Ich habe den Bodensatz erwischt und mich beinahe in den Elektroschrott übergeben.

    Wir waren vielleicht nicht hübsch, nicht besonders, aber so lange wir zusammen waren, liefen wir außer Konkurrenz. Unterm Strich, mein erstes und mein letztes Weizen.

    Die Geschichte habe ich Laule damals erzählt, als er zum ersten Mal bei mir bestellt hat.

    »Mensch Mädle, a Woize ohne Glas, des goht doch it.«

    Recht hatte er meistens, nur verstanden habe ich ihn nicht immer. Das wurde aber erst ein Problem, als er eines Tages, etwas angetrunken, aber nicht unangenehm, einen dringlichen Musikwunsch äußerte.

    »Spiel amol, a wie heißt des widder, irgendepps wie george, gina & lucy.«

    Es dauerte eine geschlagene Stunde, bis wir nach unzähligen YouTube-Videos, Vorschlägen unter den Videos, Google Suchergebnissen und den lediglich mäßig hilfreichen Einwürfe anderer Kneipengäste den wirklichen Namen des singenden Geschwistertrios herausfanden: Kitty, Daisy & Lewis.

    »Hör uffn Text, Agnes, hör bitte uffn Text. Des isch der Hammer, ehrlich.«

    Er sah so glücklich aus, wie er da im schlecht besuchten Lokal auf und ab hüpfte. Also hörte ich auf den Text von Going up the Country:

    »I’m going where the water tastes like wine /

    We can jump in the water, stay drunk all the time.«

    »Ja, Laule, das gefällt dir, schon klar. Dabei magst du doch gar keinen Wein.«

    »Un du mogsch koi Woize, deshalb machts doch andere Leut it weniger Freud.«

    Vielleicht war es das »it«, die sparsame, schwäbische Variante von »nicht«, das im badischen Dialekt meines Vaters oft ein »itte« war, eine Reminiszenz an bessere Tage, die meine Sympathie für Laule begründete. Echte Schwaben sind schwer zu finden in Tübingen. Das verhält sich reziprok zu den Berlinern im Prenzlauer Berg.

    Der Zwischenfall mit den Hefebrocken, die sich kurz vor der Jahrtausendwende den Weg in die Freiheit durch meine Nase bahnten, weckte in mir ein Verständnis für Flaschenbier, das meines Wissens nach in Tübinger Altstadtkneipen bis heute unerreicht ist. Wohl deshalb konnte ich Laule mit meinen Schankkünsten schwer beeindrucken. Zumindest wurde er nie müde zu betonen, dass meine Schaumkronen die schönsten der ganzen Stadt seien.

    Jetzt grüßen wir uns nicht mehr, sind wieder Fremde geworden. Meiden den Blickkontakt, weil er das Eingeständnis wäre, dass es einmal ein Früher gab, und dass das Früher besser gewesen ist.

    Und in stiller Übereinstimmung werden wir beide nicht mehr auf der Straße sein, wenn die bürgerliche Geschäftigkeit beginnt. Wir werden uns aus dem Bild nehmen, damit nichts die Spießbürgerlichkeit stört. Laule wird mit den anderen weiter in die Stadt ziehen, mit einem klimpernden Pappbecher für den nächsten Schuss betteln und, wenn das Geld nicht reicht, zu einem der Ärzte gehen, die Methadon und saubere Spritzen im Schrank haben. Ich werde einen Kaffee auf einer Parkbank trinken und etliche Zigaretten rauchen, bis es zu kalt wird, um stillzusitzen.

    Wie sind wir eigentlich hierher gekommen? Wir passen hier doch gar nicht hin.

    Gemeinsam und einsam, zwei Worte, die so viel und doch gar nichts miteinander zu tun haben. Wo haben sie wohl ihren etymologischen Ursprung? Wo kommen sie her? Und ja, es spielt absolut keine Rolle, es ist so was von egal.

    Ich habe nichts mehr zu tun, deshalb mache ich mir Gedanken über Dinge, die absolut unerheblich sind. Ich bin wahllos geworden. Und ziellos. Deshalb bin ich auch aus dem Haus gegangen. Ziellos, völlig ziellos. Seit ich beschlossen habe, mein Studium abzubrechen, hat vieles seinen Sinn verloren. Wege als erstes, dann folgten Tageszeitungen und Haarbürsten. Ich befinde mich in einem angenehmen Schwebezustand zwischen absoluter Freiheit und freiem Fall ins Nichts.

    Wenn das meine Ärzte wüssten, sie würden mich direkt wieder einweisen. Schleichende Verwahrlosung und kreisende Gedanken, die Vorstufe der Suizidalität. Ich werde wieder zur Gefahr für mich selbst, ich kann es an meinem Achselschweiß und meinem Mundgeruch riechen.

    Aber ich wollte auf etwas ganz anderes hinaus, nämlich auf die Einsamkeit, die sich nur durch Gemeinsamkeit einstellt.

    Kann man einsam sein, wenn man noch nie eine Menschenseele getroffen hat? Wenn man nicht mit Konventionen und Interaktionen mit anderen Menschen aufgewachsen ist? Mir wird meine Einsamkeit immer dann bewusst, wenn mir die Beziehung zur Außenwelt fehlt, wenn mir durch die Anwesenheit anderer klar gemacht wird, dass ich kein adäquater Teil dieser Welt bin. Ein aussätziger Versager, der nachts keinen Schlaf findet. Und während ich das hier aufschreibe, während ich es für dich aufschreibe, meine beste Freundin, meine Seelenverwandte, die seit zehn Jahren aus meinem Leben verschwunden ist, wird mir erst klar, wie beschissen es mir ohne dich geht.

    Dabei sollte es mir nicht schlecht gehen, ich sollte glücklich sein und frei.

    Ich habe einen Anruf bekommen, vielleicht den wichtigsten Anruf meines ganzen Lebens. Wichtiger als die Zusage vom Gymnasium in Meersburg, wichtiger als der erste Anruf von Chris – erinnerst du dich noch an Christian? Falls nicht, bemüh deine Erinnerung nicht, es lohnt kaum. Aber sein Anruf war wichtig, damals, verdammt wichtig, so wichtig wie der Anruf vom Gesundheitsamt, dass der Test negativ ist.

    Und du bist nicht mehr da, um ihn mit mir zu teilen, diesen Meilenstein meiner unbedeutenden Lebensgeschichte.

    Deshalb schreibe ich wohl, deshalb schreibe ich dir, statt mich von der Kartenlegerin-Schrägstrich-Astrologin-mit-Halbwissen einschläfern zu lassen.

    Ich will zum Telefon greifen, deine Nummer wählen, möchte, dass du abhebst, verwundert bist, dass ich mich nach so langer Zeit wieder melde, und dass du dich mit mir freust.

    Was hält mich zurück? Ich weiß es eigentlich gar nicht mehr.

    Wenn irgendwo ein Traum wahr wird, stirbt woanders ein Telefon

    Wenn irgendwo ein Traum wahr wird, stirbt woanders ein Telefon

    Fängt nicht jede Scheiße im Leben mit einem Anruf an, oder mit einer SMS, zumindest mit einer Facebook-Nachricht?

    Die öde Beständigkeit meines perfekt eingerichteten Lebens wurde jedenfalls jäh von einem Anruf unterbrochen. Das ist etwa drei Tage her und mein eigentliches Problem. Ein Anruf aus der echten Welt, einer, an dem ich teilnehmen musste, keiner mit fadenscheinigen Sternbildern und kreuzenden Umlaufbahnen im Live-Stream.

    »Wir haben Kotzende Mädchen gelesen und wollen mehr. Also mehr, mehr von dir, mehr von der Geschichte. Und erst der Titel, großartig! Wir wollen daraus ein ganzes Buch machen, mit Cover und Klappentext, allem drum und dran. Zusätzlich gibt es eine billige Wohnung in Berlin. Quasi eine Schreibresidenz. Was sagst du?«

    Anrufe sind mit Abstand die schlimmste Form der Kontaktaufnahme. Das Display leuchtet auf, zeigt eine Nummer an und signalisiert deutlich: Tu was! Anrufe zwingen dich zu einer unvorbereiteten Reaktion, zu spontanen Willensäußerungen und unmittelbaren Handlungen. Mit beidem habe ich so meine Proleme.

    Dummerweise gehöre ich aber zu jener Sorte Mensch, die eine fremde Nummer blockieren, nur um sich ein paar Monate später zu fragen: Warum eigentlich? Vielleicht sollte ich

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