Liebesrisse: vom Weggehen um Luft zu holen
Von Ricarda Kühn
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Über dieses E-Book
Bei den Figuren klaffen Außen- und Selbstwahrnehmung auf tragisch-komische Weise auseinander.
Auf der Suche nach einem erfüllteren Leben widersetzen sie sich, tapfer und immer knapp an der Katastrophe vorbei, dem, was sie als Mainstream empfinden.
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Buchvorschau
Liebesrisse - Ricarda Kühn
Kapitel 1
Ricarda Kühn: Liebesrisse
SAG ES NICHT, VERSPRICH ES MIR
Ich habe den Gashahn zugedreht, ich brauche nicht noch einmal zurück, ist nur eine dumme Idee. Der Herd wird nicht explodieren.
Wenn’s sein muss, kann sie sich zur Ruhe zwingen. Lena Zacharias weiß, was sie heute erreichen will.
Der Hundertfünfundsiebziger hält knapp vor ihren Füssen. Lena springt hinein und rast die Treppe hinauf ins obere Busabteil.
Das schaffe ich. Ich schaffe das.
Die Herbstsonne besänftigt die Gejagten. Berlin, das Monstrum im Zauberlicht. Die Menschen können sich auf den Abend freuen. Lena nicht, sie will heute die Rolle ihres Lebens bekommen. Die, die sie von einer unerträglichen Arbeit in einem unerträglichen Nachtclub mit unerträglichen Männern befreit. Noch sechzig Minuten bis zum Vorsprechen in Kreuzberg, in der Probebühne.
Eilig nimmt sie Platz, direkt über dem Fahrer. Eine wunderbare Aussicht, sechs Meter über der Straße, leicht und mühelos erscheint das Leben von oben, wie im Stummfilm.
Von außen betrachtet, wäre das Leben einen Oskar wert.
Der Spätnachmittag einer aufgeputzten Stadt mit Marotten rauscht namenlos vorbei. Lena schafft es fast immer hier zu sitzen. Sie kann auch drängeln, wenn es sein muss. Sie ist jung, schön, schlank, mager fast. Einen echten Diamanten trägt sie im Bauchnabel. Der lenkt die Blicke dorthin, wo sie sie haben möchte. Manchmal starrt man sie an, als wäre sie bereits berühmt. Dann genießt sie ihr Dasein, nur dann.
Der Bus hat die richtige Geschwindigkeit, die anderen Fahrgäste schweigen zum Glück. Gelassenheit auf den Gesichtern. Menschenhülsen unterwegs zu Immergleichem.
Dieser Busfahrer ist angenehm, weil er nicht anwesend ist. Eine Fahrerhülse. Lena kennt andere. Männer, die Polizist am Steuer spielen, die ihre Fahrgäste anbrüllen, oder so anfahren, dass sie kopfüber gegen eine Stange zum Festhalten knallen.
„Bahnhof Zoo, alles aussteigen, Endhaltestelle."
Lena springt vor den andern aus dem Bus. Sie schaut auf die Armbanduhr des Mannes neben ihr, ein Tourist, vierzig Jahre vielleicht, typischer Geschäftsmann mit Rollkoffer, gepflegt aber traurig. Er kann den Blick nicht von ihr abwenden. Lena bemerkt es, lächelt ihn an, aus Versehen, kurz nur. Er springt auf die Seite, will ihr Platz machen. Er verliert sich, stolpert, entschuldigt sich. Lena lacht ihn aus, strengt ihm die Zunge raus. Aus dem Bahnhof quellen die Menschen hervor, ergießen sich wie Lava auf den Kurfürstendamm.
Sie hat noch genau fünfzig Minuten. Der U-Bahn Schacht schluckt sie. Lärm, Gedränge und unterdrückter Zorn werfen sich über sie wie eine Heizdecke. Hastig kontrolliert sie Schlüssel, Handy, Zigaretten, Geldbörse, Schminktäschchen, alles da in der rosa Umhängetasche. Sie eilt die Treppe hinunter.
Linie sieben? U-Bahn oder Bus zur Cuvrystrasse? Verdammt, was geht schneller. Bus!
Sie rast die Treppen wieder rauf, zwei Stufen zugleich.
Stop! Ein Penner. Der könnte dir seinen Hund auf den Hals hetzen. Nein, keinen Ärger bitte, heute nicht. Tust mir nichts, tu ich dir nichts.
Lena kann rennen wie Franka Potente. Sie eilt zur Haltestelle
Wo bleibt der Scheißbus?
Die Leute nerven. Massen im Kaufrausch, ich hasse es. Männer als Handtaschenträger und Einkaufskulis für traurige Frauen. So nicht. Dies mir nicht. Niemals. Und wenn ich alt und einsam im dritten Hinterhof in Charlottenburg krepiere. Dies mir nicht. Die Halbglatze da watschelt neben seiner Frau wie ein verlorener Badewannenerpel, giftgrüne Samtjacke, wie kann man nur, die Currywurst hängt ihm noch an der Lippe. Oder der da, der Möchte-gern-Zorro, schon sechzig, schwarzes Toupet, eingezogener Bauch und ein Thaimädchen hängt ihm am Arm, Saftsack!
Endlich der Bus. Ein freier Platz hinten, neben einem Schüler in Zelthose und Dröhnmusik aus dem Kopfhörer. Widerwillig macht er ihr etwas Platz.
„Unk, unk unk vor Zeiten war ich jung, hätt’ ich einen Mann genommen, wär ich nicht in den Teich gekommen."
Der Schüler starrt sie entsetzt an. Hat sie laut gesungen? Sie weiß es nicht. Blick auf die Uhr. Kein Grund zur Panik. Noch nicht.
Lena kramt ihren Taschenspiegel hervor. Blasses Gesicht, große dunkelblaue Augen, wie der Planet Erde, hat Thorsten, einmal gesagt.
Sie schaut den Schüler an, stolzer Großstadtblick.
Nein, ich bin nicht Lola und ich renne auch nicht. Ich bin Lena Zarowski, im gebärfreudigen Alter. Eigentlich blond, aber heute feuerrothaarig. Mein Freund will ein Kind von mir. Und vielleicht will ich es auch. Heute Morgen, stell’ dir vor, holte er mich um sechs in der Bar ab: „Komm, ich bring dich nach Hause, kannst noch ein paar Stunden schlafen."
Sie setzte sich hinter ihn aufs Motorrad und weinte ihm in die Lederjacke. Das ist zehn Stunden her, da war die Luft anders und anständige Menschen waren noch in ihren Betten. Die Bäckereien waren geöffnet. Aber, das spürte sie, einer dieser Tage hatte begonnen, an dem sich von einer Minute zur anderen alles ändern konnte.
Zu Hause angekommen, hob Thorsten sie vom Motorrad. Er trug sie, wie immer, wenn sie vor Müdigkeit nicht mehr stehen konnte. Durch den ersten Hinterhof, durch den zweiten und dann drei Stockwerke hinauf, bis er schnaufend vor ihrer gemeinsamen Wohnungstür mit den aufgeklebten Plastikrosen stand.
Lena schaut hinaus, die Sonne geht über dem S-Bahnhof Wittenbergplatz unter, ein Feuerball, nach einem letzten Tag im Herbst.
Ob die Felljacke gut kommt? Wie würde Franka Potente in dieser Situation dreinschauen? Wie muss ich den Produzenten begrüßen? Hände schütteln, ja oder nein?
Wie der Kerl da vorne über seinem Steuer hängt, eine der üblichen Kröten sicher.
Die Blicke des Busfahrers taxieren sie kurz im Rückspiegel. Lena sagt ihre Rolle noch einmal in Gedanken auf. Die Straße nass, die Stadt im schweren Rot