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Archie's Room: Roman
Archie's Room: Roman
Archie's Room: Roman
eBook474 Seiten6 Stunden

Archie's Room: Roman

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Über dieses E-Book

Bob Morgan möchte an der Costa Brava seine Dissertation über den europäischen Luchs (Lynx lynx) abschließen. Gleich lernt er eine jüngere Frau kennen. Sie gefällt ihm gut, doch leider benimmt sich Rosies Stiefsohn Archie äußerst feindselig. Denn seine Stiefmutter, die gleichzeitig sein Vormund ist, verwendet das zur Ausbildung bestimmte Geld mißbräuchlich für sich selbst. Seit langem plant sie, den Jungen in ein kostenloses, aber weltfremdes und weit entferntes Internat abzuschieben. Archie befürchtet, ihre neue Liaison mit Bob werde sein Schicksal besiegeln. Eines Sonntags bei ruhiger See treibt Rosie nahe am Strand tot im Wasser.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum12. Aug. 2015
ISBN9783739257174
Archie's Room: Roman
Autor

Harald V. Bergander

Harald V. Bergander, 1944 Breslau, erlebte eine für die abenteuerliche Nachkriegszeit typische Kindheit und Jugend in Niedersachsen und Baden-Württemberg. Lehre im Buchhandel. Lebte und arbeitete in Hannover, München, Wien, Lausanne, Madrid, ab 1973 als Übersetzer (Spanisch, Französisch) in Las Palmas de G. C. und Ibiza. Seit 1990 in Salzburg und Katalonien ansässig. Gerüstet mit intimer Kenntnis der Weltliteratur und klassischen Moderne, schreibt der Autor Romane mit dem roten Faden der Identitätssuche junger Menschen in der europäischen Nachkriegsordnung. Liebt seine Frau, trinkt Rotwein, raucht Pfeife, spielt Schach und spricht vorzugsweise mit herrlichen Geschöpfen wie Pferden und Katzen.

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    Buchvorschau

    Archie's Room - Harald V. Bergander

    XIV

    I

    Ohne einen Schluck Kaffee gleich nach dem Aufstehen war er nur ein halber Mensch. Er wußte nicht, ob er schon Herr seiner Füße war, ob sie nicht einfach den anderen nachtappten und stehenblieben, wenn die es taten. Der hundekalte Morgen, die halb durchwachte Nacht – im Grunde war es diese Reminiszenz nicht wert, der er sich da hingab. Damals war es seine erste Reise mit Jane gewesen, und Jane…

    „Würden Sie bitte die Tasche öffnen, Sir!"

    Verblüfft betrachtete er den Beamten. Niemand hier hatte ihn je mit Sir angesprochen. Mechanisch öffnete er den Reißverschluß seiner braunen Reisetasche, sah zu, wie behaarte Finger in der Wäsche wühlten und ein Kreidezeichen auf das Leder schnörkelten. Dunkle Augen gaben zu verstehen, er dürfe passieren.

    Bob nahm die Tasche auf und den Koffer und marschierte durch die Zollhalle. Nach einem Blick in die leere Bar, wo ein uralter Kellner mit hochgekrempelten Hemdsärmeln das Geschirr vom Vortag spülte, steuerte er auf den Fahrkartenschalter zu.

    „Sagen Sie, hat Rafael Dienst?"

    Der Mann sah ihn kurz an. „Welcher Rafael?"

    Bob überlegte. „Wie er weiter heißt, weiß ich nicht. Ich glaube, er ist für Auskünfte zuständig. Auf dem Bahnsteig."

    „Ach, Rafi! Der ist seit einem Jahr in Pension."

    „Oh. Bob fuhr sich über das unrasierte Gesicht. Ausgeschlafen war er nicht. Vielleicht hätte er ein Bettabteil nehmen sollen statt des Liegewagens. „Wissen Sie, wo er wohnt? Ich hab’s vergessen.

    Der Beamte hob die Augenbrauen. „Er lebt nicht mehr hier. Der Chef wird die Anschrift haben. Grinsend setzte er hinzu: „Kommt erst um zehn. Oder Sie fragen den Kellner in der Bar.

    Bob wandte sich wortlos ab. Also war Rafael viel älter gewesen, als er angenommen hatte. Damals waren sie spätabends angekommen, Jane und er. Anschluß nach Barcelona hatte es keinen mehr gegeben und sie hatten kein Hotelzimmer finden können. Es war nicht ihre Hochzeitsreise gewesen, also hätte man mit harten Bahnhofsbänken vorlieb nehmen können. Er wäre damit zurechtgekommen. Die kapriziöse Jane kaum. Da hatte Rafael ihnen sein Schlafzimmer angeboten, in einer winzigen Dienstwohnung. Er konnte sich erinnern, mit Jane im Getöse rangierender Diesellokomotiven die halbe Nacht gestritten zu haben. Eigentlich hatten sie gar kein Bett gebraucht.

    Übermüdete Gestalten schlurften aus der Zollhalle. Die Bar bot einen trostlosen Anblick, doch war sie halbwegs warm. Er nippte am dünnen Kaffee. Die dickwandige Porzellantasse roch nach Abwaschmittel. Ärgerlich steckte er sich eine Zigarette an. Schurken! Alle anderen Bars in diesem Nest an der Grenze schliefen noch, das nutzten sie aus. Jane war auf mangelhaft gespültes Geschirr allergisch gewesen. Bon Dieu! Mit Jane hätte er die weite Reise quer durch Frankreich per Bahn nicht machen sollen. Kein Wunder, daß der gemeinsame Lebensweg entsprechend kurz ausgefallen war. Bekräftigend nickte er.

    Junge Leute schlenderten herum, deren Rucksäcke an den Tischen lehnten wie hungrige Ungeheuer. Er zu seiner Zeit – so hätte er nicht in fremde Länder fahren mögen, mit Kochgeschirr und einem kompletten Gasherd auf dem Buckel. Damals waren auch die billigen Bars einwandfrei gewesen, gemessen an der dünnen Brühe hier in der Kaffeetasse. Der Alte hinter der Theke starrte ihn an, als spürte er den Tadel.

    Bob stand auf. „Noch einen. Bitte mit mehr Milch. Während er die Tasse hingeknallt bekam, sagte er: „Wo kann ich Rafael finden? Den Aufsichtsbeamten vom Bahnsteig.

    „Der is’ weg von hier."

    „Ja, schon gehört. Könnten Sie die Adresse rausfinden?"

    Das zerfurchte Gesicht mit dem riesigen Leberfleck über dem Jochbein blieb reglos. „Können Sie das nich’ selbst?"

    „Ich als Ausländer? Er zahlte mit einem Tausender. „Stimmt so. Falls Sie es nicht rauskriegen, egal. Schreiben Sie mir ihre Telefonnummer auf. Ich rufe Sie gelegentlich an. Er schob ihm sein kleines schwarzledernes Notizbuch aufgeklappt hin.

    Der Alte gehorchte stumm und wandte sich nach einem langen Blick auf den morgendlichen Bittsteller wieder der Arbeit zu.

    Was trieb ihn zu solchem Eifer wegen eines Menschen, den er ein einziges Mal gesehen hatte? Die ewige Gründlichkeit? Oder die Neugier, einen x-beliebigen Zeugen mit Lebenserfahrung zu fragen, was er von Jane gehalten hatte? Pah, wie kokett! Was hatte er von Jane gehalten? Was hielt er jetzt von sich selbst?

    Verdrossen stapfte er durch die Unterführung. Ein schadhaftes Rohr hatte große Teile überschwemmt. Der Abfluß war offenbar verstopft. Es zwang ihn zu Storchenschritten.

    Im Regionalzug fühlte er sich auf dem schmalen roten Sitz mit steifen Armstützen wie in einem Zahnarztstuhl eingezwängt. Der Platz schien für reisende Zwerge berechnet. Ein gräßlicher Morgen.

    Endlich begann die Fahrt. Zwischen den Pyrenäentunneln erblickte er das spiegelglatte leuchtende Meer. Soeben ging die Sonne auf. Das besänftigte ihn. Die Augen schließend, richtete er das Gesicht in die wärmenden Strahlen.

    Damals waren sie am achten Dezember, doch zu späterer Stunde von der Sonne geweckt worden. Ein Gedenktag. Jane hatte in der Morgenröte, mit gekreuzten Beinen sitzend, Buddhas Erleuchtung Reverenz erwiesen. Metaphysische Gedanken so früh am Tag ließ er nur widerwillig zu. Merkwürdigerweise hatte er an den Tod denken müssen. Jane in ihren teuren Klamotten und schweren Parfüms… Eine ewig Lebende. Es hatte komisch angemutet, wie sie kerzengerade im Bett saß, in den eisenfarbenen Himmel starrte und sich die Nase an der Fensterscheibe förmlich plattdrückte, um Buddhas Morgenröte nicht zu versäumen. So etwas roch nach Flucht. Aus der Leere eines hektischen Daseins in abgehobene Sphären. Flucht vor einem realen Gegenüber. Er konnte jetzt freimütig zugeben, daß Jane auf der Flucht vor ihm gewesen war, dem Darwinisten, für den große Geister, rein biologisch betrachtet, sich in nichts von anderen Menschen unterschieden. Wie auch beschaffen, stellten sie ein unscheinbares Glied in der Entwicklungsreihe der höheren Wirbeltiere dar.

    Figueras. Er zerrte sein Gepäck durch den engen Mittelgang. Beim Aussteigen meldete sich mit leichtem Schmerz die Hüfte. Passierte in letzter Zeit häufiger. Die Götter drängten ihn, sich über das Alter Gedanken zu machen. Er hatte nicht den Wunsch, alt zu werden, und im übrigen nie geglaubt, mit seiner Kriegskindkonstitution ein mäßiges Alter überschreiten zu können.

    Auf dem Bahnhofsplatz schaute er sich um. Die paar Leute, die mit ihm ausgestiegen waren, verliefen sich rasch. Emilia war natürlich nicht gekommen. Ihre Versprechen waren wie Spinnweben im heftigen Wind des Tramontana – gewoben und im Nu zerstoben.

    Er schlenderte hinüber zur Busstation. Der erste Bus ging um neun. Wahrscheinlich hatte Emilia verschlafen. Also würde sie sich vor zehn oder elf kaum erheben. Zurück im Bahnhof, sperrte er das Gepäck in ein Schließfach. Vor allem brauchte er jetzt ein ordentliches Frühstück.

    Nein, er wandelte nicht auf den zuwachsenden Pfaden gemeinsamen Lebens mit Jane! Aber warum nicht die Cafetería im Jugendstil an der Rambla aufsuchen? Zügig marschierte er los und fand sie gleich. Wie damals standen die Stühle einladend in der Sonne. Von wegen frühere Pfade! Im Gegenteil, sein wohlbedachter Versuch, der Heimat den Rücken zu kehren, stellte einen Bruch mit der Vergangenheit dar.

    Die Spiegeleier bekam er so, wie er sie gern hatte, halbflüssig. Er kicherte vor sich hin, während er mit der Serviette den Mund abtupfte. Hier hatte Jane sich an einer vorstehenden Niete des Aluminiumstuhls das Kleid zerrissen, genauer formuliert, seitlich von der Hüfte abwärts aufgeschlitzt. Es hatte der durch und durch sittsamen jungen Dame aus Folkestone für kurze Zeit jene weibliche Anstößigkeit verliehen, für die er ungemein empfänglich war.

    Mit dem Rückweg verschätzte er sich. Der Bus fuhr ihm vor der Nase davon. Eine weitere Stunde Warten wurde fällig, die er unter den Platanen zwischen Bahnhof und Busstation absaß. Zwei halbwüchsige Schlingel schlichen auffällig herum, so daß er Koffer und Tasche direkt vor sich stellte und die Beine darüber legte.

    Im Bus kam ihm der Verdacht, Umwege eingeschlagen zu haben. Ein Blick auf die Karte bestätigte es. Er war mit der Bahn zwei Stationen zu weit gefahren. Vielleicht hatte Emilia angenommen, der Zug halte sowieso nicht in ihrem kleinen Ort. Und in Rosas mußte er hören, nach Prats gebe es keinen Bus.

    Waren sie damals in Rosas gewesen, Jane und er? Die Erinnerungen verschwammen. Die alte Stadtmauer schien ihm unbekannt. Janes Interesse hatte römischer Kunst gegolten, Mosaiken irgendwo am Meer, Museen in der Provinzhauptstadt. Am Rückgrat katalanischer Baukunst, den herrlichen romanischen Kathedralen und Klöstern, war sie achtlos vorübergegangen.

    Auf der Suche nach einem Telefon trat er in den erstbesten Laden. „Verzeihen Sie, kann man nach Prats ein Taxi bekommen?"

    Eine weißbeschürzte, beleibte Frau spähte über Glasaufbauten, unter denen Gebäck lag. „Nach Prats –? Also, gegen Mittag hätten Sie einen Bus."

    „Es fährt keiner", knurrte Bob.

    „Doch, der Schulbus. Eine Dunkelblonde mit randvoll gepackter Strohtasche über der Schulter betrachtete ihn belustigt. In ihren Fingern klingelten Autoschlüssel. „Das dauert noch. Sie können mit mir fahren, wenn Sie mögen.

    Etwas dümmlich stotterte Bob: „Sie haben den gleichen Weg?"

    Sie lächelte. „Wo wollen Sie hin, in Prats?"

    Er schluckte. Ohne Emilia, deren Anschrift er nur unter postlagernd kannte, war er aufgeschmissen. „Ich weiß nicht. Meine Cousine hatte mich in Figueras vom Zug abholen wollen. Und hierher habe ich mich irgendwie verirrt."

    Seine Helferin lachte. „Kommen Sie! Wir werden es bestimmt finden."

    Wieder nahm er sein Gepäck auf, das immer schwerer wurde. Sie schritt voran, ohne sich umzudrehen, über die Straße zur Strandpromenade. Dort schloß sie einen Wagen auf, der in Farbe und Form an einen großen Marienkäfer erinnerte.

    „Stellen Sie das Gepäck auf den Rücksitz. Im Kofferraum müßte ich erst Ordnung schaffen."

    Ihm war unbehaglich. Gern ließ er sich von Frauen nicht chauffieren. Gewiß, Janes Weigerung, den Führerschein zu erwerben, hatte gelegentlich viel Zeit gekostet, und ihre Manie, sich die Beifahrertür von ihm öffnen und schließen zu lassen, entsprach der umständlichen Galanterie vergangener Zeiten. Abgesehen davon war es ihm ganz recht gewesen, das Steuer in der Hand zu behalten.

    Zügig fuhren sie den Bergen entgegen. Wiesen in saftigem Grün flogen vorbei und Weinberge, wo Frauen, unkenntlich unter breitkrempigen Strohhüten, gebückt arbeiteten.

    „Bitte, wie heißt Ihre Cousine?" Sie fischte Zigaretten aus der Handtasche, zündete eine an und hielt ihm die Packung hin.

    „Danke. Bob schüttelte den Kopf. „Emilia. Emilia Bisbal. Das Haus muß am Dorfrand liegen. Zwischen zwei Hügeln.

    Überlegend sog sie den Rauch ein. „Fragen wir meine Freundin. Sie lebt schon länger in Prats."

    Charakter hat das Dorf nicht, war sein erster Eindruck. Doch der Blick auf die Pyrenäen tat dem Auge wohl. Die lavendelfarbenen Kuppen erinnerten an die Berge Schottlands, obzwar er selten ein so ungewöhnlich tiefes Blau über ihnen gesehen hatte.

    In einer schmalen, abschüssigen Straße hielt seine Fahrerin, zog die Handbremse an und stieg aus. Sich zurücklehnend, kurbelte er das Fenster herunter. Orangenblütenduft. Über einer Mauer hingen Äste, an denen noch Früchte baumelten. Blüte und Frucht nebeneinander, das dünkte ihm perfekt wie Mutter und Kind. Er musterte die Gebäude. Verlassen und verfallen. Hoffentlich besaß Emilia nicht so einen Schuppen. Ihre Schilderungen entbehrten gelegentlich der Realität. Mißmutig rückte er sich zurecht.

    Die Dunkelblonde kam mit einer Hennafarbenen zurück, die ohne zu grüßen fragte: „Haben Sie außer dem Namen keinen Anhaltspunkt?"

    „Nein. Bob sah sich tagelang im Hotel nächtigen, bis Emilia und er es schaffen würden, Kontakt aufzunehmen. Er mußte lächeln, da die beiden Frauen sich auf Englisch berieten, und schaltete auf seine Muttersprache um. „Ich bin Robert. Tut mir leid, daß ich Ihnen Umstände mache.

    Die Dunkelblonde lächelte gewinnend zurück. „Machen Sie gar nicht. Ich bin Rosemarie."

    „Lucy." Die Stimme ihrer Freundin klang reserviert.

    Etwas ratlos meinte er: „Vielleicht sollte ich auf der Bürgermeisterei fragen!? Das Haus gehört schließlich meiner Cousine."

    „Hat sie es schon lange?" fragte Lucy.

    „Ich glaube nicht. Er überlegte. „Sie ist selten hier.

    „Dann nützt es wenig, die Gemeinde zu löchern. Dauert oft Jahre, bis die alten Besitztitel geändert werden. Gehen wir zu Escandell. Der wird es schon wissen… Wir können zu Fuß gehen", setzte sie auffordernd hinzu.

    Zögernd hob Bob die Tasche vom Rücksitz.

    „Lassen Sie das Gepäck ruhig da, sagte Rosemarie. „Hier stiehlt niemand.

    „Die Tasche habe ich immer bei mir."

    „Geld gehört auf die Bank", riet Lucy spöttisch.

    Schweigend folgte er den Frauen. Escandell erwies sich als Bezeichnung für eine große Bar im Ortszentrum mit zwei leeren Tischreihen auf dem Trottoir. Im Hineingehen schlug Bob der metallene Fliegenvorhang um die Ohren. Auch der Innenraum, groß wie ein Saal für Tanzturniere, war leer. Bob schien es, das Dorf sei spärlich bewohnt oder wollte, menschlich gesehen, mit ihm nichts zu schaffen haben. In der Küche zischte Fett auf. Lucy klatschte laut in die Hände und rief Unverständliches. Ein großer, kräftiger Mann verdunkelte den Durchgang zur Küche. Er wischte sich die Hände in der Schürze ab.

    „Morgen, Juan. Kennst du eine Emilia, die hier irgendwo ein Haus besitzt und selten drin wohnt?"

    Der Wirt taxierte Bob, dessen Kleidung, die Tasche. „Morgen allerseits! Kommen Sie von der Versicherung?"

    Bob fühlte sich immer unbehaglicher. „Hören Sie! Die Dame ist meine Cousine. Ich werde in den nächsten Monaten ihr Haus bewohnen. Sie wollte mich in Figueras abholen. Wir müssen uns verfehlt haben." Bei jedem Wiedersehen mit der iberischen Halbinsel war er über sein nahezu akzentfreies Spanisch froh.

    Escandell schaute ihn versonnen an. „Emilia ist abgereist. Sie hat mir vorgestern die Schlüssel für einen Herrn aus London dagelassen. Dürfte ich um Ihren Namen bitten?"

    „Robert Morgan."

    Der Wirt langte unter die Theke und schob ihm einen Umschlag zu. „Ich bin Juan. Herzlich willkommen! Was möchten Sie trinken?"

    „Oh, vielen Dank!" Er konnte sich keinen Reim darauf machen, warum Emilia ihn nicht persönlich verständigt hatte. Vor drei Tagen hätte sie ihn noch in Paris erreichen können.

    „Vielleicht Kaffee? regte der Wirt an. „Oder Orangensaft? Den hätte ich frisch gepreßt.

    Bob begriff, daß er nicht ablehnen konnte. Vermutlich war Escandell mit seiner Bar der einzige weit und breit. „Ein Glas Orangensaft. Gern."

    „Und die Damen?"

    Rosemarie bestellte gleichfalls Orangensaft, Lucy einen Brandy. Es schauderte Bob. Eine Frau, die am jungen Morgen zu Hochprozentigem griff. Der Wirt hatte ihr das Glas kaum hingeschoben, da schüttete sie die Ladung mit perfektem Schwung in die Kehle. „Noch einen, Juan."

    Gleichmütig schenkte er nach.

    Lucy kippte die Hälfte in Bobs Orangenjuice und hob ihr Glas. „Cheers, Landsmann! Auf deine schwermütigen Augen."

    Mechanisch prostete Bob ihr zu. Eine Woge fatalistischer Gelassenheit breitete sich in ihm aus, wie immer, wenn er ein südliches Land betrat. Diese Lucy mußte man nicht unbedingt bereits zum Frühstück treffen. Sah halbseiden aus. Zerknitterter Rock, der knapp unter dem Po aufhörte. Schuhe mit Stöckeln wie Eispickel. Sie erinnerte ihn stark an ein Mädchen aus Glasgow. Der erste Seitensprung in seiner Ehe. Der Teufel mochte wissen, wie Jane dahintergekommen war. Rosemarie gefiel ihm. Eine biedere Deutsche in kanariengelben Hosen mit grünen Blumen drauf. Allerdings schminkte sie sich ein bißchen grell.

    Rosemarie ließ sich von Juan den Weg zum Anwesen beschreiben. „Sollten wir nicht hinauffahren? fragte sie höflich. „Sie werden nach einer Nacht in der Eisenbahn müde sein.

    „Eigentlich nicht." Plötzlich erahnte Bob die nach ihm greifende Einsamkeit. Ein leeres Haus in einem winzigen Dorf. Keine Menschenseele, die er kannte.

    Lucy schien seine Überlegungen zu erraten. „Landsmann, deine Cousine hat sich den richtigen Platz ausgesucht. Rosas ist im Sommer herrlich betriebsam, Figueras auch im Winter, und das Dorf hier ist der passende Ruhepunkt. Wird dir gefallen."

    Sie starrte ihn so unverhohlen neugierig an – er kannte diesen Typ Frau, krampfhaft bestrebt, monotone Tage mit einem besonderen Erlebnis festzunageln. Unbewußt fuhr er mit der Zunge über die ausgedörrten Lippen.

    „Also? fragte Rosemarie. „Fahren wir?

    „Gern." Er kam sich trottelig vor mit der Aktentasche, dem Schlüsselkuvert in der Faust und dem altmodisch taillierten Regenmantel, zumal das Ding ständig raschelte. Vielleicht hätte er sich einen Anorak mit Kapuze kaufen sollen, wie er ihn in seiner Studentenzeit getragen hatte. Jane hatte ihn später eliminiert. Nicht schicklich. Was nach ihrem manchmal etwas gestelzten Wortschatz bedeutete, nicht standesgemäß. Jane, Lehrerin an einer höheren Mädchenschule mit ihrem bewundernswert männlichen Intellekt. „Was bin ich schuldig?"

    Escandell hob abwehrend die Arme. „Ist mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen." Überlegend betrachtete er Lucys Glas.

    Bob erwog, trotz der Einladung einen Schein auf die Theke zu legen. Dann dachte er, es sehe kleinlich aus, er würde es bald auf andere Weise ausgleichen können.

    Notgedrungen quetschte er sich wieder auf den Rücksitz, saß mit schräg gestellten Beinen und sah die Häuser des Ortes vorbeiziehen. Villenähnliches war nicht darunter. Die beiden Frauen berieten über die Richtung und bogen in einen steinigen Weg ab, der in die Berge führte. Ihm kam vor, sie seien längst in der Wildnis, da gab die nächste Biegung den Blick auf Emilias Anwesen frei, ein zweistökkiges Haus, in einem Hügeleinschnitt gelegen. Abweichend von den meisten Bauten im Dorf war es völlig in Weiß gehalten, mit Flachdach und hohen Fenstern, alle durch grüne Läden verlegt. Ein Haus mit viel Platz rundherum und ohne Zäune. Unverwechselbar mediterraner Stil, befand er. Seine Cousine hatte gut gewählt.

    Rosemarie hielt nahe der Haustür. „Zauberhaft, hauchte sie. „Seh’ ich zum ersten Mal. Sie sind zu beneiden.

    Geschmeichelt riß Bob das Kuvert auf. Der Schlüssel drehte sich quietschend. Die Tür gab erst bei einem kräftigen Tritt nach. Er wandte sich um. „Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll." Ungeschickter hätte er den beiden Frauen kaum bedeuten können, sie seien nun entlassen.

    „Oh, kicherte Lucy. „Ich wüßte, wie. Sie schwankte ein wenig. „Irgendwas findet sich selbst in wenig bewohnten Häusern. Und wenn es Mineralwasser wäre. Ich bin durstig."

    „Nicht doch, Lucy, sagte Rosemarie. „Ich habe dir deinen Kram gebracht, jetzt muß ich zurück. Der Junge kommt heute zeitig aus der Schule.

    „So. Der Junge. Lucy verzog den Mund. „Kümmerst du dich wieder mal um ihn?

    Rosemarie errötete. „Wir wollen nach dem Essen ans Meer fahren. Eine Stunde sonnen."

    Du willst sonnen. Und er muß mit. Sonst…"

    Die Deutsche schob ihre widerstrebende Freundin in Richtung Auto. Aus der Handtasche suchte sie ein Kärtchen hervor. „Ich will mich nicht aufdrängen, aber auf die Hilfe Ihrer Cousine können Sie wohl einstweilen nicht zählen. Falls Sie Probleme kriegen, rufen Sie mich ruhig an."

    „Wirklich sehr nett, dankte Bob. „Sobald ich halbwegs eingerichtet bin, würde ich mich freuen, mich revanchieren zu dürfen.

    „Darfst du, Landsmann, sagte Lucy. „Mein Gott, wie verstaubt Sie sich ausdrücken, Sir! Die Türen knallten zu. Der Wagen holperte in einer Staubwolke den Weg hinunter.

    „Huh!" Er bewegte lockernd die Arme, ging ins Haus, öffnete die Fenster und entriegelte die Läden. Etwas verloren trippelte er durch den langen Wohnraum, den die Treppe ins Obergeschoß vom Eßraum abtrennte. Dann riskierte er, auf unliebsame Entdeckungen gefaßt, einen Rundgang. Küche mit Unmengen an Geschirr und Töpfen, ein Vorratsraum, Toilette und Dusche, zwei niedliche Schlafkammern, in jeder ein Doppelbett. Im ersten Stock gab es ein Arbeitszimmer mit Bücherstellagen, auf denen neben Krimis in Spanisch und Englisch Weinflaschen eingelagert waren, einen Salon und zwei große Schlafzimmer, eines davon mit direktem Zugang zum Bad, hier mit einer vierfüßigen Wanne. Auf einem Tischchen neben der Haustür fand er mehrere beschriftete Schlüssel und die Notiz: ,Bei allgemeiner Ratlosigkeit hilft Toni Ribas, Arrabal d’els guanyadors.’ Bob lächelte. ,Vorstadt der Sieger’. Ein Ort mit solchen Straßennamen konnte nicht der schlechteste sein.

    Er versenkte die Hände in den Hosentaschen und schritt das Gelände ab. Das Haus war von fruchtbaren Wiesen umgeben, übersät mit flammend rotem Klatschmohn. Zwischen Korkeichen den Hügel aufwärts stapfend, hielt er unwillkürlich den Atem an. Welch grandioser Ausblick! Entlang der Bergkette an die Hänge geschmiegte Ortschaften. Über dem Meer aufsteigende Kuben in Weiß, das mußte Rosas sein. Nach Süden hin weite Felder. Hohe Berge gegen Westen, davor die Kulisse einer verfallenen Burg. Es schien der richtige Platz zum Arbeiten und Ausruhen. Zum Nachdenken. Und um Feste zu feiern.

    Die Garage versteckte sich hinter Efeu und blühenden Mondwinden. Die Benzinanzeige versprach einen vollen Tank, doch der Seat gab beim Betätigen des Anlassers keinen Mucks von sich. Fürs erste konnte er laufen. Auf Dauer war ein Fahrzeug unentbehrlich. Beim Aussteigen entdeckte er, daß beide Vorderreifen platt auflagen wie tote Tiere. Somit war es ein Fall für den Abschleppdienst.

    Er notierte sich ein paar Dinge, die er sofort brauchen würde, verschloß die Haustür und marschierte zurück zu Escandell. Ein Anruf bei Ribas war erfolglos. Unschlüssig bestellte er Kaffee. Kinder spielten Billard, vollführten einen Heidenlärm, prügelten sich mit den Queues und stießen wild auf dem grünen Tuch herum. Eine Kugel fuhr über die Bande und knallte Bob in die Magengrube.

    „Könnt ihr nicht aufpassen?" brüllte er, ergriff das Geschoß und richtete seine Hand wutentbrannt gegen die kleinen Spieler. Entsetzt wichen sie zurück.

    Nur der Größte unter ihnen behauptete seinen Platz und sagte: „Haben Sie aber schlecht geschlafen, Mister."

    Der Junge hatte feinfühlig den Punkt getroffen. Was Bobs Wut erst recht anfachte. „Ich hau’ dir gleich eine runter, du Lümmel."

    Furchtlos trat der Junge ein paar Schritte vor, verächtlich den Mund verziehend. „Tun Sie’s. Los, versuchen Sie’s mal!"

    „Sir – kann ich Ihnen helfen?" Escandell näherte sich mit ernstem Gesicht und legte dem Knaben seinen Arm um die Schultern.

    „Meine Güte, ja! Bob nahm sich zusammen. Er fühlte, wie sehr er Gast war, in mehrfacher Hinsicht. „Bitte rufen Sie mir ein Taxi.

    „Wohin möchten Sie?"

    „Nach Figueras."

    „Figueras, hm… Wissen Sie, wir müßten es von dort kommen lassen. Mit der Bahn sind Sie schneller. In zwanzig Minuten fährt ein Zug. Den erreichen Sie noch. Ich zeige Ihnen den Weg. Er wartete keine Antwort ab, ging zur Tür und wies die Straße hinunter. „Rechts bis zur Bahnlinie. Von der Landstraße biegt ein Weg zum Stationsgebäude ab. Sie können es nicht verfehlen.

    Bob suchte vergebens nach Kleingeld. „Tut mir leid, sagte er. „Ich habe…

    „Nun gehen Sie schon", mahnte Escandell kopfschüttelnd.

    Der Knabe legte salutierend die flache Hand an die Stirn. „Bye, bye, Mister."

    Der Bahnhof erwies sich als verfallene Bude mit eingeworfenen Fensterscheiben, zerfetzten Fahrplänen und Richtungspfeilen, Figueras und Portbou. Den ganzen Tag fuhr er buchstäblich im Kreis. Schaffner kam auf der kurzen Strecke keiner. Freie Fahrt und Gratisdrinks, ein großzügiger Auftakt. Und Umstände, die ihn fortwährend zur Untätigkeit verurteilten. In Figueras mittäglich geschlossene Läden.

    Er schlug die Zeit tot, indem er El País Seite für Seite las und die schwülstigen Kommentare zur Tagespolitik nicht verschmähte. Um halb fünf, seine Methodik begann wieder zu funktionieren, vereinbarte er in einer Reparaturwerkstatt einen Termin für den nächsten Morgen und mietete ein Auto. Einkauf von Lebensmitteln gemäß Notizzettel. Beim Wein ertappte er sich bei Preismaßstäben, von denen er seit langem nicht abgerückt war. Früher studentisch sparsam, verdächtigte er sich nun des Geizes. Entschlossen griff er eine Preiskategorie höher und im Jahrgang weiter zurück.

    Den Wagen vollgeladen, fuhr er langsam heimwärts. Im Haus sah er sich nochmals um. Außer einer gründlichen Reinigung fehlte zur Wohnlichkeit nichts. Und Telefon, das würde er vermissen. ,Steht Ihnen jederzeit zur Verfügung, Sir’, hörte er Escandells eigentümlich unterwürfigen Ton. Oder nahm man ihn, aufmuckend gegen störende Überfremdung, auf die Schippe?

    Aus dem Schrank im oberen Schlafzimmer rollten ihm Pinienzapfen entgegen. Kniehoch lagen sie in dem Möbel. Den zweiten Kleiderschrank bewohnten zahllose leere Mineralwasserflaschen, verklebt mit den Chitinhüllen vermoderter Nachtfalter. Ernüchtert klappte er seinen Koffer wieder zu, zog sich um, band einen korrekten Krawattenknoten und fuhr nach Rosas.

    Keines der Restaurants, an denen er vorbeikam, Freßtempel im Stil Janes, gefiel ihm. Jane hatte sich neppen lassen. Sie mochte Lokale, wo Sänger mit einer Gitarre von Tisch zu Tisch schritten und die Gäste so eindringlich ins Auge faßten, als wäre man seit ewigen Zeiten befreundet. Ansonsten hatte Jane vor ihrer Trennung einen ausgeprägt gediegenen Stil gehabt. Danach war sie schludernd abgetrieben, in Richtung femme fatale. Oder sie hatte das französische Element in ihr mit der Neigung zum Schludern gleichgesetzt. Ihre Familie stammte halb aus Folkestone, halb aus dem jenseits des Ärmelkanals liegenden Pas-de-Calais. Jane hatte die Schulferien stets bei Verwandten in Liévin verbracht.

    Er zog die Karte mit Rosemaries Nummer aus der Geldbörse, wißbegierig, ihren Stil zu ergründen. Nach endlosem Klingeln wurde abgehoben.

    „Guten Abend. Bob spricht."

    „Oh. Eine kleine Pause entstand. „Ich hätte nicht gedacht, daß Sie meine Nummer so bald brauchen würden.

    „Nein, ich auch nicht. Er beglückwünschte sich zu seinem Entschluß. Ihre Stimme klang sympathisch wie am Morgen. „Ich irre in Rosas herum, würde gern zu Abend essen. Könnten Sie mir ein anständiges Restaurant empfehlen?

    „Wo sind Sie jetzt?" fragte sie sachlich.

    „An der Promenade. Ich glaube, ungefähr dort, wo Sie mich heute früh aufgelesen haben."

    „Da hätten Sie das Mesón Catalán gleich schräg gegenüber."

    Ihm kam vor, sie verdecke das Mikrophon, um jemandem etwas zuzuflüstern. Auf seine Menschenkenntnis bauend, hätte er schwören mögen, sie lebe allein. „Möchten Sie nicht mit mir essen? Sie sind auch zu zweit willkommen."

    Offenbar zögerte sie. „Ich habe schon gegessen. Es ist spät."

    „Macht nichts. Trinken Sie ein Glas Wein."

    „Gut. Ich komme gern. Danke. In zehn Minuten etwa."

    „Bitte, lassen Sie sich Zeit." Er hängte ein. Seine Münzen steckten noch in der Einlaufrille. Gratis auch hier der erste Einsatz.

    Eine Weile war er an der Ecke vor dem Restaurant auf und ab gegangen, da sah er ihre schlanke, hohe Gestalt. Allein. Er atmete auf. Natürlich hatte er sich nicht getäuscht. „Sind wir hier richtig?" fragte er unbeholfen.

    Spöttisch verzog sie den stark geschminkten Mund. „Ist nicht viel teurer als anderswo."

    Er fühlte sich bei seiner Sparsamkeit ertappt. Hastig öffnete er die Tür. Kaum Gäste. Kein Ober, der auf sie zueilte. Er steuerte einen Tisch in der Ecke an. So saß er gern, aus geschütztem Winkel beobachtend. „Ist Ihnen dieser Platz recht?"

    Der Platz war ihr recht. Sie redete den Kellner mit seinem Vornamen an und bestellte das Übliche. Um sich vertraut zu geben, verlangte er ebenfalls das Übliche. Den Vornamen verkniff er sich.

    „Davon werden Sie kaum satt werden, belehrte sie ihn. „Ein paar Muscheln und ein Glas Weißwein.

    Er orderte das Tagesmenü. „Wie ich schon vorschlug: Sie hätten von mir aus gern zu zweit kommen können."

    Rosemarie schlug die Augen nieder. „Mein Mann ist tot."

    Plötzlich überflutete Bob die Müdigkeit nach einer durchwachten Nacht und einem Tag wie im Karussell. Von Rosemarie zu Escandell und wieder zurück, schemenhaft begleitet von einer Jane, die nicht mehr seine Jane war, die vielleicht in einem Londoner Restaurant soeben zu jemandem sagte: ,Ich bin eine geschiedene Frau.’ Auch er senkte den Kopf. „Es tut mir leid."

    „Braucht Ihnen nicht leid zu tun, sagte sie. „Ist Ewigkeiten her. Länger als zehn Jahre. Die Spitzen ihrer halblang geschnittenen Haare bogen sich wie der Blütensaum einer Glockenblume.

    „Leben Sie das ganze Jahr über in Rosas?"

    „Ja. Und Sie? Machen Sie Urlaub?"

    „Ich? Bob fuhr aus seinen Gedanken auf. „Nein, nein. Ich werde für längere Zeit bleiben. Meiner Cousine ist dieses Haus zu teuer. Da ich sowieso mal in einem südlichen Land arbeiten möchte, kann ich es ihr gewissermaßen abnehmen.

    Rosemarie betrachtete ihn interessiert. „Was arbeiten Sie?"

    „Ach, am Schreibtisch, sagte er ausweichend. „Kennen Sie sich eigentlich in Prats näher aus?

    „Was gäbe es da groß zu kennen? Ein ödes Dorf. Zur Zerstreuung werden Sie sich hierher bemühen müssen. Oder nach Figueras."

    Die Suppe kam. Bob probierte. Zu kalt! Verdrossen ließ er den Löffel sinken und langte nach dem Weißbrot. „Meine Cousine hat mir die Anschrift eines gewissen Ribas hinterlegt. Kennen Sie ihn?"

    „Ribas? So heißt hier jeder zehnte."

    „Ich konnte ihn telefonisch nicht erreichen. Genausowenig wie meine Cousine. Eigenartig."

    Rosemarie hatte sich zurückgelehnt. Sie strich die Haare aus der Stirn. „Lebt sie in Barcelona? Kommt jetzt in Mode, in Barcelona leben und hier an der Küste ein Wochenendhaus halten."

    „Emilia arbeitet in Madrid. Tiefblaue Augen, stellte er fest. Der Kellner brachte die Muscheln und für ihn ein kleines Schnitzel vom Schwein, Spiegeleier und Pommes frites. „Ihre Freundin, begann er wieder. „Sie kennt Prats vielleicht besser?!"

    „Du liebe Zeit, für was wollen Sie sie denn einspannen?"

    „Vielleicht könnte sie mir eine Putzfrau besorgen. Das Haus ist von oben bis unten verdreckt. Ich brauchte ständig jemanden. Kochen kann ich, bin aber kein Hausmann."

    Wann hätte er je mit einer neuen Bekannten solchen Stumpfsinn besprochen? Diese Frau war trocken wie Wüstengras. Unter seinen Achseln spürte er Schweißtropfen. Das Gespräch schleppte sich dahin. Das Essen sättigte, schmeckte ihm aber nicht. Er war froh, als er sich erheben konnte.

    Auch sie wirkte angestrengt. „Soll ich Sie nach Hause fahren?" fragte sie ein wenig spitz.

    „Danke. Ich habe einen Mietwagen."

    „Ich mache Ihnen gern einen Kaffee. Wenn Sie mögen."

    Sie waren wieder an der Promenade angelangt. Er versuchte ihr Gesicht zu erkennen, doch die allzu helle Straßenbeleuchtung hinter ihr blendete ihn. „Na, wenn Sie möchten", sagte er wenig galant. Was für ein Abenteuer war es in seiner Jugend gewesen, ein Mädchen mit nach Hause zu lotsen! Doch umgekehrt? Er schüttelte sich unter süßsaurem Erschauern.

    Sie wohnte in einem unscheinbaren Wohnblock im Ortszentrum. Nichts Modernes. Sie war hier wohl einst mit ihrem Mann eingezogen, zu verschwindend kleiner Miete, und hütete sich jetzt, irgendwohin zu wechseln, wo es luxuriöser, aber viel teurer wäre.

    „Die Beleuchtung im Treppenhaus ist ausgefallen, warnte sie. „Können Sie genug sehen? Oder soll ich die Taschenlampe holen?

    „Ich komme zurecht." Mit der Fußspitze suchte er die Stufen. Das Geländer wackelte bei seinem festen Griff.

    Lange fummelte sie am Schloß der Wohnungstür, dann am Lichtschalter. Eine grasgrüne Ampel erhellte den schlauchartigen Vorraum, nicht dämmrig genug, um eine Menge aufgestapelter Kartons und Wäschehaufen zu vertuschen. „Bitte entschuldigen Sie das Durcheinander. Ich bin beim Frühjahrsputz."

    Die Tür zu einem Zimmer öffnete sich knarrend. Auch dort flammte schummriges Licht zum Erbarmen auf. „Nehmen Sie Platz, bat sie. „Wie möchten Sie den Kaffee? Schwarz?

    „Ja, gern." Es war ihm gleich. Seine Beine, schwerer als Blei, sackten weg, und er rutschte mechanisch auf eine Couch, die unter seinem Gewicht unwillig knackte. Er schloß die Augen und gähnte. Diesen Zustand kannte er gut. Falls er sich nicht zusammenriß, würde er auf der Stelle fest einschlafen, mit oder ohne Kaffee.

    „Ach, du liebe Zeit, sagte Rosemarie munter. „Strecken Sie sich einfach eine Viertelstunde lang aus.

    Er wußte nicht, was ihn mehr verwirrte, die zweideutige Situation oder die Schlichtheit dieser Frau. Wie alt war sie? Mitte dreißig etwa. Er zwang sich, die Augen offenzuhalten, den toten Punkt zu überwinden, übte sich an einem Bild über dem Fernseher. Eine Dame im Negligé, auf einer Chaiselongue ruhend, neben ihr langstielige rote Rosen. Er hielt es für eine Illustration Beardsleys zu Salome. Automatisch zählte er die Quadrate des Gitterfensters über der Schönen, sieben mal fünf, machte fünfunddreißig, wobei die Rosen in manche Quadrate hineinragten, in Nummer dreizehn, vierzehn – er kniff die Augen zusammen –, neunzehn, zwanzig und weiter in die unteren Reihen. Ein Dornröschen? Er lächelte. Vielleicht hätte er die gute Jane in manchem als Dornröschen auffassen müssen, verborgen hinter den Gittern der Konventionen. Ihr Ausbruch in Richtung femme fatale war für ihn zu spät gekommen. Irgend etwas an der Frau, mit der er gerade gespeist hatte, erinnerte stark an Jane. Was nur? Nichts Äußerliches. Mit Jane hatte sie diese deutliche Ergebenheit gemeinsam, sich dem Männlichen zu unterwerfen. Beschwichtigend hob er die Hand – biologisch betrachtet! Vom Intellekt her hatte Jane bei ihrer Scheidung eher ihn aufs Kreuz gelegt als umgekehrt. Ob die nordische Hagere, die in der Küche rumorte, viel Grips besaß, war indessen fraglich.

    Sie rollte einen Servierwagen herein. Nie hätte er in so bescheidener Umgebung einen englischen Teewagen mit silbrigen Aufbauten und roten Tabletts erwartet. Und Rosemarie drückte in ihren Bewegungen etwas so rührend Sorgliches aus – ihm wurde warm ums Herz.

    „Bitte, Sie müssen entschuldigen", setzte sie wieder an.

    „Wegen was denn?" fragte er in gröberem Tonfall als beabsichtigt.

    Sie warf ihm einen unsicheren Blick zu. „Ich bat Sie herauf und hatte mir nicht überlegt, wie wenig ich derzeit auf Besuch eingerichtet bin."

    „Ach, Sie haben es doch recht hübsch hier." Er setzte sich auf und bediente sich, ohne zu fragen, aus Milchkännchen und Zuckerdose. „Ich muß mich entschuldigen. Ich hätte Ihrem Vorschlag mit meinem zuvorkommen sollen. Wir hätten ja in eine Bar gehen können."

    Auf diese Art Süßholz sah Rosemarie ihn an, als hielte sie ihn für trunken. Er und trunken! Die Flasche Wein zuvor war allenfalls geeignet gewesen, ihn erschlaffen zu lassen, und er war keineswegs sicher, ob er es besonders mochte, erschlafft auf dieser mit Plüsch überzogenen Couch zu sitzen.

    Im Flur klappte eine Tür. Bob sah nackte Beine hereinstapfen. Sie gehörten zu einem Jungen. Er hatte nichts an. Abgesehen von einem um den Hals gehängten Kassettenrecorder und Kopfhörern, die dumpfes Wummern verbreiteten. Derselbe Knabe, der ihm in Escandells Bar die Stirn geboten hatte, hockte sich nun vor die Kommode neben dem Fernseher, zog Papiertaschentücher heraus und schneuzte sich ausgiebig.

    „Aber Archie!" Fassungslos ließ Rosemarie ihre Tasse sinken. Kaffee schwappte auf das Kleid.

    Der Junge federte vom Boden hoch. Die Nacktheit unterstrich nachdrücklich seine selbstbewußte Haltung. Sein wacher Blick richtete sich auf den Besucher. „¡Vaya tío!, murmelte er und nahm die Kopfhörer ab. „Also wirklich, Rosie! Du übertriffst dich mal wieder. Der Typ hat mir heute mittag Prügel angedroht. Er zerknüllte das Taschentuch, schmiß es Bob vor die Füße. „Wär’ mir recht, Mister, wenn Sie möglichst bald Leine ziehen." Damit verließ er den Raum.

    Schlagartig war Bob munter. Geschlechtsreif! – protestierte der Biologe in ihm. Vor der eigenen Mutter gehörte sich ein solcher Auftritt nicht. Geschweige denn vor einem Fremden. Abrupt stand er auf. „Nehmen Sie’s mir nicht übel. Die letzte Nacht hatte ich kaum Schlaf. Wird Zeit, daß ich ins Bett komme."

    Rosemarie hob das Taschentuch auf. Sie sah unglücklich aus. „Soll ich Sie nicht doch fahren?"

    „Danke, ich schaffe es schon. Er bemühte sich, ein freundliches Gesicht zu ziehen und freundlich zu sagen: „Sie sind wirklich sehr liebenswürdig. Trotzdem klang es wie: „Lassen Sie mich bloß in Frieden."

    Sie öffnete die Tür und sagte hilflos: „Sie wissen ja. Falls Sie Probleme bekommen…"

    „Ja, ja. Nochmals

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