Der Tunnel: Wie ein Mensch zum Verräter wird
Von Peter Stieglitz
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Über dieses E-Book
Peter Stieglitz
Der Autor hat seine Heimatstadt Dortmund schon bald nach dem Studium an der dortigen Ingenieurschule verlassen und danach zahlreiche Auslandsreisen unternommen, die ihn wiederholt nach Afrika führten. Seit einigen Jahren lebt er in Frankreich, wo 2008 auch sein erster Roman, Un été au moulin, im Verlag Elzévir erschienen ist. Seither sind drei weitere Romane entstanden, darunter Coltan.
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Buchvorschau
Der Tunnel - Peter Stieglitz
Inhalt
Der Tunnel
Eine Begegnung in Prag
Menschen in einem geteilten Land
Eine Hochzeitsreise in die Toskana
Jeder ist verdächtig
Wie ein Mensch zum Verräter wird
Der Preis der Freiheit
Denk ich an Hoheneck in der Nacht
Die Zeit der Mutigen
Was danach noch geschah
Impressum
Der Tunnel
Eine Begegnung in Prag
Eine Durchsage im Lautsprecher, Türenschlagen, ein Pfiff und die Lok zog an. Mit einem leichten Ruck setzte sich der Zug in Bewegung. Langsam glitt Wagen für Wagen mit seinen hell erleuchteten Fenstern an den winkenden Menschen auf dem Bahnsteig vorbei.
Im Gang die Stimme einer jungen Frau, hell und fröhlich, ein Lachen und ein Ruck an der Tür. Ein Gesicht wie ein Engel, unter der roten Baskenmütze ihr langes blondes Haar. Ein Blick auf den leeren Fensterplatz, dann schob sie ihren schweren Koffer herein. Sie zog ihren Mantel aus, hing ihn neben sich auf und nahm ihre nähere Umgebung mit einer leichten Enttäuschung war. Zwei ältere Ehepaare und ihr gegenüber ein hagerer Mann, Anfang vierzig, sein Gesicht so grau wie sein Anzug, blickte kurz auf und zog sich wieder hinter seine Zeitung zurück. Sie holte ein kleines Buch aus der Tasche, schlug es auf, ließ es auf den Schoß sinken und sah hinaus. Im morgendlichen Dunst die grauen Fassaden der vorbeiziehenden Stadt. Irgendwo dahinter der Prenzlauer Berg, der Kollwitzplatz und die Husemannstrasse, ihre kleine Welt, scheinbar still und beschaulich, mit all den Erinnerungen an eine glückliche Kinderzeit.
Aber jetzt war sie vierundzwanzig, sah die Welt mit anderen Augen und misstraute dem schönen Schein, auch dem Mann ihr gegenüber und allen anderen im Abteil. Früher hatte sie manchmal eine kritische Bemerkung gemacht, über den Staat oder über die Partei, doch inzwischen hatte sie es gelernt, vorsichtig zu sein. Sie nahm ihr Buch, einen Stadtführer für Prag, schlug es auf und freute sich auf die Reise, die nun vor ihr lag.
Doch wenn alles so verlaufen wäre, wie sie es geplant hatte, dann würde ihr jetzt nicht dieser Mann gegenübersitzen sondern ihre Freundin Susanne. Aber gestern am späten Nachmittag plötzlich ihr Anruf: „Ich kann nicht mitfahren, es gibt ein Problem mit meinem Pass." Mehr wollte sie ihr am Telefon nicht sagen. Umso verdächtiger schien es nun, dass dieser Mann so schnell ihren Platz einnehmen konnte, denn Reisen nach Prag waren begehrt und mussten Monate vorher beantragt werden. Fuhr er also mit, um sie zu beschatten, einmal zu sehen, mit wem sie sich traf und ob es vielleicht konspirative Kontakte zu irgendwelchen Agenten aus dem anderen Deutschland gab?
Als er nun seine Zeitung sinken ließ, betrachtete er sie so eindringlich von oben bis unten, dass sie ihren Rocksaum ein wenig weiter nach unten zog. Er verfolgte die kleine Geste mit einem amüsierten Lächeln, das sie etwas verlegen erwiderte. Da sich die beiden Ehepaare neben ihnen bereits angeregt unterhielten, beugte er sich zu ihr hinüber und legte dabei einen vertraulichen Ton in seine Stimme.
- Auch allein unterwegs?
- Ja!
- Bleiben Sie länger in Prag?
- Drei Tage! Und Sie?
- Ich auch. Wo werden Sie wohnen?
- In der Nähe vom Wenzelsplatz.
- Welches Hotel?
- Eine Pension.
Den Namen nannte sie ihm nicht. Womöglich war er bereits so gut informiert, dass er ihn ohnehin schon kannte. Er beugte sich noch etwas weiter vor und flüsterte so leise, dass es die anderen nicht hören konnten: „Ich wohne im Hotel Central."
Vielleicht wollte er sie mit dieser Mitteilung beeindrucken oder auch die Möglichkeiten andeuten, die solch ein Hotel bot, wenn man ganz bestimmte Absichten verfolgt. Gespannt auf ihre Reaktion, verharrte er einen Moment in dieser Position und sah sie erwartungsvoll an. Doch sie nickte nur, wandte sich dann ihrem Stadtführer zu und bedeutete ihm so, dass sie das Gespräch zunächst einmal für beendet hielt. Ihre innere Stimme mahnte sie zur Vorsicht. Im Übrigen entsprach seine äußere Erscheinung keineswegs der Vorstellung von einem Mann, mit dem sie gern einmal einen romantischen Spaziergang durch die Gärten der Mala Strana unternehmen würde.
Mit dem Anflug einer leichten Enttäuschung auf seinem Gesicht lehnte er sich zurück. Sie beobachtete ihn über den Buchrand hinweg. Als sein Gesicht wieder hinter der Zeitung verschwand, hob sie den Kopf und sah hinaus. Draußen zog ein Regenschauer vorbei, hinter den Bäumen Häuser, Felder und Weideland.
Die ältere Frau neben ihr bot ihr aus einer Tüte Kekse an. Sie war schon einmal in Prag und erklärte ihr, was es dort alles zu sehen gab.
- Jetzt im Frühling ist es dort besonders schön. Auf den Hängen der Mala Strana blüht der Flieder und vom Hradschin aus hat man einen wunderbaren Blick auf die Stadt. Auf den Plätzen und Caféterrassen herrscht ein Treiben wie in Paris.
- Waren Sie schon einmal in Paris?
- Ja, letztes Jahr. Als Rentner dürfen wir ja dorthin.
- Ja natürlich!
Danach ein Moment der Stille, betretenes Schweigen. Dann die ersten Häuser von Dresden. Ein heftiges Rütteln über Weichenfelder, draußen Signalmasten und Schilder vorbei. Auf dem Bahnsteig Jugendliche mit einem Transparent.
Die FDJ für Frieden und Völkerfreundschaft!
Dann plötzlich ein Ruck an der Tür. Zwei Uniformierte, noch jung, doch ihrer Wichtigkeit bewusst, kein Lächeln, kein Gruß: „Passkontrolle!"
Sie reichte dem einen von ihnen ihren Pass. Er blätterte ihn durch, nur leere Seiten und sah sie dann an, seine Stimme so arrogant wie sein misstrauisches Gesicht.
- Eva Klepsch?
- Ja!
- Sie reisen weiter?
- Ja!
- Nach Prag?
- Ja!
Dann gab er ihr den Pass zurück und wandte sich dem Mann ihr gegenüber zu. Hier genügte ihm ein kurzer Blick.
- In Ordnung!
Danach ein kurzer Gruß und hinter seinem Kollegen weiter zum nächsten Abteil. Stimmen, Schritte, Türenschlagen und
Endlich der erlösende Pfiff. Der Zug setzte sich in Bewegung. Sie fuhr weiter. Ein Gefühl der Freiheit, ein anderes Land!
Draußen glitten die Hotelfassaden von Bad Schandau vorbei.
Auf der anderen Seite der Fluss. In Dêcîn ein neuer Halt,
Zollkontrolle. Andere Uniformen, die gleichen Gesichter, ernst und ihrer Wichtigkeit bewusst. Der Zug setzte sich wieder in Bewegung. Draußen klarte der Himmel auf. Strahlend hell kam die Sonne zwischen den fliehenden Wolken hervor.
Dann ein anderer Bahnhof, ein neuer Aufenthalt. Große Schilder: ‘ Usti nad Labem ‘
„Das alte Aussig an der Elbe, bemerkte die Frau neben ihr und raunte ihr dann zu: „Hier hat es nach dem Krieg ein furchtbares Massaker gegeben.
Daraufhin sofort die mahnende Stimme ihres Mannes.
„ Also Erna! Bitte!" Die Frau errötete verlegen und schwieg.
Eva hatte von diesem Massaker gehört, wollte jetzt aber nicht über all die Verbrechen nachdenken, die in jener Zeit passiert sind. Sie war jung, lange danach geboren und hielt es daher für besser, nach vorn zu schauen, ihre eigene Zukunft zu gestalten und das Beste aus ihrem Leben zu machen. Bisher war es auch so verlaufen, wie man es von ihr erwartet hatte. Vor allem ihre Mutter! Ihr Vater war bei einem Arbeitsunfall umgekommen, als sie noch ein Kind war. Danach hatte ihre Mutter noch einmal geheiratet, einen etwas jüngeren Mann, der bei der Post beschäftigt war und als Mitglied der Partei immer auf Pflicht, Stellung und Ansehen bedacht war. Ihre Mutter hingegen verabscheute die Politik, war aber lebensfroh und dazu vielseitig begabt, spielte Geige, war Mitglied eines Orchesters und gab auch Musikunterricht.
Eva war ihr einziges Kind und daher stets bemüht, die in sie gesetzten Erwartungen ihrer Eltern nicht zu enttäuschen. Sie hatte wie ihre Mutter Musik studiert, danach eine Anstellung bei einem Verlag gefunden, nicht unbedingt ihr Traumberuf, aber dennoch interessant und vielseitig. Nebenbei gab sie auch noch Klavierunterricht. Ihre Mutter hielt sie für begabt, ihr Stiefvater kritisierte manchmal ihr mangelndes politisches Interesse und ermahnte sie zu mehr Engagement, denn seiner Meinung nach verdankten sie das alles ja dem Staat, nicht nur die kostenlose Ausbildung, sondern auch das neue Auto, einen Trabant, die günstigen Ferien an der Ostsee und die schöne Wohnung in der Husemannstraße.
Aber nun war sie zunächst einmal froh, der dort gewohnten Enge zu entfliehen. Vor ihr lagen drei wunderschöne Tage in einer anderen Welt. Da war jetzt eine ungeduldige Erwartung,
eine aufgeregte Freude auf diese fremde Stadt, das Gefühl einer grenzenlosen Freiheit und auch die heimliche Lust auf ein Abenteuer. Sie schloss die Augen, lehnte sich weit zurück
und versuchte, noch ein wenig zu schlafen. Doch kurz vor Prag suchte ihr Gegenüber erneut das Gespräch mit ihr.
- Wir sind gleich da.
- Ja!
- Werden Sie abgeholt?
- Nein!
- Wir könnten gemeinsam ein Taxi nehmen.
- Aber wir haben doch nicht dasselbe Ziel.
- Das Taxi bringt Sie zuerst zu Ihrer Pension und mich dann zu meinem Hotel.
Sie wusste nicht sogleich, was sie darauf antworten sollte. Die Aufdringlichkeit dieses Mannes erinnerte sie an ihren früheren Turnlehrer, der nach dem Unterricht einmal unter irgendeinem Vorwand zu ihr in die Dusche kam. Die anderen waren schon fort. Er versprach ihr eine gute Note, wenn sie ein wenig nett zu ihm sei. Sie war es, nicht so sehr wegen der Note, sondern aus purer Angst, denn damals war sie erst sechzehn! Doch inzwischen hatte sie es gelernt, solchen Situationen aus dem Weg zu gehen.
- Vielen Dank! Aber ich möchte Ihnen den Umweg ersparen und werde die Straßenbahn nehmen. Sie ist auch billiger.
- Na gut, ganz wie Sie wollen!
Sie war froh, dass er nicht weiter auf sie eindrang und wandte sich wieder ihrem Buch zu. Doch so schnell gab er nicht auf. Als der Zug in Prag hielt, holte er ihren schweren Koffer von der Ablage herunter und machte ihr sogleich ein weiteres Angebot.
- Sollten Sie in Prag irgendein Problem haben, können Sie jederzeit meine Hilfe in Anspruch nehmen und in meinem Hotel eine Nachricht für mich hinterlassen. Aber vielleicht sollten wir uns zunächst einmal vorstellen.
Sie sah ihn überrascht an, nickte aber aus Höflichkeit. Er beugte sie zu ihr hin und flüsterte ihr so leise seinen Namen zu, als ginge es dabei um ein Staatsgeheimnis.
- Konrad! Erwin Konrad
Obwohl ihr die Situation eher peinlich war, konnte sie nun nicht mehr umhin, ihm auch ihren Namen zu nennen.
- Klepsch! Eva Klepsch.
- Angenehm! Also wie schon gesagt, ich wohne im Central.
Sie nickte wieder und war dann froh, als er sich in der Halle von ihr verabschiedete, um den Schildern in Richtung des Taxistandes zu folgen. Nun war sie endlich allein, hatte Zeit, sah sich vor dem Bahnhof ein wenig um und erkundigte sich nach der Straßenbahn, die sie zu ihrer Pension brachte, ein mehrstöckiges Gebäude in der Ulice Spalena, das auf den ersten Blick keinen einladenden Eindruck machte. Doch die junge Frau, die ihr die Tür öffnete, begrüßte sie mit einer Freundlichkeit, so als habe sie bereits ungeduldig auf ihr Eintreffen gewartet und begleitete sie nach der Erledigung der Formalitäten über eine breite Marmortreppe, die noch an den vornehmen Stolz des Gebäudes in früheren Zeiten erinnerte, hinauf zu ihrem Zimmer im ersten Stock. Es war spärlich eingerichtet, doch hell und sauber. An der Wand dem Bett gegenüber hing eine Kopie der Danae von Gustav Klimt. Das Bad war grün gekachelt, auf einem Hocker lagen frische Handtücher bereit.
Nachdem Eva ihren Koffer ausgepackt und die Kleider in den Schrank gehängt hatte, setzte sie sich an den kleinen Tisch, um vor dem geplanten Ausflug in die Stadt zunächst einmal die mitgebrachten Butterbrote zu verzehren. So sparte sie das Geld für ein Mittagessen. Sie ging auch sonst nicht gern allein in ein Restaurant, fühlte sich dort manchmal von dem einen oder anderen aufdringlichen Mann belästigt, der sie so ungeniert taxierte, als sei sie womöglich leicht zu haben und sich vielleicht schon Gedanken über den Preis machte, den er dafür bezahlen wollte. Doch für derartige Abenteuer war sie sich zu schade. Da wartete sie lieber ab, bis sie eines Tages dem Mann begegnen würde, der sich dann nicht nur für ihr Äußeres, sondern auch für ihre Gefühle, Ansichten, Träume und Erwartungen interessierte, die sie mit einer solchen Liebe verband. Doch jetzt war es zunächst einmal an der Zeit, einen ersten Spaziergang durch die Stadt zu unternehmen.
Vorher trat sie aber noch einmal ans Fenster, um einen Blick auf die nähere Umgebung zu werfen. Dabei achtete sie kaum auf den Mann, der auf der anderen Straßenseite vorbeiging und eine dunkelblaue Mütze trug, deren Schild sein Gesicht weitgehend verdeckte. Die rechte Hand in der Tasche seiner hellen Windjacke vergraben, unter dem angewinkelten Arm eine Zeitung eingeklemmt, blieb er einmal kurz stehen und richtete seinen Blick auf den Eingang der Pension, so als ob er ihre Hausnummer erkunden wolle, ging dann aber weiter, steuerte auf die Terrasse eines nahen Cafés zu, nahm an einem der Tische Platz nahm und entfaltete dort sogleich seine mitgebrachte Zeitung.
Als Eva wenige Minuten später die Pension verließ und durch die engen Straßen der Altstadt zur Moldau hinunterging, ahnte sie nicht, dass ihr jemand folgte. Er blieb etwa zwanzig Meter hinter ihr, mischte sich unter die anderen Fußgänger und hatte dabei keine Mühe, ihr hellrotes Kleid im Auge zu behalten.
Sie überquerte einen kleinen Marktplatz, mischte sich unter die Wartenden vor einem Stand mit Obst und Gemüse, kaufte zwei Äpfel, warf noch einmal einen Blick auf ihren Stadtplan, bog in die Ulica Lilova ein und ging dann durch die Karlova voller Erwartung auf den mächtigen Turm der Karlsbrücke zu.
Es war keine bestimmte Erwartung, die sie mit diesem Ausflug verband, aber die Lust, etwas Neues zu erleben und dabei in eine unbekannte Welt einzutauchen, die ihr vielleicht sogar ein aufregendes Abenteuer versprach. Aber auch davon hatte sie keine bestimmte Vorstellung, es war eher der Wunsch, jemandem zu begegnen, mit dem sie ihre Freude über all das Neue und Schöne teilen konnte. Dabei dachte sie natürlich an einen netten jungen Mann, fröhlich und aufgeschlossen, doch nicht zu aufdringlich. Er musste ihr aber sympathisch sein. Alles andere würde sich dann schon finden.
Sie schaute von der Mitte der Brücke auf das spiegelnde Wasser hinunter und ließ ihren heimlichen Träumen freien Lauf. Ihr Blick glitt langsam über den Fluss und die Türme der Mala Strana zum Hradschin und der dunklen Silhouette des Veitsdoms hinauf.
Als sie dann weitergehen wollte, hinter ihr eine Stimme.
- Nein bitte, bleiben Sie noch!
Sie wandte sich um und sah einen Mann, freundlich lächelnd, der seinen Fotoapparat auf sie gerichtet hatte. Im Gegensatz zu den vielen anderen Touristen, die in Jeans und T-Shirt über die Brücke flanierten, trug er einen schicken Anzug und wirkte darin beinahe ebenso elegant wie Robert Redford in seinem Film ‘Der große Gatsby‘. Während sie noch überlegte, wie sie auf die ungewöhnliche Aufforderung reagieren solle, kam er zu ihr.
- Sprechen Sie Deutsch?
- Ja, warum?
- Ich war gerade dabei, ein Foto zu machen.
- Und dazu brauchen Sie mich?
- Ja! Mit Ihrem roten Kleid kommt etwas Farbe ins Bild.
Sie lächelte verlegen und er fuhr sogleich fort.
- Ohne Sie wirkt das Foto wie eine Postkarte.
- Na gut, Soll ich wieder auf den Fluss hinunterschauen?
Er nickte und sie lehnte sich noch einmal über das Geländer, wandte ihm aber ihren Rücken zu. Danach kam er wieder zu ihr.
- Vielen Dank! Wirklich sehr nett von Ihnen!
- Gern geschehen!
- Ein schönes Foto!
- Schicken Sie mir einen Abzug?
- Ja gern! Dann machen wir aber noch eine Aufnahme.
- Noch einmal die gleiche?
- Nein! Dieses Mal mit ihrem bezaubernden Lächeln.
Sie errötete leicht, während er einige Schritte zurücktrat und sie erneut ins Visier nahm. Gleichzeitig dirigierte er ihre Haltung und setzte das Gespräch mit ihr fort.
- Gefällt Ihnen Prag?
- Ja! Aber noch habe ich nicht viel von der Stadt gesehen.
- Zum ersten Mal hier?
- Ja!
- Ich bin aus Minden und Sie?
- Berlin!
- Ost oder West?
- Ost!
Er schien ein wenig überrascht, verzichtete aber auf jeglichen Kommentar, machte noch einige Aufnahmen und lud sie danach zum Tausch ihrer Adressen in das Café U tri Zvonka auf der anderen Seite der Brücke ein. Nun saß sie also schneller als erwartet einem netten jungen Mann gegenüber, der zwar einen sympathischen Eindruck auf sie machte, der ihr aber dennoch seltsam fremd war. Lag es vielleicht daran, dass er aus dem anderen Deutschland kam? Ein Land, über das man zuhause, in der Schule und auch im Fernsehen nicht viel Gutes hörte. Obwohl sie keineswegs glaubte, dass es auf der einen Seite der Mauer die guten Deutschen und auf der anderen Seite die bösen Deutschen gab, war es aber nicht nur die Grenze mit ihren Zäunen, Türmen und Wächtern, die sie voneinander trennte. Da gab es noch eine andere Mauer, eine unsichtbare, eine Mauer des Misstrauens und der Angst, die man in den Köpfen der Menschen aufgerichtet hatte, um sich vor den anderen zu fürchten. Denn nichts vereint die Menschen mehr, als die gemeinsame Furcht vor einem Feind und die Angst vor dem unsichtbaren Bösen hinter dem Haus, hinter dem Wald oder hinter einer Mauer. Kommt es dann aber zu einer Begegnung von Mensch zu Mensch, genügt manchmal schon ein erstes Lächeln, um das anfängliche Misstrauen zu zerstreuen. Doch zunächst einmal reichte er ihr nun seine Visitenkarte. So erfuhr sie nicht nur seinen Namen
> Andreas Wagner < , sondern auch noch ein wenig mehr über ihn. Er war für ein bekanntes Unternehmen in Hannover tätig und anlässlich einer Geschäftsreise in Prag. Sie überlegte, ob er wohl verheiratet sei, wollte aber nicht gleich zu Anfang allzu indiskret sein und verschob diese Frage auf später. Er reichte ihr eine zweite Karte, auf deren Rückseite sie ihre Anschrift notierte. Nach dem Kaffee konnte er sie dann noch zu einem Glas Wein überreden. Er erhob sein Glas, beugte sich zu ihr hinüber und flüsterte so leise,