Auflösungen: oder Laras Spurensuche
Von La Susannina
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Buchvorschau
Auflösungen - La Susannina
I
Es war schon Abend, als der Bus über den Gebirgspass fuhr. Lara liebte das Reisen. Einfach unterwegs zu sein, aus dem Fenster des Busses zu schauen, die Landschaft an sich vorbeiziehen zu sehen, unendliche Freiheit genießen. Sie fühlte sich mit der ganzen Welt verbunden und könnte überall zu Hause sein.
Schräg vor ihr tauchte das Tal mit den Lichtern der Stadt auf, in der sie von nun an leben würde.
Es war die erste Stelle nach dem Abschluss ihres Studiums. Nicht gerade eine leitende Funktion, schon eher eine etwas anspruchsvollere Sachbearbeitertätigkeit, aber für den Anfang durchaus nicht schlecht. Die Rahmenbedingungen waren zudem verlockend: Lara konnte die kleine, preiswerte Wohnung eines früheren Mitarbeiters übernehmen, der zur Familie seiner Frau in eine andere Stadt gezogen sein soll, um im dortigen Familienbetrieb mitzuarbeiten. Die Wohnung war voll möbliert, so dass Lara nun, lediglich mit dem Wohnungsschlüssel, ihrer Handtasche und etwas Gepäck für die ersten Tage ausgestattet, ohne größere Umstände dort einziehen konnte. Ihre restlichen Sachen würde sie sich nachschicken lassen.
Lara schaute auf die gelben Straßenlaternen und die erleuchteten Fenster der Stadt, die noch ein Stück weit unter ihr lag. Entspannt lehnte sie sich in ihrem Sitz zurück, stieß einen lautlosen Seufzer aus und sah weiter hinaus.
Mit der Zeit riss der Lichterteppich auf. Der Bus näherte sich der Stadt. Während Lara noch immer auf die Straße blickte, fuhr ihr blitzartig ein Gedanke durch den Kopf, vor dem sie sich insgeheim gefürchtet hatte. Dies war die Stadt, aus der vor Jahren das letzte Lebenszeichen ihres Bruders gekommen war. Leans Verschwinden hatte die ganze Familie damals vor ein Rätsel gestellt. Er war von zu Hause ausgezogen, als Lara selbst noch ein Teenager war. Zunächst schien alles ganz normal zu sein: Lean studierte, kam alle paar Wochen zu Besuch und plauderte über sein Leben in jener anderen Stadt. Langsam, fast unmerklich wurden seine Besuche seltener. Dann rief er auch kaum noch an. Lara merkte, dass ihre Eltern sich Sorgen machten, aber sie sprachen nie darüber. Sie selbst vermisste ihn, redete sich jedoch lange Zeit ein, dass er schon wieder auftauchen würde. Dies ging bis zu dem Tag gut, an dem sie mitbekam, dass die Eltern wegen Lean zur Polizei gegangen waren…
„Bald haben wir es geschafft!"
Die Stimme ihres Sitznachbarn riss sie aus ihren Gedanken: „Ja, endlich, gab Lara freundlich zurück. „Die Fahrt hat ganz schön lange gedauert.
„Sie sind aber nicht von hier, oder?", wollte der Mann wissen. Er war schlank, mittleren Alters, hatte kurze braune Haare, braune Augen und ein verhaltenes Lächeln, das ihn sympathisch, aber nicht aufdringlich wirken ließ.
„Nein, antwortete Lara, „ich komme in die Stadt um dort zu arbeiten.
„Meine erste Stelle", fügte sie nicht ohne Stolz hinzu.
„Na, dann darf ich gratulieren! Haben Sie schon eine Wohnung oder wohnen Sie vorerst im Hotel?"
„Ich konnte die Wohnung eines früheren Kollegen übernehmen. Leben Sie schon lange in der Stadt?"
„Seit meiner Geburt."
„Oh, dann kennen Sie sich bestimmt gut aus. Haben Sie ein paar Tipps für mich? Was sollte man in der Stadt unbedingt gesehen haben?"
„Ja, viel gibt es da nicht. Hoffentlich sind Sie nicht zu enttäuscht. Die Altstadt ist sehenswert und das Konzerthaus. Einige Gebäude der Altstadt stammen sogar noch aus dem 16. und 17. Jahrhundert. Das Konzerthaus dagegen ist ein gigantischer moderner Bau am Rande der Neustadt. Es wurde gegen Ende des 20. Jahrhunderts fertiggestellt. Fahren Sie einfach mal hin und lassen sich überraschen."
„Das mache ich bestimmt."
„Dann ist da noch das Museum für moderne Kunst. Interessieren Sie sich für Kunst?"
„Ja, durchaus. Auch wenn ich keine Expertin bin. Es gibt einige Maler, die ich bewundere, zum Beispiel Picasso. Die 'Weinende Frau' hat mich besonders … Ist mit Ihnen alles in Ordnung?"
Erschrocken blickte Lara ihren Gesprächspartner an. Sie passierten gerade das Ortseingangsschild, als der Mann plötzlich leichenblass wurde. Er riss die Augen auf und schien einen Augenblick lang nach Luft zu ringen. Hinter vorgehaltener Hand raunte er Lara zu: „Seien Sie vorsichtig! Lara sah in die panischen Augen des Mannes. Angst ergriff sie, doch sie zwang sich ruhig zu bleiben. „Wie meinen Sie das?
, fragte sie. In diesem Moment passierte alles auf einmal: Quietschende Reifen, ein langes Hupen und ein Ruck, der Lara fast aus ihrem Sitz geschleudert hätte.
Taschen, Tüten und Handkoffer flogen aus der Gepäckablage. Einige Gegenstände schossen quer durch den Bus, andere rollten über den Boden. Schreie. Fluchen. Dann wurde es still, weil alle Passagiere die Köpfe reckten, um zu sehen, was draußen vorgefallen war. Lara erkannte eine Gruppe stur vor sich hin starrender, in graue Mäntel gehüllter Personen, die allem Anschein nach unvermutet aus dem Dunkel der Nacht getreten und direkt vor dem Bus auf die Straße getrottet waren. Der Busfahrer sprang aus dem Fahrzeug, um der betont langsam weiterlaufenden Gruppe wütend hinterherzubrüllen. Plötzlich drehten sich die ganze Gruppe auf einmal um. Keiner bewegte sich mehr. Lara und die übrigen Passagiere umgab eine absolute Stille. Gleichzeitig lag eine Spannung in der Luft, die sich ins Unerträgliche zu steigern drohte. Alle Mitglieder der Gruppe auf der Straße hoben das Kinn und starrten den Busfahrer mehrere Sekunden lang unbeweglich an. Ihre Gesichter schienen versteinert zu sein, lediglich ihre Augen blitzten hasserfüllt. Dann wandten sie sich ebenso ruckartig wie geschlossen wieder ab. Sie trotteten weiter.
Nun brach im Bus ein Tumult los. Lara drehte sich zu den übrigen Passagieren um. Als hätte es das merkwürdige Ereignis vor dem Bus nie gegeben, waren viele von ihren Sitzen aufgesprungen und versuchten hektisch, ihre Sachen wieder einzusammeln.
Fassungslos starrte sie auf das jetzt folgende Geschehen. Eine Frau hatte sich im mittleren Teil des Busses gerade von ihrem Sitz erhoben um nach vorne zu gehen, als eine andere sich vor ihr aufbaute und ihre offensichtlich verrutschte Jacke samt Schal aus der Hutablage zerrte. Den Umstand, dass die Jacke auf dem Kopf der ersten Frau landete, der Schal hingegen nun vor dem Gesicht der zweiten Frau hing, nutzte ein sich unerwartet athletisch gebärdender Mann in Hemd und Anzughose, um unter wechselndem Einsatz des linken sowie rechten Ellenbogens, beginnend bei den beiden Frauen, sämtliche Passagiere in die Sitzreihen zurückzustoßen, während er selbst zielstrebig auf eine schwarze Tasche zuwalzte, die im vorderen Teil des Busses auf dem Boden lag. Gerade hatte er durch einen perfekt gesetzten Kinnhaken dafür gesorgt, dass ein hagerer jüngerer Mann mit Nickelbrille auf dem Oberkörper einer sofort nach Luft japsenden älteren Frau k.o. ging, als sich endlich ein ebenbürtiger Gegner fand. Massig, breitschultrig und mit kurzgeschorenen blonden Haaren fackelte dieser Traum einer jeden Rugby-Mannschaft nicht lang. Mit einem Hechtsprung stürzte er sich bäuchlings auf die eben von dem Ellenbogenmann anvisierte schwarze Tasche. Ein dumpfes Knirschen und ein sich plötzlich ausbreitender stechender Schnapsgeruch verrieten, dass der Inhalt der Tasche diese Behandlung ganz und gar nicht vertrug. Während eine kompakte Frau mit Trachtenbluse eine weitere schwarze Tasche in die Höhe hob, den am Boden liegenden Rugbyspezialisten mit „Schorschi" anredete und mit unüberhörbar vorwurfsvollem Unterton wissen wollte, was dieser denn da überhaupt mache, war der Ellenbogenmann rot angelaufen. Schorschi konnte sowohl den Gang als auch die Tasche wegen seiner vorangegangenen vollkommenen Verausgabung nur langsam freigeben. Hinter dem Ellenbogenmann drängten sich mehrere Passagiere. Plötzlich kippte eine schmächtige Frau durch die winzige Lücke, die der Ellenbogenmann unvorsichtigerweise zwischen sich und der Sitzreihe zu seiner Linken gelassen hatte. Ihr Kopf landete auf Schorschis Hand, mit der sich dieser gerade vom Boden abstützen wollte. Die Bewegung der umkippenden Frau missverstehend schoben die hinteren Passagiere die vorderen weiter, so dass der Ellenbogenmann einen Schlag in die Magengrube erhielt, während zwei weitere Personen auf der bereits am Boden liegenden Frau landeten. Diese war für einen Moment weder zu sehen noch zu hören, dann griffen zwei Passagiere aus den nächstgelegenen Sitzreihen entschlossen ein, zerrten eine Person nach der anderen von der Frau herunter und halfen dieser wieder auf die Beine. Nun entspannte sich Schorschis schmerzverzerrtes Gesicht. In einem Kraftakt wurde auch ihm aufgeholfen.
„Meine Herrschaften, bitte bewahren Sie doch Ruhe!", donnerte die Stimme des Busfahrers durch das Fahrzeug. Man begann, sich umsichtiger zu bewegen, bat sich um Entschuldigung sowie um das gegenseitige Durchlassen oder Durchreichen der Jacken, Tüten, Taschen und Flaschen. Endlich saßen alle Passagiere wieder auf ihren Plätzen. Der Busfahrer fragte, ob jemand verletzt sei. Da sich keiner meldete, wurde die Fahrt fortgesetzt.
Die Gruppe auf der Straße war unterdessen im Dunkel der Nacht verschwunden. Alle schwiegen während der Weiterfahrt zum Busbahnhof. Laras Sitznachbar war in sich zusammengesunken. Er schien zu schlafen. Die Luft um den Bus herum wurde diesiger. Der Busbahnhof war öde und grau. Noch immer schweigsam verließ ein Passagier nach dem anderen den Bus, nahm sein Gepäck entgegen und ging seiner Wege. Für einen Moment hatte Lara den Eindruck, ganz allein auf dem Busbahnhof zurückzubleiben, während gleichzeitig jeder mit seinem eigenen Fleckchen Grau auf dem großen Platz verschmolz. Dann sammelte sie sich, suchte ihre Buslinie und konnte bald darauf in Richtung Innenstadt zu ihrer neuen Wohnung weiterfahren.
Wie erleichtert war Lara, als sie endlich den Schlüssel im Schloss der Wohnungstür herumdrehte! Die Wohnung war einfach, aber durchaus ansprechend möbliert. Einen Blick für die Details hatte Lara allerdings nicht mehr, dazu war sie viel zu erschöpft. Sie machte sich nur noch kurz frisch, dann sank sie ins Bett. Mitten in der Nacht schreckte sie auf, weil sie sicher war, ein lautes Schaben an ihrer Wohnungstür gehört zu haben. Sie sah durch den Türspion, konnte aber nichts erkennen. Sie hatte wohl doch nur geträumt.
II
Am nächsten Morgen riss der Wecker Lara aus dem Schlaf. Halb benommen machte sie sich eine Tasse löslichen Kaffee, den sie gestern vor ihrer Abreise noch geistesgegenwärtig in ihre Tasche gepackt hatte.
Sie konnte das Bild der Gruppe grau gekleideter Menschen auf der nächtlichen Straße einfach nicht loswerden. Der Gedanke an die starren Blicke dieser Personen und deren nahezu synchrone Bewegungen jagte ihr einen kalten Schauder über den Rücken. Die Erinnerung an ihren merkwürdigen Sitznachbarn sorgte auch nicht gerade dafür, dass Lara sich besser fühlte. Plötzlich wurde ihr klar, dass die letzte Nacht noch etwas bei ihr bewirkt hatte: Sie dachte immer wieder an Lean, ihren Bruder. Nein, sie fand sich nicht länger damit ab, dass er verschwunden war! Lara erinnerte sich an sein Lächeln, mit dem er immer eine Extra-Portion Vanilleeis in ihr Dessertschälchen füllte, als sie noch klein war. Niemals könnte sie ihn aufgeben! Niemals würde sie aufhören, nach ihm zu suchen!
Doch erst einmal musste sie ins Büro, immerhin war dies ihr erster Arbeitstag. Sie verließ die Wohnung. Das Treppenhaus war absolut still, es gab nicht einmal einen Lufthauch. Dicke Teppiche auf den Treppenstufen, die ihr in der Nacht zuvor gar nicht aufgefallen waren, sorgten dafür, dass jedes Geräusch augenblicklich verschluckt wurde. Hätte Lara nicht wenigstens noch das Geräusch ihres eigenen Atems gehört, so hätte sie sich fragen können, ob sie selbst überhaupt noch da war.
Die Straße vor ihrem Haus war menschenleer. Kurzzeitig hatte Lara sogar den Eindruck, graue Nebelschwaden vor den Augen zu haben, aber das war bestimmt nur ihr Kreislauf. Die letzte Nacht war nicht gerade erholsam gewesen.
Sie bog um die Ecke und stellte erleichtert fest, dass an der Bushaltestelle zwei weitere Personen standen. Als Lara sich der Bushaltestelle näherte, starrten beide Personen sie so intensiv an, dass sie an sich heruntersah um festzustellen, ob irgendetwas nicht in Ordnung war. Zum